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Sprache und Ontologie IV

26.12.2020

Sanktionsregime und soziale Ontologie

Angst vor Sanktionen aller Art ist der Kitt des Sozialen; ein Regime von Sanktionen (bzw. von Drohungen und Risiken) und ein System von präskriptiven Sätzen und Äußerungen bilden das Fundament der sozialen Ontologie. Keine Gemeinschaft oder Gesellschaft ohne Angst vor Strafe, mit der äußersten des Ausschlusses oder des Todes. Die Forderung von Utopisten und religiösen oder politischen Fanatikern, man sei moralisch verpflichtet, eine Gemeinschaft ohne Angst und eine Gesellschaft ohne Zwangs- und Strafregime zu entwickeln, ist nicht nur dumm, sondern gefährlich.

Wir unterscheiden zwei Formen des korrekten und also auch des inkorrekten Tuns: eine vorgeschriebene Handlung auszuführen oder zu unterlassen; und eine vorgeschriebene Handlung mehr oder weniger gut und also auch schlecht auszuführen.

Der Autofahrer soll vor dem Überholmanöver den Blinker setzen; unterläßt er es, handelt er verbotswidrig. – Der ansonsten für seine sprachliche Sorgfalt bekannte Autor verwechselt die Wendung „nichts weniger als“ mit einer doppelten Verneinung, also einer betonten Bejahung, obwohl sie eine verstärkte Verneinung meint. Er hat sich also schlecht, weil sprachlich nicht korrekt ausgedrückt.

Der Autofahrer setzt den Blinker aus verschiedenen Gründen: weil er es so in der Fahrschule gelernt hat, weil er umsichtig und darauf bedacht ist, sich selbst und andere nicht zu gefährden; aber auch und vielleicht primär aus dem Grund, weil er befürchten muß, bei Unterlassung der vorschriftsmäßigen Handlung ein Knöllchen zu kassieren.

Der Schriftsteller bemüht sich aus verschiedenen Gründen um eine sprachlich korrekte Diktion: weil er von den Eltern stets korrigiert wurde, wenn er sich als Kind grammatikalische Schnitzer und semantischen Unfug geleistet hat; weil er in der Schule und im Studium gelernt hat, möglichst fehlerfrei zu sprechen und zu schreiben; weil er höflich und darauf bedacht ist, dem Hörer und Leser das Verständnis durch fehlerhaften oder verquasten Ausdruck nicht unnötig zu erschweren; aber auch und vielleicht primär aus dem Grund, sich vor den Lesern und den gefürchteten oder bewunderten Kollegen nicht lächerlich zu machen, wenn er sie mit sprachlichem Pfusch oder stilistischer Schlamperei nichts weniger als ergötzt.

Alles, was wir (nicht nur im Rampenlicht der Öffentlichkeit) sagen und tun, steht mehr oder weniger im Brennpunkt der Aufmerksamkeit des anonymen Beobachters namens Gesellschaft, der sich in der Maske der Eltern und Geschwister, des Pfarrers und des Lehrers, der Ehefrau oder Geliebten, des Nachbarn, des Kollegen, der Kassiererin, des Obstverkäufers, des Arztes oder des Therapeuten versteckt, von den offiziellen Repräsentanten eines institutionalisierten oder formalen Sanktionsregimes wie dem Aufsichtspersonal bei Wettkämpfen oder der Polizei zu schweigen.

Wer den Turm nicht vor der Dame rettet, spielt schlecht Schach; wer ihn querfeldein zieht, spielt überhaupt kein Schach. Der erste wird mit dem Verlust der Dame oder der Partie bestraft; der zweite damit, daß er von dem Spiel ausgeschlossen wird.

Auch sogenannte primitive Gesellschaften ohne ausgebildetes institutionalisiertes, staatliches und rechtlich kodifiziertes Sanktionsregime werden von einem System von Dispositionen zu präskriptiven Äußerungen überformt und durchwaltet. Nur der Schamane darf Träume deuten und wahrsagen, nur der Initiierte an den heiligen Gesängen und Tänzen teilnehmen.

Die soziale Ontologie fußt nicht auf angeblich dem Menschen angeborenen Rechten und Ansprüchen, sondern auf der Geltung von Vorschriften, Regeln und Verpflichtungen sowie jenen Sanktionen, die ihrer Verletzung oder Mißachtung auf dem Fuße folgen.

