Symmetrien und Spiegelungen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Symmetrien, Muster, Rhythmen und analoge Ordnungen gehören zur Originalausstattung der Lebewesen, ihres Aufbaus und ihrer Ausdrucksformen – von der periodischen Ordnung der chemischen Elemente und der geometrischen Schlaufe der Desoxyribonukleinsäure, der Paarigkeit der Gehirnhälften und zentraler Sinnes- und Leibesorgane über die labilen Gleichgewichtssysteme sozialer Ordnungen bis zu den phonologischen, morphologischen und grammatischen Strukturen der menschlichen Sprachen, seien es die natürlichen oder die künstlichen Sprachen wie die mathematischen, logischen oder musikalischen Notationen.
Zwei parallele Pfosten oder Säulen rahmen Tür und Tor, bilden Fenster, tragen Sturz und Architrav, werden gerahmt und unterstrichen von Schwelle, Aufgang und Treppe; dies sind die symmetrischen Urelemente der Architektur, wie wir sie von den Tempeln der Griechen und Römer bis zu den Domen des Abendlandes und den gläsernen Palästen des globalen Kapitals finden.
Die rhythmische Reihung mit ihren mannigfachen Variationen wie ersichtlich an den antiken Säulenordnungen oder romanischen und gotischen Bauwerken gehorcht demselben Strukturprinzip wie die Reihung distinkter Phoneme in sprachlichen Sinneinheiten wie dem Vers. Sie leisten, was jene im Raum synchron darstellen, durch lautliche Spiegelungen wie Echo und Resonanz, Reim und Refrain diachron im zeitlichen Ablauf des Liedes oder lyrischen Gesangs.
Die Erkenntnis, daß ein Begriff oder Zeichen etwas sagt, indem er ausschließt, was er nicht sagt, wobei das Nichtgesagte gleichsam seinen Schatten, sein mehr oder weniger verzerrtes Echo, sein gleichsinniges oder umgekehrtes Spiegelbild ins Virtuelle projiziert – dies pythagoreisch-platonische Erbe scheint sich geläutert und abgeklärt am reinsten in der semiotischen Lehre von der dyadischen Struktur der Zeichen kundzutun.
Weil wir über paarig angeordnete und synchron arbeitende Hörorgane verfügen, können wir den Klang nicht nur stereophon verorten, sondern Klangereignisse auch in ihrem zeitlichen Verlauf wahrnehmen; unsere Art des symmetrisch geordneten Hörens vermittelt uns einen vorbegrifflichen Sinn der Zeit.
Variierte Wiederholung beruht auf der symmetrischen, wie immer gebrochenen Organisation von materiellen raumzeitlichen Elementen wie Farbflächen, Lauten und Tönen, die uns die begriffliche Eigenart des Ornaments, der Dichtung, der Kunst und der Musik erschließt.
Der Mythos hebt das Grauenhafte, Ungeheure oder Barbarische durch Singularitäten hervor wie das EINE mittige Auge des Kyklopen.
Andererseits verwendet der Mythos eine unbestimmt-mächtige VIELHEIT als Zeichen, um das Außerordentliche, Erhabene und Übernatürliche auszudrücken; so saugen die Zwillinge Romulus und Remus, die Gründer Roms, an den vielen Zitzen der Wölfin (statt an der entsprechenden Zweiheit der Brüste ihrer Mutter), so blickt der immer wachsame urtümliche Riese Argos aus vielen Augen am ganzen Leib, von denen jeweils nur zwei schlafen, und der Schrecken der Medusa blickt nicht nur aus ihren beiden Augen, sondern auch aus der Vielzahl der Schlangen, in die ihre Haare verwandelt wurden.
Der Mythos zeigt die Bedeutung des Erzählten in der Struktur der Erzählung; dazu gehören auch die mehr oder weniger versteckten, mehr oder weniger verzerrten Spiegelungen von Göttern und Menschen, Menschen und Heroen, Namen und Zahlen.
Mythische Spiegelungen: Ödipus setzt sich unwissend auf den Thron des Vaters, er ist verkrüppelt und hinkt; Hinken ist ein Zeichen der Erdverfallenheit: Nachdem er die Wahrheit über seine Herkunft und Schuld gesehen hat, blendet er sich; der Seher Teresias, der die Wahrheit kennt, ist blind.
Parallelismus oder die Paarigkeit von Versflügeln ist eine Keimform der lyrischen Dichtung – von der Poesie der Hebräer über die altgriechische Dichtung, vom Volkslied bis zu Goethe, Trakl und Huchel.
Wir können nur Ja sagen, wenn wir Nein sagen können.
Wenn wir nur Ja sagen könnten, verlöre unsere Zustimmung ihre performative Kraft.
Wir können jemandem nur vertrauen, wenn wir ihm das Vertrauen entziehen oder ihm mißtrauen könnten. – Sonst wäre Vertrauen nur eine Camouflage für Hörigkeit.
Mit EINEM Flügel kann man nicht fliegen.
Die Gestalt des Satzes ist kein Bild der Tatsache, sondern der Bedeutung.
