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Verwünschte Gäste oder akustische Phantome

23.10.2015

Anmerkungen zum wahnhaften Stimmenhören

Gäste, die uneingeladen plötzlich da sind, die statt Speis und Trank deine Aufmerksamkeit und das Blut deiner Wachheit essen und trinken, und oft in mächtigen Bissen und Schlucken, Gäste, die anstatt dankbar zu sein für ihre Aufnahme, dich beschimpfen und verhöhnen oder dich mit falschen Schmeicheleien und trügerischem Gewisper und Gelispel bis zur Selbstaufgabe und Trägheit des Herzens einlullen, die sich durch keine Geste, keine Bitte, kein Flehen hinauskomplimentieren lassen, Gäste, die sich jungfräulich vermehren, die bald als Engel flüstern und raunen, bald als Dämonen höhnen und fluchen, Gäste, die deine Zunge bis zur Taubheit walken oder deine Erinnerungen wie knisternde Blätter zerrupfen, Gäste, die dir schamlos die Falten deines Herzens mit ihrem ätzenden Speichel besudeln oder die Fibern deiner Hoffnung mit monotonem Gereime verharzen, Gäste, die in fremden Zungen ratschen oder deine Muttersprache mit obszönen Flüchen schänden, Gäste, deren dumpfe Begierden in dem Maße sich blähen, wie du sie mit kleinen devoten Diensten zu erfüllen suchst, Gäste, die dir als Gastgeschenk die alte, verdellte Venylplatte mit den Totenliedern mitbringen, die sie immer gleich auflegen, wenn dein Herz ein wenig höher schlägt, und die als Abschiedsgeschenk nur dein Glück, deine Liebe, dein Leben anzunehmen gewillt sind.

Wir betrachten das psychotische Phänomen des Hörens von Stimmen nicht anwesender Personen unter philosophischer Hinsicht und berühren psychiatrische Aspekte am Rande.

Wer festzustellen glaubt, daß zehn Prozent der Bevölkerung einmal oder häufiger im Leben dem Phänomen akustischer Halluzination ausgesetzt sind, und daraus in der lauteren Absicht, das Phänomen menschenfreundlich zu normalisieren und zu entstigmatisieren, folgert, bei dieser statistischen Lage müsse man doch wohl von einer verbreiteten normalen menschlichen Eigenschaft und nicht von einer Krankheit sprechen, begeht einen ähnlich bizarren Fehlschluß, wie jemand, der aus der Tatsache, daß ein Drittel der Bevölkerung des mittelalterlichen Europas von der Pest heimgesucht worden ist, die Folgerung zieht, bei dieser statistischen Lage dürfe man nicht mehr von einer Krankheit, sondern müsse wohl von einer ziemlich verbreiteten Mode sprechen.

Wir sagen, daß jeder Sinneseindruck, über den wir eine Aussage mit Wahrheitswert formulieren, also der Eigenschaft, wahr oder falsch sein zu können, einen kausalen Stimulus außerhalb unseres phänomenalen Bewußtseins oder außerhalb unseres Körpers voraussetzt, der den Gegenstand der Aussage darstellt. So wird ein Mensch namens Manfred, der den Ruf „Hallo!“ aus dem Fenster eines Hauses als die Verlautbarung der Stimme seines Freundes Walter erkannt und als Aufforderung verstanden hat, zu verweilen und kurz mit ihm zu plaudern, die Aussage über seine akustische Wahrnehmung wie folgt formulieren können: „Ich höre, daß mir mein Freund Walter zuruft.“ Wobei er voraussetzt, daß die Ursache der an ihn ergehenden Verlautbarung ein kausaler Stimulus ist, der sich außerhalb seines Körpers befindet, nämlich der Mensch namens Walter.

