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Tau des Erinnerns

20.07.2019

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Durch Fäulnisprozesse am Grund wimmelt es rings von Schwebstoffen, die das reine Element trüben; das Licht dringt nicht durch. Du mußt lange warten, bis sich die kleinen Teilchen allmählich setzen und das Wasser transparent wird.

Die Schwebstoffe sind auch das Gerede, die allzu vielen Worte, die trügerischen Bilder; du mußt also warten, bis sie sich setzen und Stille einkehrt und Klarheit.

Stille und Klarheit – die Transparenz der Seele.

Der Vogelflügel ist ein sprechendes Symbol der Luft; und der Flügel der menschlichen Seele, die Sprache?

Im Händedruck fühlen wir uns selbst am anderen; die Ansprache und der Anspruch unseres Gegenübers setzen uns nicht nur in den grammatischen Akkusativ.

Im einen alles; im Wort die Sprache, in der Hand die menschliche Welt (Freundschaft und Feindschaft, Bildung und Zerstörung).

Jedes Ding zeigt sich uns, wie es ist; hält es ein Geheimnis hinter dem Rücken, gehen wir um es herum.

Wer solipsistisch meint, daß nur er etwas empfinde und wahrnehme, kann nichts meinen, das heißt seinen Worten eine Bedeutung zumessen; denn etwas zu meinen, was kein anderer (aber auch er selbst nicht) verstehen kann, heißt gar nichts meinen.

Erst kam Spinoza, dann Goethe, schließlich Nietzsche; und heute wimmelt es in den Hirnen von Hinz und Kunz mehr als je von pseudoreligiösen Idealen und den Gespenstern einer höheren Gesinnung, heißen sie nun Gerechtigkeit, Gleichheit oder Diversität, und die Hohepriester, die auf ihrem Altar das sacrificium intellectus darbringen, nennen sich ungeniert Philosophen.

Wenn man ihre Ideale mit aristophanischem Spott übergießt oder mit melancholischer Galle verätzt, wird man wie weiland Spinoza als Verächter der Moral und Feind des Menschengeschlechts verketzert und von den Wächtern des Staates und der öffentlichen Meinung aus der Gemeinde der Rechtgläubigen ausgestoßen.

Mitten im Blitzkrieg aller lebendigen Mächte faseln sie von ihrem Friedensreich und verleugnen die Weisheit des Heraklit; enterbte Söhne des Chaos und häßliche Töchter der Gaia predigen Gleichheit und verkennen das sardonische Lächeln Fortunas, die ihre Gaben, Schönheit, Anmut, Edelsinn, Größe und Klugheit, blindlings verstreut.

Schlafende Rose, die über der dunklen Tiefe des Wassers hingleitend sanften Welkens Düfte träumt.

Gott, Götzen, Ideale – das Echo der gequälten Leidenschaft an der Gefängnismauer der vom Schicksal Eingekerkerten.

Der Charme des Paradoxen: über den Höcker der eigenen Defekte spucken.

Die bedeutsamsten Unterschiede zwischen Menschen liegen in der Richtung, der Gestalt und dem Maß ihrer natürlichen Leidenschaften.

Die von ihren unglücklichen Leidenschaften Heimgesuchten vergiften das Leben.

Die Schriftgelehrten, die mit ehernem Finger lesen.

Graue Eminenzen, die des Lichtes farbenfrohen Abglanz feiern.

Enterbte, die singend und Fahnen schwingend in den Abgrund stolpern.

Der Gott des Schachers und Eigennutzes, der sie dorthin führen soll, was sie das gelobte Land nennen.

Verzerrte Mienen, verdrehte Augen, blutig gebissene Lippen künden dir von ihrem Paradies.

Was sie Gemeinwohl nennen, ist die Entschädigung, die sie für ihr verpfuschtes Leben einfordern.

Wimmelnde Parasiten des Eros.

Künstler, Rentner des Daseins, die ihre Zeit damit vertändeln, grelle Allegorien des Schreckens um die Mumie ihres Geistes zu wickeln.

Komödien des Eros, Masken der Lust.

Die Austreibung der Gebärmutter aus dem Leib der Frau als Gipfel der Zivilisation.

Der Phallus schwadroniert, der Uterus schweigt.

Das Wesen der Frau zeigt sich im Schimmer ihrer Blicke und im Schleier ihrer Tränen.

Jene, die sich auf ihren Instinkt und die Orakel ihres Körpers verlassen; jene, die ihnen mißtrauen und sich wankend und schwankend durchs Leben schleppen. – Zu den ersten gehören mehr Frauen als zu den zweiten.

Portentum sive natura.

Sagen wir mit Spinoza deus sive natura und entkleiden den deus seiner Divinität, bleibt ein Ungeheuer, in dessen Rachen wir leben – bevor wir von ihm verschluckt werden.

Lesen, was ein Skorpion in den Sand geschrieben hat.

Die Kinder hüpfen und springen ihren Bällen nach, wohin immer sie rollen; die Greise schlürfen und krallen sich an ihre Rollatoren, als wüßten diese die Richtung.

Der Dichter, der seine unbefleckte Empfängnis im wirbelnden Staub der Sommernacht findet, während der allergische Bürger das Fenster schließt.

Langer Reihen der gelassenen, genauen, feinfühligen Beobachtung bedarf es nach Goethe, bis irgendwann dem empfängnisbereiten Geist das Aperçu über ihren inneren Zusammenhang einleuchtet.

Von Weltliteratur salbadernde, weltoffene Intellektuelle, Silberfische im Spülbecken einer schäbigen Provinzkneipe.

Veilchen, die Pan mit seinem Huf zertritt; Tau, der sich mit den bitteren Tränen des Eros mischt.

Die das Vaterland veruntreuen, schänden auch die Muttersprache.

Alles offenbart sich am Menschen in der Art und Weise, wie er Abschied nimmt.

Der Blinde kann im Säuseln des Winds, im Vogelruf, im Donner und im Plätschern des Wassers den Sinn des Lebens und der Welt symbolisch erfahren.

Die geläufigen Begriffe, die Definitionen erfüllen, sind kahle Äste; die Begegnungen und Erfahrungen, die UNS erfüllen, sind Blätter und Früchte.

Wenn durch die Wolken der Dämmerung ein spätestes Purpurlicht sickert und wir liegen fast schlafend auf dem Moos des alten Walds und gewahren rings das Wehen der Farne und das fast schmerzliche Glimmen des Taus auf den Lippen des Ginsters – so zweifeln wir nicht, daß auch die Farne unserer Seele wehen, daß unsere Wimpern schwer sind vom Tau des Erinnerns.

 

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