Wir ersehen aus dem Satz: „Peter ist Helgas Mann und Karls Vater“ den Satz: „Helga ist Peters Frau und Karls Mutter.“
Die Bedeutung der Ausdrücke „Mann“ und „Vater“ sind hier spiegelsymmetrisch zur Bedeutung der Ausdrücke „Frau“ und „Mutter“.
Die Relativität der Begriffe, von Sinn und Gegensinn, ist eine Form begrifflicher Symmetrie.
Wo Macht ist, da ist Ohnmacht; wo Ohnmacht ist, gedeiht das Ressentiment oder der Wunsch nach der Umkehrung der Werte. – Aber die Umkehrung der Werte ist kein „Fortschritt“, sondern eine Verlagerung und Verschiebung, eine Versetzung der Vorzeichen, zumeist in verminderter Tonart: So wird aus dem höfischen Zeremoniell das höfliche Hutziehen des Bürgers.
Wir ersehen den Sinn des Gesagten im Spiegel seines Laut- oder Schriftbilds, seiner phonologischen und syntaktischen Zeichensetzung: „Veni, vidi, vici“ – „Ich kam, sah und siegte“ – Das Lateinische spiegelt in der vollkommenen Ordnung der Alliteration und Assonanz die siegreiche Höhe des Anspruchs und in der Reihung der analogen Verbformen die konsequente und selbstherrliche Durchsetzung des Willens in der Zeitenfolge.
Freilich kann das Spiegelbild auch verzerrt sein.
Die Notenschrift ist ein Bild der Melodie, die Melodie eine korrekte oder inkorrekte Interpretation der Notenschrift. Die musikalische Notation bleibt dem ikonischen Wert der Schrift verhaftet, aber wie Roman Jacobson gegen die These Ferdinand Saussures von der bloßen Arbitrarität der sprachlichen Zeichen gezeigt hat, wird auch das reine Symbol seinen symmetrischen Widerhall in den ikonischen und indexikalischen Ausdrucksformen niemals gänzlich los.
Die logische Notation ist ein Bild der logischen Bedeutung; der Satz „Peter ist mit Karl befreundet“ ist eine korrekte Interpretation der logischen Notation „Es gibt mindestens eine Paarmenge (a, b), für die gilt: a R b“, denn er impliziert, daß Karl mit Peter befreudnet ist. Dagegen ist der Satz „Peter sieht Karl“ keine korrekte Interpretation der symmetrischen Relation, denn er impliziert nicht, daß Karl Peter sieht.
Das feine Gehör des Dichters Stéphane Mallarmé ließ ihn bedauern, daß sich die Bedeutung des Wortes „jour“ („Tag“) wegen seines dunklen Vokals und die Bedeutung des Wortes „nuit“ („Nacht“) wegen seines hellen Vokals nicht jeweils auf der lautlichen Ebene sinnenfällig widerspiegeln.
Die physiognomische Schrift des leiblichen Ausdrucks ist ein Bild dessen, was wir Seele nennen. Wir können sie mehr oder weniger korrekt interpretieren; doch wenn sie ausradieren, vernichten wir auch die Basis, auf der unser Sprechvermögen beruht.
Wir lernen die Bedeutung der Begriffe für seelische Befindlichkeiten und Affekte wie Freude, Angst, Haß, Wut, Ekel und Ekstase anhand der Interpretation leiblicher Gesten sowie des Mienenspiels.
Wir sehen die Macht im Bild des thronenden Herrschers und die Ohnmacht im Bild des vor ihm hingestreckten Körpers des Besiegten, die Erhabenheit im Bild des Gottes und die Ehrfurcht im Bild des in der Proskynese vor ihm liegenden Beters.
Blütenstände, Blattformen, farbiges Gefieder, Muscheln, Quallen, Seelilien, Korallen zeigen komplexe Symmetrien und gewunden-verschlungene Gestalten, die wir bisweilen in ebenso komplexe Formeln wie den Goldenen Schnitt oder die Fibonacci-Zahlenfolge auflösen können.
Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer haben die Symmetrien des menschlichen Körpers zwecks künstlerischer Interpretation in diagrammatischen Maßwerke aufgelöst.
Die Formen und Anwendungsregeln der Personalpronomen zeigen eine komplexe grammatische Symmetrie: Das Pronomen „ich“ bildet den Nullpunkt eines Koordinatensystems, auf dessen Achsen sich die anderen Personalpronomen und ihre zugehörigen Indikatoren wir „dieser“ und „jener“, „hier“, „da“ und „dort“, „jetzt“, „zuvor“ und „hernach“ in wachsenden Abständen auftragen lassen. Wenn wir, wie im Gesprächsverlauf üblich, die Pronomen „ich“ und „du“ wechselseitig in den semantisch-grammatischen Nullpunkt einsetzen, müssen wir jeweils die zugehörigen Kehrwerte auf den Koordinaten bilden.
Wir können den semantischen Nullpunkt als Kreuzungspunkt der semantischen Achsen definieren; dadurch zeigt sich sowohl seine Universalität, denn er hat keinen vorgegebenen apriorischen Ort, sondern ist gleichsam „überall“, als auch seine Singularität, denn er ist das Maß aller anderen Achsenmarkierungen.