Wir weisen darauf hin, daß die korrekte Formulierung einer wahrheitswertigen Aussage über unsere Sinneseindrücke und Wahrnehmungen die Form eines zusammengesetzten Satzes haben muß, und zwar zusammengesetzt aus einem Hauptsatz mit einem Verb, das die Art der sinnlichen Wahrnehmung und ihren intentionalen Charakter unmittelbar ausdrückt, wie sehen, hören oder fühlen, und einem mit der Konjunktion „daß“ eingeleiteten Nebensatz, in dem der Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung, das Gesehene, Gehörte oder Gefühlte, benannt wird. Mittels dieser grammatischen Form vermögen wir auszudrücken, daß es sich bei dem Vorgang der sinnlichen Wahrnehmung der Intention nach („Ich nehme wahr, daß …“) um eine Realitätswahrnehmung und nicht eine Sinnestäuschung oder eine Wahnvorstellung handelt. Natürlich können wir einer Sinnestäuschung oder einem Wahnanfall erliegen, aber dann behält die Aussage dieser Form dennoch ihren Geltungsanspruch, nur ist der mit ihr gemeinte Aussagesatz jetzt falsch. Denn der Satz: „Ich höre, daß mir mein Freund Walter zuruft“ ist in dem Falle, daß Walter sich außer Manfreds Hörweite befindet und auch keine technischen Aufzeichnungsgeräte zur Wiedergabe seiner Stimme benutzt werden, offensichtlich nicht wahr. Hält Manfred an der Aussage dennoch fest, können wir davon ausgehen, daß er einer Sinnestäuschung erlegen oder verrückt geworden ist.

Diese Eigentümlichkeit des zusammengesetzten Satzes, unsere Äußerungen über sinnliche Wahrnehmungen wahrheitsfähig zu machen, fehlt anderen Satzformen. Die nicht zusammengesetzte Satzform, bei der dem Verb, das die Art der sinnlichen Wahrnehmung und ihren intentionalen Charakter ausdrückt, unmittelbar das Satzobjekt folgt, welches das Gesehene, Gehörte oder Gefühlte benennt, kann zum Ausdruck aller Arten von Äußerungen dienen, ohne daß wir ihrer Form entnehmen können, ob sie tatsächlich den Anspruch erheben, wahr und nicht falsch, sinnvoll und nicht sinnlos zu sein. So verhält es sich mit der Aussage: „Ich höre die Stimme meines Freundes Walter“, die im Falle, daß Walter Manfred zugerufen hat, wahr, im Falle der Sinnestäuschung oder der Wahnvorstellung indes ebenfalls wahr zu sein scheint, was uns vermuten läßt, das hier etwas faul ist.

Und in der Tat, dieser Typus von Aussagen über Wahrnehmungserlebnisse erfüllt nicht das sprachlogische Sinnkriterium für behauptende Aussagen, wonach sie entweder wahr oder falsch sein müssen oder die Negation einer falschen Aussage eine wahre Aussage und vice versa sowie die Negation einer sinnvollen Aussage wieder eine sinnvolle Aussage ergeben muß. Wenn Manfred unter der Wahnvorstellung litte, die Stimme seines Freundes Walter zu hören, dann aber sagte: „Ich höre nicht die Stimme meines Freundes Walter“, wäre die Aussage scheinbar sowohl falsch, denn er hört ja die Stimme, als auch wahr, denn Walter ist außer Hörweite: Demnach ist die Aussage sinnlos.

Litte Manfred unter Gehörshalluzinationen und hörte von weitem Walters Stimme rufen „Hallo“, verstünde er sie im Regelfall nicht als Aufforderung, zu verweilen und mit ihm ein bißchen zu plaudern, sondern sagte sich vielleicht: „Schon wieder eine Stimme, nur sich nichts anmerken lassen und unauffällig weitergehen!“

Wir bemerken, daß der intentionale Charakter unserer Sprechakte, der sie der sprachlichen Verständigung allererst zueignet, im Grenzfall des psychotischen Stimmenhörens eingeschränkt oder aufgehoben ist. Der Grenzfall gibt uns daher eine Art Umgrenzung für den Normalfall, bei dem unsrer sprachliches Handeln intakt bleibt.

Auch wenn der Psychotiker um den Scheincharakter seiner akustischen Wahrnehmung wüßte, wiese er den kausalen Stimulus der von ihm vernommenen Stimme seines Freundes nicht den paranormal wirkenden Funktionen der Neuronen seines Hörzentrums zu, sondern glaubte nach wie vor, wirklich die Stimme dieses Menschen zu hören. Wenn ein Psychotiker die Stimme eines Menschen zu hören glaubt, der sich außer Hörweite aufhält oder schon gestorben ist, müssen wir davon ausgehen, daß seine Aussage: „Ich höre, daß mein Freund Walter mir zuruft“ falsch ist, während die Aussage: „Ich höre die Stimme meines Freundes Walter“ offenkundig wahr, dafür aber sinnlos ist.

Wir haben damit ein Kriterium der Wahrheitsfähigkeit von Aussagen gewonnen: Wahrheitsfähige Aussagen sind Behauptungen derart, daß der intensionale Gehalt der Aussage des Nebensatzes (intensional mit s, „daß …“) eine Funktion des intentionalen Hauptsatzes (intentional mit t, „Ich höre“) darstellt, wobei die Wahrheitsbedingung des ganzen Satzes („Ich höre, daß …“) so analysiert werden kann:

1. Ich höre (daß).
2. p oder nicht-p.

Wobei die Aussage wahr ist, wenn p wahr ist, und falsch ist, wenn p falsch ist.

