Skip to content

Sprachliche Darstellung

06.01.2021

Notizen zur Axiomatik der darstellenden Sprachfunktion

Die elementaren logischen Formen, die uns einfache Aussagen wie „Der Hund schläft“ oder „Peter und Hans sind Freunde“ liefern, sind die prädikatenlogischen F(a) und R(a, b).

Die Hoffnung (oder des frühen Wittgenstein Ambition), anhand dieser einfachen logischen Formen des Satzes eine vollständige Ontologie aufbauen zu können, erweist sich als Illusion, sobald wir auf Aussagen stoßen, deren Subjekte sich nicht als Namen für atomare oder elementare Bausteine der Welt wie Hunde oder Personen symbolisch darstellen und interpretieren lassen:

„Das Wasser des Rheins besteht aus H2O.“
„Der Winter ist eine Jahreszeit.“
„Der Erste Weltkrieg dauerte von 1914 bis 1918.“

Wir beziehen uns mit dem Ausdruck „das Wasser des Rheins“ nicht auf einen Tropfen, mit dem Ausdruck „Winter“ nicht auf einen Tag, an dem Schnee lag, mit dem Ausdruck „der Erste Weltkrieg“ nicht auf den 1. September 1914, an dem er ausbrach, sondern auf komplexe Entitäten, die wir mehr oder weniger beliebig nach frei gewählten Partitionen und Klassifikationen untergliedern können; letzte nicht analysierbare Einheiten müssen wir nicht supponieren.

Wenn das, worüber wir reden, Stoffe oder Ereignisse sind, können wir sie nicht mit Namen benennen, die sich auf einfache semantische Einheiten beziehen.

Würden wir dies versuchen, um den ontologischen Atomismus zu retten, gerieten wir in Fallstricke von Fragen wie: Zerlege ich, was ich mit „Wasser“ meine, in dasjenige, was ich mit dem Ausdruck „Wassermoleküle“ meine, und was ich mit dem Ausdruck „Erster Weltkrieg“ meine, in die Tage vom 1. September 1914 bis zum 11. November 1918? Aber warum nicht in Atome, warum nicht in Stunden?

Dennoch sind wir bei der veridischen sprachlichen Darstellung zuletzt immer auf Benennungen und Beschreibungen angewiesen, auch wenn wir Benennungen nicht bloß auf den Gebrauch von einfachen Namen für einfache Gegenstände einengen, auch wenn wir x-stellige Relationsausdrücke verwenden.

Die ontologisch elementare Form der Benennung lautet „dasjenige S, das“; in Kombination mit einem deskriptiven Ausdruck ergibt sich die erweiterte Form „dasjenige S, das F ist“. „Dasjenige Tier, was jetzt im Körbchen liegt“ benennt meinen Hund, der jetzt in seinem Körbchen liegt.

„Dasjenige Lebewesen, was ein Herz und Lungen hat, ist ein Tier.“ – Somit erhalten wir die aristotelische Gliederung von Indivual-, Art- und Allgemeinbegriffen: Hund, Tier, Lebewesen.

Wenn wir demselben Gegenstand in unserer veridischen Darstellung ein und dieselbe Eigenschaft P nicht gleichzeitig zusprechen und absprechen können, gilt, daß Existenz Inkonsistenz ausschließt.

Die aristotelische Ontologie erlaubt, anders als die des Wittgensteinschen Traktats, den Gebrauch von komplexen Namen für Substanzen; Begriffe können in unterschiedliche Unterbegriffe abgeteilt werden, denn Lebewesen können Tiere oder Pflanzen sein, Tiere Hunde oder Katzen; partikulare Begriffe dagegen sind Instanzen bestimmter Universalbegriffe, dieser Hund ist die Instantiierung des Gattungsbegriffes Hund, Hunde sind Tiere, und Tiere sind Lebewesen.

Eine um die Zeitdimension erweiterte nichtaristotelische Ontologie umfaßt nicht nur Namen für Gegenstände und Prädikate für Attribute, sondern auch Namen und Prädikate für Ereignisse.

