Stachelbeeren
Sentenzen und Aphorismen zur Ästhetik lyrischer Dichtung
Um an die Süße zu gelangen, muß man manchmal ein paar Blutstropfen riskieren.
Die Dummen schwören auf die Macht des Intellekts.
Die Stumpfen schauen aus dem Tran nur auf bei grellen Klecksen und Knallbonbons.
Der Geschmacklose giert nach immer schärferen Gewürzen.
Dem durch expressionistischen Blitz und Donner Versehrten könnten Verse von Verlaine oder Rilke jene Erquickung bereiten, die in Beethovens Pastorale der letzte Satz mit der Bezeichnung „Hirtengesänge – frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm“ verspricht.
Wenn du die Fliegen auf dem Dung mit der Fliegenklatsche erlegen willst, spritzt dir der Kot ins Gesicht.
Die Häßlichen verachten das Schöne wie die Geistlosen die Liebe.
Zwei Quellen des Pathos: die trübe der Lüge und die klare der Verehrung.
Staatlich bezuschußte, kulturbetrieblich vorgeführte, mediale Kreide fressende Dichter.
Sie stammeln, um den vulgären Tropf zu beeindrucken, sie winden sich in Pappierschlangenrätseln und täuschen Atemlosigkeit vor. Denn schrieben sie, was sie denken, tanzten triviale Mäuse auf dem Tisch.
Der Dichter am Mikrophon oder in der Talkrunde, Pegasus im Zaumzeug.
Erschwitzte Gedanken, parfümierte Gefühle.
Einfaltspinsel schmieren Vielfalt.
Das entscheidende Oder: Ablehnung aus der Fülle des Selbstgefühls oder der Leere des Ressentiments.
Farbverbot oder Bleistiftpflicht, ein Remedium für Orgien-Maler.
Verbot von Beiwörtern oder das Trockenlegen des Rhythmus, eine Radikalkur für Dichter mit zuviel Wasser im Gemüt.
Hinter Scheuklappen predigen sie Weltoffenheit.
Dunkelmänner, die das Loblied der Aufklärung singen.
Eine trübe Funzel in der Hand leuchten die Aufgeklärten dem Zeitgeist heim.
Zwei Hürden, über die Dummheit gepaart mit frecher Arroganz stolpert: die korrekte und logisch stringente Verwendung der Negation und die Verwechslung von Factum und Dictum oder Tatsache und grammatischer Form.
„Niemand“, glauben sie, sei die Negation von „alle“, und vice versa, denn ohne Krethi und Plethi sind sie ein Niemand, fühlen sich nichtig und leer, und der Gedanke, einige oder gar nur einer sei aus der Masse auserlesen, ist ihnen ein moralisches Anathema und daher logisch unzugänglich.
Indes, der echte Dichter schielt nicht auf die große Menge, er vermag auszudrücken, was den Wenigen, Seltenen, Aparten und von geheimen, dem groben Kerl unverständlichen Qualen und Ekstasen Heimgesuchten im Sinn liegt, aber nicht auf den Lippen.
„Der Schüler“, meinen sie, müsse ein Bub sein, und „der Lehrer“ ein Kerl mit Bart. Doch, daß die grammatische Form „der Schüler“ und „der Lehrer“ keine biologische Tatsache abbildet, ist ihnen semantische Luft.
Daß „Lehrerin“ die weibliche Form für die männliche „der Lehrer“ sei, das glauben und predigen sie wie weiland Tetzel den Sündenablaß mittels Auflösung des Gewissens im Dunkel des Spendenkastens.
Sie meinen, wenn der Dichter von Blumen und Düften redet, seien dies nur Metaphern für derbere und gröbere Realitäten. Aber er meint den wirklichen Duft der Seele, den köstlichen der Liebe, den welken des Abschieds, meint die wahrhaft schwarze Rose der Nacht.
Kastraten im Chor des Dionysos.
Heute heißt der Kindergarten Kita. Das sagt alles über ein Volk, das mit seiner Kultur und Sprache über Kreuz liegt.
Wie traurig nüchtern, funktional, klinisch sauber und moralisch ausgewaschen klingt „Kindertagesstätte.“ Welches Versprechen roter Äpfel und schöner Reigen hallt noch im Wort „Kindergarten“ nach.
Als hätte man sich schadenfroh darüber hergemacht, den letzten poetischen Reiz der Kindheit auszutreten, den ärmlichsten Garten der Poesie zu asphaltieren oder in Wildwuchs veröden zu lassen.