Dagegen scheint die Aussage: „Ich höre die Stimme meines Freundes Walter“, auch wenn dieser sich außer Hörweite befindet und keine technischen Aufzeichnungsgeräte zur Anwendung kommen, immer wahr zu sein. Doch sollen wir scheinbar deskriptive Aussagen, die nicht falsch sein können, überhaupt der Klasse von Aussagen zuordnen, die wir dadurch auszeichnen, daß sie Wahrheitsbedingungen implizieren? Wie gesehen, müssen wir solche Aussagen, wenn ihr Stimulus nur intrakorporal auftritt, für sinnlos erachten. Aussagen der korrekten Form über sinnliche Wahrnehmungseindrücke dagegen sind, wie wir ebenfalls gesehen haben, genau dann falsch, wenn es sich um Sinnestäuschungen oder Wahnvorstellungen handelt.

Vielleicht glaubt Walter im Zuruf „Hallo!“ die Stimme seines Freundes Manfred wiederzuerkennen, aber er irrt sich, denn in Wahrheit galt der Ausruf gar nicht ihm und die Stimme des Rufers klingt nur so ähnlich wie die Stimme seines Freundes. Kann aber der Psychotiker, der glaubt, die Stimme seines Freundes vernommen zu haben, sich irren, weil in Wahrheit nicht die Stimme Walters, sondern die Stimme Heinrichs oder Peters ertönt ist? Das scheint ausgeschlossen, weil der Wahn subjektive Gewißheit impliziert.

Wir können noch weitergehen und gelangen zu dem verblüffenden und paradox anmutenden Schluß, daß echte Wahrnehmungserlebnisse wie das Hören der Stimme eines Anwesenden wesentlich verschieden sind von fiktiven Wahrnehmungserlebnissen wie dem psychotischen Hören der Stimme eines Abwesenden. Nur ein Hören, das die Möglichkeit der Sinnestäuschung einschließt, ist ein wirkliches Hören, während ein wahnhaftes Hören, das jeden Irrtum ausschließt, kein wirkliches Hören darzustellen scheint.

Wir können unser Ergebnis auch anders begründen: Aussagen, die akustische Halluzinationen zum Gegenstand haben, können keinem der unser kommunikatives Leben regelnden Sprechakttypen wie dem Behaupten, Fragen, Auffordern oder Versprechen zugeordnet werden und erfüllen damit nicht das von uns angegebene sprachlogische Sinnkriterium. Fragen, die man nicht beantworten, Aufforderungen, denen man durch angemessene Handlungen nicht nachkommen, oder Versprechen, die man nicht erfüllen kann, sind in Wahrheit keine Fragen, Aufforderungen und Versprechen. Solche Scheinaussagen entbehren der für sinnvolle Sprechakte notwendigen Erfüllungsbedingungen.

Greifen wir das wahnhafte Hören von Stimmen mit appellativem Charakter heraus, wie es sich häufig in psychiatrischen Fallberichten findet. Halluzinierte Stimmen scheinen von guten oder bösen Mächten herzurühren, wir finden Aufforderungen zur Hingabe und Harmonie mit der Umwelt und Natur, aber auch aggressive Aufforderungen, die durch Beschimpfungen und Beleidigungen den Patienten gleichsam in die Knie zwingen oder ihn zur schamgepeinigten Verbergung und Flucht nötigen, bis hin zu Befehlen, vermeintliche Feinde oder sich selbst zu töten.

Warum sollen wir diese wahnhaften Aufforderungen nicht gleichsam entstigmatisieren und normalisieren, indem wir sie als sinnvolle Beispiele des Sprechaktes der Aufforderung ansehen? Nun, wenn dich dein Arbeitgeber auffordert, heute Überstunden zu machen, kannst du darin einwilligen oder dich der Aufforderung entziehen, weil du glaubhaft angibst oder glaubhaft vorgibst, einen Arzttermin zu haben oder die Kinder hüten zu müssen. Der Patient dagegen ist den Aufforderungen und Befehlen seiner Stimmen meist ausgeliefert, sie lassen kaum mit sich reden oder hadern. Der Patient hört auch in dem hintersten Versteck, in das er sich verzweifelt zurückgezogen hat, das Schimpfen oder Höhnen seiner Stimmen, und der psychotische Paranoiker besiegelt sein Schicksal, wenn er den Tötungsbefehl, nur um Ruhe zu finden, ausführt.

