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Struktur und Mannigfaltigkeit

31.08.2021

Sätze über die grammatische und logische Mannigfaltigkeit von Sätzen
Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wenn wir den Sachverhalt, daß Karl der Vater von Martha und Peter ist, grafisch oder phonetisch darstellen wollen, benötigen wir mindestens vier Zeichen: drei für die Namen der genannten Personen und eines für ihr Verwandtschaftsverhältnis: (k) V (m, p) – wobei V für das Vatersein und die Einzelbuchstaben als Kürzel für die Eigennamen stehen.

Der Satz „Karl ist der Vater von Martha und Peter“ bildet eine phonetisch-grafische Struktur von einer spezifischen grammatisch-logischen Mannigfaltigkeit seiner Elemente.

Die grammatische Mannigfaltigkeit besteht aus vier Elementen: den drei Eigennamen „Vater“, „Martha“ und „Peter“ und dem Verwandtschaftsbegriff „Vater“, die logische Mannigfaltigkeit besteht aus zwei Elementen, die jeweils unterschiedliche logische Kategorien verkörpern: den drei Eigennamen und dem Relationsbegriff „ist Vater von“.

Bei der grammatischen Struktur des deutschen Satzes ist die Reihenfolge der in Relation gesetzten Eigennamen sinnentscheidend. Eine Vertauschung in der Folge der Satzglieder ergäbe entweder einen anderen Sinn („Peter ist der Vater von Martha und Karl“) oder machte den Satz sinnlos („Martha ist der Vater von Karl und Peter“).

Lateinisch lautet der Satz: „Carolus pater Marthae Petrique.“ Hier wird das relative Verhältnis der Eigennamen mittels der Flexionsbildung und der Kausendungen angezeigt; eine Umstellung würde den Satzsinn nicht modifizieren: „Marthae Petrique Carolus pater“ oder auch „Marthae Carolus pater atque Petri.“

Der Satz „Karl ist der Vater von Martha und Peter“ bedeutet einen möglichen Sachverhalt in einer Welt, in der wir den Eigennamen „Karl“, „Martha“ und „Peter“ die Personen Karl, Martha und Peter eindeutig zuordnen und der Person Karl die Eigenschaft zusprechen können, die Kinder Martha und Peter gezeugt haben zu können.

Der Satz stellt das Modell eines möglichen Sachverhaltes dar, den wir mittels Projektion seiner grammatischen und logischen Elemente auf Elemente und Attribute einer möglichen Welt abbilden.

Der Satz stellt einen wirklichen Sachverhalt oder die Tatsache dar, daß Karl der Vater von Martha und Peter ist, wenn seine Wahrheit oder die Vaterschaft von Karl mittels Analyse der DNA der genannten Personen nachgewiesen werden kann. Ist ein solcher Nachweis der Vaterschaft erbracht, können wir behaupten zu wissen, daß Karl der Vater von Martha und Peter ist.

Dagegen ist das Modell eines möglichen Sachverhalts keine Form des Wissens, sondern bestenfalls die Form einer mehr oder weniger gut begründeten Vermutung, einer mehr oder weniger wahrscheinlichen Hypothese – wie die Projektion der aktuellen Wetterlage mittels eines meteorologischen Modells auf die Wetterlage der kommenden Tage.

Die Tatsache, daß Karl der Vater von Martha und Peter ist, schließt nicht aus, daß sie Kinder zweier Mütter sind.

Dagegen folgt aus der Tatsache, daß Martha und Peter die Kinder von Karl sind, die Tatsache, daß sie Geschwister oder Halbgeschwister sind.

Der Satz, daß Karl der Vater von Martha und Peter ist, impliziert eine natürliche Ordnung der Dinge, in der ein Vater nicht der Vater seiner selbst und kein zugehöriges natürliches Mitglied selbstkonstitutiv sein kann; er impliziert indessen keine kulturelle Ordnung der Dinge, in der dem Vater eine bestimmte soziale Position zugeschrieben wird.

Doch wenn es wahrscheinlicher ist, daß Karls Frau Anna sowohl die Mutter von Martha als auch von Peter ist, als daß Karl Martha mit Anna, Peter aber mit Helga gezeugt hat, und wenn es wahrscheinlicher ist, daß Anna beide Kinder von Karl, als daß sie Martha von Karl, Peter aber von Hans empfangen hat, befinden wir uns in einer kulturellen Welt, die wir als patriarchalisch oder vaterrechtlich kennzeichnen können.