Vorschriften und Sanktionen aber gründen in dem Spielraum oder Freiheitsgrad, der sich in der jedem Symbolsystem innewohnenden Möglichkeit manifestiert, es außer Kraft zu setzen, zu umgehen oder zu mißbrauchen.

Das Sanktionsregime ist umso härter und unerbittlicher, je größer das Risiko oder der Schaden ist, der aus der Regelverletzung resultiert. So mag der eingebildete Dichter die Sprache verhunzen und sich an schiefen Metaphern oder verwackelten Sprachbildern delektieren. Die soziale Nische, in der er seine geistige Scheinexistenz fristet, strahlt nicht weiter irritierend und verstörend auf lebenswichtige soziale Knotenpunkte und die Nervenstränge der gesellschaftlichen Kommunikation aus; ja, seine narzisstischen Grimassen im Zerrspiegel eines dichterischen Idioms ohne geregelte Syntax und transparente Semantik mögen verzückte oder bestochene Kollegen zum Anlaß nehmen, ihn mit Preisen und nicht unbeträchtlichen Fördermitteln auszustatten; doch seine Glossolalien verhallen echolos in den Vortragssälen der Universitäten, Buchhandlungen und Lyrikkabinette und haben für die Handlungen und Ereignisse in Gerichts- und Operationssälen, in Laboren und Forschungseinrichtungen oder den Überwachungssystemen der Flughäfen glücklicherweise keine Relevanz.

Anders steht es um den sprachlichen Spielraum und Freiheitsgrad, den wir in der Möglichkeit oder der Disposition erfassen, den Eltern nicht die Wahrheit über das Schulversagen mitzuteilen, der Ehefrau den sexuellen Betrug oder den Finanzschwindel zu verschweigen, ein Bankkonto unter gefälschter Identität zu eröffnen, dem Polizisten gegenüber die eigene Täterschaft oder Mittäterschaft abzustreiten oder vor Gericht den unschuldigen Konkurrenten einer Straftat zu bezichtigen.

An dieser Stelle wird uns der Umstand augenscheinlich, daß es sich bei Wahrheit und Lüge nicht nur um epistemische und moralische Begriffe handelt, die im sterilen Raum des philosophischen Seminars ihr harmloses Diskursdasein fristen, sondern um echte Herausforderungen für die Entwicklung und die Stabilität sozialer Sanktionsregime.

Das Kleinkind und der Demente haben unsere Sympathie und gelten für harmlos, weil sie die nötige Intelligenz und Schläue, die Gerissenheit und Perfidie noch nicht oder nicht mehr aufbringen, um uns hinters Licht zu führen, zu beschwindeln und zu belügen.

Wenn das Telefon klingelt, aber keine Nummer auf dem Display erscheint, sind wir zurecht mißtrauisch und heben nicht ab. Wenn uns nachts auf dem leeren Bahnsteig eine sinistere Gestalt anspricht, verweigern wir die Erfüllung der Bitte um eine Zigarette oder einen Euro. Unser berechtigtes Mißtrauen beruht auf dem Mangel von Vertrauen, das wir nur auf der Grundlage einer näheren Bekanntschaft und einer Reihe von Dialogsituationen gewinnen, in denen das Hintergrundprofil und Gesicht des Gesprächspartners ausgeleuchtet werden.

Mit dem Abbau der Fremdheit wächst im Regelfalle der Grad des Vertrauens; doch wir können uns täuschen, und der lächelnde Fremde ist ein Trickbetrüger oder gemeiner Dieb.

Wir finden Vorschriften für den initiatorischen Dialog, die nicht nur das präskriptive System von dialogischen Regularien wie Wahrheit, Klarheit und Relevanz der Aussage umfassen, sondern das Spiel von Frage und Antwort auf den Prüfstand vertrauensbildender Maßnahmen stellen.

Das Mißtrauen geht dem Vertrauen voraus; dieses wächst in dem Grade, wie jenes aufgrund bewährter oder gut erfundener Testverfahren abnimmt. Die Annahme von sogenannten Psychologen und Pädagogen, man müsse stets auf ein dem Menschen angeborenes Urvertrauen rekurrieren, ist nicht nur dumm, sondern gefährlich.