Psychotiker, die scheinbar der Aufforderung vorgeblich gütiger oder engelreiner Stimmen nachkommen und ihren Eigensinn in der Verschmelzung mit der sogenannten kosmischen Harmonie, einer von satanischen Sekten zu Höchstpreisen verkauften Masche, aufgeben, leugnen mit der Wahrheit des allgemeinen Tötens, Siechens und Verendens auch die Wahrheit ihrer eigenen Verletzungen und ihrer daraus entspringenden Grausamkeit und Wut.

Wir sagen, der Mensch, der von Stimmen heimgesucht wird, handle großenteils unter Zwang, wenn er tut, was die Stimmen von ihm verlangen. Es ist aber dadurch die Voraussetzung des relativ freien Willens, die wir an das normale Funktionieren unseres kommunikativen Lebens mittels der Verständigung durch Sprache anlegen, außer Kraft gesetzt.

Hier sollten wir auf die plausible Hypothese über die Ursache der psychotischen Symptomatik des Stimmenhörens zurückgreifen: die Traumatisierung und ihre unglückliche oder kranhafte Form der Verarbeitung mittels der Psychose. Ähnlich wie im Traum erhalten jene Personen oder Personifikationen intimer Erlebniszonen eine Wahnstimme, die aus dem Umfeld des traumatischen Erlebnisses stammen.

Wenn die dämonische Hexe erscheint und nicht nachläßt, auf die Erfüllung eines Versprechens zu dringen, bei der sich die Kranke selbst schädigen oder verletzen muß, gehen wir nicht fehl zu vermuten, daß es sich um die Klangmaske der Mutter handelt, die das Kind wegen eines Verstoßes schwer gestraft oder mißhandelt hat. Wir sehen, daß im Wahnkontext Versprechen oder der Rekurs auf gegebene Versprechen nicht die Erfüllungsbedingungen aufweisen wie die echten Sprechakte: Der Psychotiker kann Versprechen weder geben noch einhalten, den Bruch eines Versprechens durch nahestehende Personen kann er nicht verwinden und bleibt auf seine Rache fixiert, der Bruch eines eigenen Versprechens scheint ihm unsühnbar und ihn zu höchsten Strafen zu verurteilen. Wenn eine Frau von den Stimmen als Auswurf, Unrat oder Nutte beschimpft, verhöhnt und beschämt wird, gehen wir nicht fehl zu vermuten, daß sie als Kind dem sexuellen Begehren eines männlichen Verwandten oder Bekannten in mehr oder weniger tätlichem Ausmaß ausgeliefert war.

Wir befürchten, die wahnhaften Stimmen zu normaliseren oder zu entstigmatisieren, bedeute am Ende dem Patienten in seiner Würde und seinem Recht auf Hilfe zu nahe zu treten. Die Hilfe beginnt oft mit der Demaskierung der akustischen Masken: So werden sie entdämonisiert und verlieren an Kraft. Aber nur, wenn der Therapeut sie zuvor in ihrer dämonischen und krankmachenden Macht anerkannt hat.

Interessant und bedeutsam ist die Tatsache, daß der Normale und der Kranke in der Fähigkeit der Identifikation oder Zuschreibung des Wahrgenommenen zu dem realen oder fiktiven kausalen Stimulus übereinstimmen. Wenn der Psychotiker eine Stimme hört, schreibt er sie einem fiktiven kausalen Stimulus zu: Er vermeint, die Stimme eines Freundes, seines verstorbenen Vaters, eines Engels oder Dämons zu hören. Diese erstaunliche Fähigkeit scheint auch in schweren Krankheitsverläufen nicht zu versiegen. Sie bezeugt die tiefe Verbundenheit mit dem gemeinschaftlichen Leben, die auch bei extremer Regression in die wahnhafte Innenwelt nicht gänzlich verlorenzugehen scheint. Im Übrigen birgt diese Gleichartigkeit im Ausdruck des seelischen Erlebens von Normalen und Kranken die Möglichkeit des Verstehens und aller therapeutischen Ansätze und Bemühungen. Die Gemeinschaft der Lebenden, nicht die Universalität der Vernunft, aus der der Wahn herausgefallen ist, stiftet das symbolische Band, an dem der Therapeut ansetzen kann. Er enthüllt nach und nach durch geduldige Deutung die Zuweisung der Stimmen an die das Leben des Patienten heimsuchenden Personen und Mächte.

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