Ereignisse sind Prozesse an und zwischen Gegenständen, sie können durch komplexe Begriffe benannt und durch einstellige und mehrstellige Prädikate beschrieben werden: Peter erwacht. Peter und Hans streiten sich. Peter erzählt Hans von Sylvia.

Die veridische sprachliche Darstellung bedarf einer logischen Mannigfaltigkeit und semantischen Mächtigkeit, die der Struktur des Dargestellten entspricht. Dies bleibt einer realistischen Ontologie von der Bildtheorie des Traktats.

Wir können eine vollständige Semantik der Aussage nicht auf einer rudimentären Semantik der Kundgabe begründen. Die Interjektion, der Vokativ, der Imperativ verbleiben unterhalb der Schwelle der Benennung und Beschreibung.

Die aufleuchtende rote Lampe signalisiert Gefahr, sagt aber nicht, um welche Gefahr es sich handelt. Der Pfeil auf der Wanderkarte zeigt uns die einzuschlagende Richtung, nicht aber, welche Aussicht in welche Landschaft sich am erreichten Ziel eröffnet. Der Zuruf und die Aufforderung des Freundes heißen mich, zu ihm zu kommen, nicht aber, aus welchem Grund und zu welchem Behufe.

Der Ausdruck der Kundgabe kann wie die Interjektion und der Hilferuf mehr oder weniger intensiv, echt und authentisch oder unecht und heuchlerisch sein (der Hilferuf des Schwindlers und Betrügers), doch allein die sprachliche Darstellung kann mehr oder weniger angemessen, richtig oder unrichtig, wahr oder falsch sein.

Nur die topographische Karte, die auf systematischen Verfahren der Projektion und isomorphen Abbildung aufgebaut ist, kann ein Bild der Landschaft wiedergeben und dem Zweck der Orientierung diesen.

Nur beim Vorliegen symmetrischer Relationen können wir die Relata in dem Ausdruck R(a, b) vertauschen (Peter und Hans unterhalten sich).

Im Verhältnis zu den Zellen und Molekülen, aus denen sein Organismus besteht, ist Peter der Name für eine komplexe Struktur; im Verhältnis zu den Situationen und sozialen Organisationen, in denen er sich aufhält, ist Peter der Name für ein einfaches Element.

Die logische Mannigfaltigkeit der Darstellung zeigt sich in der Gliederung und relationalen Aufteilung ihrer Elemente: Die Zellen und Moleküle sind Teile des Organismus namens Peter, die Person Peter ist Teil der Gesprächssituation, an der Hans und Sylvia teilnehmen, und er ist Mitglied eines Vereins.

Wir reden nicht von den Zellen seines Körpers oder den neuronalen Vorgängen in seinem Gehirn, wenn wir beschreiben, wie Peter sich mit Hans unterhält.

Die topographische Wanderkarte bedient sich abstrakter ikonischer Zeichen, die in der Legende erklärt werden, beispielsweise Zeichen für Nadel- oder Laubbäume, Flüsse, Seen oder kulturelle Monumente. Wir können den Zeichen für Laubbäume nicht entnehmen, ob es sich um Lärchen oder Buchen handelt.

Wenn wir von unserer Wanderung im Freundeskreis erzählen, bevorzugen wir die spezifische Benennung und sprechen anstatt vom Laubwald vom Buchenwald, anstatt vom kulturellen Monument vom Römerkastell.

Je spezifischer und nuancierter, charakteristischer und atmosphärischer die sprachliche Darstellung, umso mehr nähert sie sich der dichterischen Darstellung.

Die Wahrheit der Darstellung zeigt sich in ihrer Anwendbarkeit und Reproduzierbarkeit; ich erzähle, was ich von der Aussicht auf dem Berg aus gesehen habe, den Fluß im Tal, die Weinberge an seinen Ufern, den Winzerort mit seiner alten romanischen Kirche. Wenn einer der Zuhörer, von meiner malerischen Schilderung angeregt, mir auf meinen Wanderpfaden folgen möchte, kann er, was ich gesehen habe, ebenfalls sehen.

Auch wenn wir uns darin irren, eine romanische Kirche gesehen zu haben (weil es eine gotische war), haben wir uns nicht darin geirrt, eine Kirche gesehen zu haben. Der Fehler in der Spezifikation wird einigermaßen wettgemacht durch den Gebrauch von Allgemeinbegriffen.