Erwartungen sind wesentliche Formen sozialer Symmetrie gemäß der Äquivalenzformel „do ut des“. Sie gliedern die Dauer der sozialen Ordnung nach den Rhythmen gegenseitiger Beobachtung und Verpflichtung, ihrer Einlösung oder Enttäuschung.
In der Bilanz der Geldgeschäfte und der Kommunikationen muß die Haben-Kolumne der Soll-Kolumne genau entsprechen, andernfalls entstehen finanzielle Risiken oder Katastrophen und soziale Konflikte.
Augenscheinlich werden Asymmetrien, holprige Rhythmen, durchlöcherte Muster und nicht gehaltene Versprechen nur im Lichte ihrer positiven oder erfüllten Grundformen verständlich.
Wir können die soziale Bilanz auch als Kapitalisierung und Verzinsung des Wertes „Aufmerksamkeit“ aufführen; hier sind steigende und sinkende Zinsen sowie Inflation und Deflation des „Geldwerts“ Indikatoren sozialer Verschiebungen und Verwerfungen.
Sensorik und Motorik, Flügel und Luft, Flosse und Wasser, Huf und Erde, Auge und Hand, Mund und After – Symmetrien und Polaritäten des tierischen Lebens.
An der Form des Munds und der Struktur der Mundwerkzeuge haben wir ein Bild des tierischen Daseins, das nur aufnimmt, was es sich assimilieren und verdauen kann.
Freilich, WIR schlingen ständig auch Bilder und Zeichen in uns, die wir im Glücksfalle unverdaut wieder ausscheiden oder vergessen.
Seelische Krankheit und soziale Devianz können wir bisweilen als Zerbrechen der sozialen Symmetrien und kommunikativen Muster ansehen: Der Befragte bleibt stumm, der Beschenkte verweigert den Dank, der Bedrohte lächelt, der Beachtete hält sich für verfolgt.
Das Versagen der sprachlichen Funktionen in der Psychose können wir auch als Auflösung ihrer hierarchisch ineinander geschachtelten Hierarchien verstehen: Dies Stammeln ist ein Residuum des komplexen semantischen Aufbaus, der uns in wohlgeformten Sätzen als Spiegelung der Bedeutung in der Ebene der distinkten Artikulation der Phoneme und ihrer grammatisch sinnfälligen Verkettung entgegentritt.
Es ist merkwürdig zu sehen, daß Pflanzen, Bäume, Blüten, Blätter, die Formen urtümlichen Lebens – also Organismen ohne zentrales Nervensystem – zumeist kreis-, kugel- oder büschelförmig ausgebildete Symmetrien aufweisen, während wir nun einmal links und rechts, oben und unten, vorn und hinten unterscheiden müssen.
Daß wir achsensymmetrisch nach vorn ausgerichtet sind, man möchte sagen in Richtung des Gegenübers, des Werkgegenstands und der kommenden Ereignisse, müssen wir mit dem Nachteil erkaufen, hinten keine Augen zu haben, zu erhöhter Wachsamkeit und Wendigkeit zwar aufgerufen, dennoch den Schatten der Bedrohung und die Gespenster der Vergangenheit nicht loszuwerden.
Der Ursprung und bleibende Sinn der Dichtung ist das freie Spiel lautlicher Wiederholungen und ihrer variierenden metonymischen und metaphorischen Abschattungen und Spiegelungen: „Ringel, Ringel, Reihen“ – „Backe, backe, Kuchen“ – „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn/Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn.“
Vielleicht ist dies der Sinn der alten Tragödie: Dionysos zerbricht die Symmetrien des sozialen Daseins und die Strukturen der Sprache, zerschlägt den Spiegel des Bewußtseins.
Man könnte sagen, Dionysos oder der Tod lösen die Symmetrien und Schleifen von Sprache und Bewußtsein auf, der Leib zerfällt, doch der Erde anheimgegeben, dem Feuer und der Luft, wird er vom Element absorbiert und kehrt geläutert in die stumme Qual und den Triumphgesang des Lebens und seiner Myriaden Spiegelungen zurück. Seine Zunge verfault, doch tausend Zungen nähren ihr Flüstern und Schreien, ihr Küssen und Fluchen an seinem Tod, und eine neue Klangfarbe mischt sich unversehens in alte Melodien.
Ähnlich der Krieg, der all die säuberlich gepflegten Reihen der Beete und Gärten, die Zeilen der Häuser und Bücher mit schartigem Karst verwischt und apokalyptischem Pflug zerwühlt, mit Kohle aus dem Feuer der Vernichtung verpicht und unentzifferbar macht; die zerstreute Asche der Blumen und Toten wird Dung auf dem schrecklichen, doch fruchtbringenden Acker der Zukunft. Ein unbekanntes, zähes Kraut kriecht aus dem Morast und treibt kleine blaue Blüten aus, die aus der Fäulnis genährt den Schatten der Herkunft überstrahlen.
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