Kindergarten, das riecht allerdings nach Hort und Hut, nach Hege und Pflege, am Ende wird dort Kindern wie Pflanzen der Wildwuchs beschnitten, sie werden horribile dictu gar umgetopft und mit kalten Güssen lebensertüchtigender Disziplinierungsmaßnahmen aufgeschreckt.
Kinderseelen sollen ihnen wie Unkraut wuchern, wie Nesseln und Disteln kitzeln und witzeln, nicht wie aufgerichtete und angefädelte Blumenstiele in die Sonne wachsen.
So auch die neue Poeterei. Das Gitter der Metren und Rhythmen, an dem sich die Verse ins Licht emporranken, ward abgerissen, und die Verse wuchern auf wüster, von den unerschöpflichen Krügen des Reims nicht länger getränkter Erde bizarr und ungestalt dem Dunkel zu.
Erziehung zur Mündigkeit ist ein Euphemismus für Verwahrlosung.
Nicht mündig werden sie an solchen Stätten, sondern vorlaut, nicht souverän, sondern herrschsüchtig. Krakeeler, die lernen auf Kosten anderer und vor allem alter, der Schonung bedürftiger und behinderter Menschen zu rasen und zu wildern.
Unmündige, vorlaute, herrschsüchtige Zeilen, die manchmal wie Peitschen über die Ränder schlagen, manchmal drüsenkrank glotzende Augen als apokalyptische Früchte an ihre kahlen Äste kleben.
Kunst ist Stil, Stil die filigrane Geste, die ins Unsagbare weist.
Aus dem Aufruhr oder Qualm unaufgeräumter Seelen, denen höchste Epitheta des Stils wie „heiter“ und „lichtvoll“ nach billigem Fusel schmecken und an Flutlicht erinnern, erwächst kein Stil, die Gesten, die sie dem Passanten vom Fenster zeigen, sind nackte, obszöne Finger.
Nichtskönner leben vom Bettel vager Versprechungen, es morgen oder morgen endlich fertig oder morgen besser zu machen, oder vermarkten ihr Unvermögen als disiecta mebra unter dem Leichentuch des Fragmentarischen.
Das Klassische veraltet nicht, das Modische ist heute modern, morgen vormodern, übermorgen vergessen.
Maische ohne Hefe, unvergorene Trauben, daher der fade Geschmack des Machwerks, wenn das Leben seine sublime Würze verwehrt.
Das klassische Kunstwerk, auch das heiterste, hat den Ernst, den der Schatten des Todes wirft.
Es birgt die Weisheit der Ergebung, die sich selbst nicht unwürdig wegwirft.
Das Machwerk glaubt sich frisch, kühn und unverwüstlich und hat doch bloß Sodawasser in ein aufdringlich glitzerndes Champagnerglas geschüttet.
Dezenz, Unaufdringlichkeit und indirekte, darum umso nachdrücklichere Wirkung sind Merkmale des künstlerisch Vollendeten.
Widerhall, der sich im Labyrinth der Seele verliert.
Kein Begriff, der sich zwischen Duft und Blüte drängte.
Bild, das wie die Wasserspiegelung zerrinnt, wenn man danach tastet.
Zwischen der Haut des Wassers und dem Spiegelbild des Schwans ist nicht ein Hauch.
Das Kind, das sich freut und jubelt, wenn ihm der Ballon aus der Hand gleitet und in das Blau des Himmels steigt.
Der sublime Genuß, die Freude, wenn in die Wolke des Gesagten unverhofft der Strahl eines unwirklichen Mondes bricht.
Freude, die weint, weil sie nicht ermißt, was sie aus dem Dunkel hob.
Was anderes als Dank, wenn unter dem weichen Fuß des Genius Wasser rinnt und die Blume das herabgesunkene Haupt erhebt.
Und Dank auch, wenn der Arbeiter im Weinberg die Trauben, die er unter praller Sonne pflückte, oder der sorgsame Gärtner die Stachelbeeren, die ihn ritzten, dem Gast auf den Tisch breitet.
Das große Gedicht hat tief geatmet und ist weit, es sammelt am Morgen den Tau, am Mittag die hohe Stille, abends Blumen vom dunkelnden Hügel, in der Nacht die Tränen der einsamen Liebe.
Zeiten des Jahres, Zeiten des Blühens und Dahinwelkens, Odem und Blatt, Schnee und Staub der Seele.
Das vollkommene Gedicht birgt in einer versteckten Falte seines Gewands Körner, die in das dunkle Herz eines fallen, der sich verdorrt, unnütz und verloren glaubt, und er weiß nicht von wannen, ein kleines grünes Blatt ist in später Zeit ihm aufgekeimt.
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