Nur aufgrund der Möglichkeit, die Unwahrheit zu sagen, haben wir die Fähigkeit, uns so gut es geht und nach bestem Wissen und Gewissen an die Wahrheit zu halten. Wer nicht belogen, übers Ohr gehauen und um sein Erspartes geprellt werden will, muß um die Möglichkeit der Lüge, des Schwindels und Betruges wissen, um den Gauner und den Scharlatan zu durchschauen.

Den Schwätzer und den Dummkopf, die unwissentlich die Unwahrheit sagen, können wir zurecht belehren oder getrost ignorieren; doch wer wissentlich die Unwahrheit redet, dessen mehr oder weniger bösartige Absichten gilt es zu durchschauen und zu durchkreuzen.

Nur philosophische Schaumschläger und gefährliche Utopisten behaupten, das Sanktionsregime für den lügnerischen Mißbrauch der Rede zu Zwecken von Irreführung, Scharlatanerie und Betrug sei eine repressive Zwangsjacke in den Händen toxischer Autoritäten und Diskurspolizisten.

Gruppenidentitäten zeigen und bewähren sich in bestimmten sprachlichen Formen und Mustern wie dem Idiolekt, dem Dialekt, der Fachsprache, der sakralen und rituellen Formelsprache oder der Gaunersprache. Keine Gruppe läßt sich ungerührt am hauseigenen Sprachmuster flicken, sondern eine jede sucht alle Formen der Verunglimpfung, böswilliger Parodie und Verleumdung mit einem Zensurregime abzuwehren. Über die Bedeutung der Polemik bei der Rechtfertigung und Bestreitung von Gruppenidentitäten belehrt ein flüchtiger Blick in die von Verzerrungen, böswilligen Unterstellungen und Haßtiraden überquellenden Flugschriften, Pamphlete und Satiren der Religionskontroversen zur Reformationszeit, des Bauernkrieges oder des Ersten Weltkrieges.

Aufgrund der sprachlichen Manifestation von Gruppenidentitäten und der ständigen hygienischen Bemühungen um ihre Reinhaltung können wir nicht umhin, einen Begriff von Gemeinschaft oder Gesellschaft ohne Zensur und Sprachregime auszuschließen.

Das Bild, das wir uns von uns selbst machen, kann in Nuancen der Farbgebung und der Sujetdarstellung von dem Bild abweichen, das sich andere, die uns gut kennen oder beobachten, von uns machen. Doch können die beiden Bilder nicht völlig voneinander divergieren; es gibt genügend Prüfverfahren, um die Fiktionalität oder Lügenhaftigkeit meiner Geschichte, ich hätte in den letzten zwei Jahren in Italien verbracht, anhand der Wahrnehmung meiner Nachbarn oder Kollegen auffliegen zu lassen.

Wer das Gerücht in Umlauf setzt, er habe bis gestern in Italien gelebt, aber vorgestern von seinem Nachbarn auf der Straße erkannt und gegrüßt worden ist, gilt uns nicht für einen Lügner oder einen sympathischen Phantasten, sondern für verrückt.

Das Zensur-, Straf- und Sanktionsregime erstreckt sich von symbolischen Gesten wie dem Stirnrunzeln, dem Hochziehen der Augenbrauen oder dem jähen Augenaufschlag, wenn der distanzlose Gast sich ohne zu fragen eine Zigarette ansteckt oder sich selbst das Weinglas nachfüllt, über schlichte Zurechtweisungen und Korrekturen des Lehrers, wenn der Schüler die Präposition „gemäß“ mit dem Genetiv konstruiert oder die binomische Formel nicht anwenden kann, über die Tabuisierung des Gebrauchs von Vulgärausdrücken in besserer Gesellschaft, auch wenn sie in düsteren Spelunken geduldet werden mögen, oder der Störung der Pietät und Friedhofsruhe durch krakeelende Nachtschwärmer oder der Schändung sakraler Stätten und der Verunglimpfung heiliger Namen bis zu jenen Tötungsdelikten, die aus Rache und zur Vergeltung für die Verletzung der Ehre von Familien, Sippen und Mafiabanden verübt werden; die Todesstrafe mag kein offizielles Element des Strafrechts mehr sein, hier gilt sie nach wie vor.

 

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