Je subtiler und spezifischer, je dichter der Feingehalt und je minutiöser die Granularität einer sprachlichen Darstellung, umso höher die Wahrscheinlichkeit von Mißgriffen und Fehlangaben; je flacher und grobkörniger, je abstrakter und allgemeiner die Darstellung, umso geringer die Fehleranfälligkeit.

Je mehr wir unseren Bericht metrisieren und quantifizieren oder einer wissenschaftlichen Terminologie angleichen, umso näher kommt er einer wissenschaftlichen Darstellung; um dies zu leisten benutzen wir Meßgeräte wie Uhren, Thermometer und Navigationsgeräte; für einen geographisch fundierten Abriß unserer Wanderung greifen wir auch auf zoologische und botanische Bestimmungsbücher zurück und sprechen nicht mehr von einer Lärche, sondern von der Larix decidua, nicht mehr von einer Buche, sondern von der Fagus orientalis. Im Maße der Annäherung an die wissenschaftliche entfernen wir uns von der dichterischen Darstellung.

Eine sprachliche Darstellung, die beansprucht, das Universum oder alles zu umfassen, wie die Ontologie des Aristoteles, müßte sich selbst enthalten; das aber scheint uns an die Grenze des sprachlich Darstellbaren zu führen.

Wer sich im Spiegel betrachtet, sieht sich seitenverkehrt und kann sich nicht gleichzeitig frontal und im Profil sehen, geschweige denn von hinten.

Wir können unsere sprachlichen Darstellungen auf jeweils angemessene und relevante Kriterien der Korrektheit, Stimmigkeit, Vollständigkeit und Wahrheit überprüfen; doch ähnlich, wie wir nur jeweils bestimmte Sichtschneisen in der Landschaft erblicken und auffassen können, müssen wir uns bei unseren sprachlichen Darstellungen mit dem von der jeweils angewandten Projektionsmethode gelieferten Umriß begnügen; es sei denn, wir wenden ein anderes Verfahren an, statt Erzählung den wissenschaftlichen Bericht, doch dann erhalten wir eine andere Darstellung, für die andere Kriterien der Korrektheit, Stimmigkeit, Vollständigkeit und Wahrheit in Frage kommen.

Wir können unseren Bericht von der Wanderung in unsere Lebensgeschichte einordnen, unsere Lebensgeschichte in die Geschichte unserer Familie, die Genealogie unserer Familie wenn es hoch kommt bis zum Siebenjährigen Krieg zurückverfolgen; doch je mehr wir zurückgehen und in umso weitergreifende Horizonte wir unseren Bericht einordnen (und wir könnten es bis zum Urknall forttreiben), umso flüchtiger, ephemerer wird, was wir zu sagen haben.

Jede sprachliche Darstellung ist relativ zur logischen Mannigfaltigkeit und semantischen Mächtigkeit der in ihr verwendeten Begriffe. Darstellungen mit unterschiedlicher logischer Mannigfaltigkeit und semantischer Mächtigkeit lassen sich nicht ohne weiteres ineinander übersetzen. Die vollständig in wissenschaftlicher Beschreibung und Terminologie wiedergegebenen Wahrnehmungen und Beobachtungen während unserer Wanderung können wir nicht ohne weiteres in einen erzählenden Bericht übersetzen.

Die objektive sprachliche Darstellung tilgt die Ich-Perspektive; von meiner Erinnerung, wie ich mich während meiner Wanderung unter einer Lärche ausgeruht habe, verbleibt nur das Residuum der nüchternen botanischen Auskunft, daß an genau diesem topographisch identifizierbaren Ort eine Larix decidua steht.

Alle sprachlichen Darstellungen, die Anspruch auf Wahrheit erheben, eint die Tatsache ihres intentionalen Gehalts; doch die Art, wie sie ihn erfassen, ist eine Funktion ihrer jeweiligen logischen Mannigfaltigkeit und semantischen Mächtigkeit. Mit fein gewebtem Begriffsnetz fangen wir auch die kleineren Fische, die im grob gestrickten nicht hängen bleiben.

 

Comments are closed.

Top