Die vaterrechtlich organisierte kulturelle Ordnung ist eine durch Gesetze oder Gepflogenheiten oder beides überformte natürliche Ordnung der Geschlechter, mit dem Zweck und Ziel, das materielle und kulturelle Erbe des Vaters in der Generationenfolge zu sichern. Das Erbe besteht aus dem materiellen Eigentum der Familie, aber auch aus dem kulturellen Eigentum, den Sitten, Bräuchen und Riten, den Erzählungen und Erinnerungen, kurz dem, was wir Traditionen oder Überlieferungen nennen.

Nur aufgrund und mittels der grammatischen und logischen Mannigfaltigkeit seines sprachlichen Ausdrucks können wir einem Satz Sinn und Bedeutung verleihen; nur aufgrund und mittels seiner sprachlich wohlgeformten Artikulation können wir einen bedeutungsvollen und sinnhaltigen Gedanken erfassen und in allgemein verständlichen Zeichen wiedergeben, einen Gedanken und Zeichenzusammenhang, der das Modell eines möglichen Sachverhaltes oder die Tatsache seines Bestehens (oder Nichtbestehens) darstellt.

Kein Satz und kein Gedanke kann ein solitäres oder Eremitendasein führen. Aus dem Satz, daß Karl der Vater von Martha und Peter ist, folgt der Satz, daß Martha und Peter Geschwister oder Halbgeschwister sind; aus dem Satz, daß Martha und Peter keine Geschwister sind, folgt der Satz, daß Karl nicht ihrer beider Vater ist.

Unsere Theorien fußen auf Sätzen, die Modelle möglicher Sachverhalte darstellen; sie bewähren sich, wenn zumindest einige dieser Modelle Maßstäbe liefern, an denen wir das Vorkommen solcher Sachverhalte ermessen können; so wie wir am Modell der Quecksilbersäule die tatsächliche Temperatur des Patienten messen. Wenn die Quecksilbersäule bei einem funktionierenden Thermometer über 38,2 Grad steigt, wissen wir, daß der Patient Fieber hat.

Es ist daher unsinnig anzunehmen, unsere Theorien und unser Wissen seien Elemente eines Diskurses, einer historischen Wissensformation oder vornehmer ausgedrückt einer Episteme, die von anonymen Mächten oder wie Foucault meinte von den dunklen Strahlungen und Suggestionen einer allumfassenden Macht determiniert und gesteuert wird; denn wenn dem so wäre oder sogar, wie Nietzsche meinte, die logische Mannigfaltigkeit unserer modellartigen Sätze eine verzerrende und illusionäre Widerspiegelung der kontingenten Strukturen unserer Grammatik darstellte, könnten wir überhaupt nichts wissen, im eigentlichen Sinne von „wissen“; aber dann könnten wir auch dies nicht wissen, im eigentlichen Sinne von „wissen“, nämlich, daß wir immerfort einer unentrinnbaren Selbsttäuschung zum Opfer fallen.

Die Sprachtheorie Nietzsches und die Diskurstheorie Foucaults laborieren mit Sätzen, deren Wahrheitsfähigkeit und deren Wissensanspruch sie in einem Atemzug geltend machen und bestreiten.

Ein Ton ist noch keine Musik; ein Strich noch keine Zeichnung; eine Silbe noch kein Gedicht. Erst die geordnete, in eine Struktur gebrachte Mannigfaltigkeit der Töne, Linien, Wörter gibt uns den Begriff von Musik, Kunst und Dichtung.

Allerdings sind die Augenblicke der Stille in einer Komposition, die leeren Stellen und weißen Flecken in einer Zeichnung, die unausgefüllten Räume zwischen den Wörtern und Zeilen eines Gedichts bedeutsame Momente ihrer Struktur.

Manchmal sagen wir weniger, als wir meinen.

Das vom Gesagten umgrenzte Nichtgesagte kann die eigentliche Mitteilung enthalten.

Wir können nur sagen, was die grammatische und logische Mannigfaltigkeit dem Satz an bedeutsamer Struktur mitteilt; aber wir können bisweilen wie in dichterischer Sprache auch fühlbar machen, was wir nicht sagen können, gleichsam die Grenze des Sagbaren, wie den Rand einer Insel im grenzenlosen Meer des Ungesagten.

In der ozeanischen Nacht des ungeheuren Schweigens vernehmen wir den monotonen Wellenschlag gegen den Uferrand.

Manchmal wollen wir ja mit dem Satz „Karl ist der Vater von Martha und Peter“ nicht die triviale Tatsache von Karls Vaterschaft benennen, sondern das, was wir mit dem geflügelten Wort meinen: „Die Früchte fallen nicht weit vom Stamm.“

 

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