Sprache und Ontologie III
Ontologie der Person und sprachliches Ethos
„Peter hat das Gedicht nicht geschrieben, sondern Georg.“ – Hier wird Peter die Autorschaft bestritten und einer anderen Person zugewiesen. Vielleicht hätte Peter ein ähnliches Gedicht schreiben können, doch in diesem Falle war es Georg, der es schrieb. Die Fähigkeit, ein Gedicht zu schreiben, ist ebenso wie die Neigung, Gedichte zu schreiben, eine mentale Disposition, die wir ausschließlich Personen zuweisen.
Wir unterscheiden Neigungen, Dispositionen und Fähigkeiten von ihren motorischen, gestischen und verbalen Äußerungen wie dem Schlittschuhlaufen, Tanzen oder Singen. Die Äußerung eines Satzes wie „Es regnet“ verweist auf die Fähigkeit, Deutsch zu sprechen, die Äußerung eines Satzes wie „It’s raining“ auf die Fähigkeit, Englisch zu sprechen. Wer Sätze sagt wie „Es regnet“, muß auch Sätze sagen können wie „Es schneit“, „Die Sonne scheint“ oder „Ich gehe schlafen“ und abertausend andere.
Betrachten wir folgende kleine Liste gleichbedeutender Sätze in Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Lateinisch und Altgriechisch:
Es regnet.
It is raining.
Il pleut.
Piove.
Pluit.
Ζεὺς ὕει.
Es fällt ins Auge, daß diese indoeuropäischen Sprachen Aussagen über die Wirkung von Stoffen oder Substanzen, wie hier des als Regen erfahrenen Wassers, entweder wie das Italienische oder Lateinische ohne Subjekt oder wie die anderen Sprachen mit einem Scheinsubjekt bilden; das deutsche Pronomen „es“, das englische „it“ und das französische „il“ sind in Wahrheit Scheinsubjekte, denn anders als die deiktischen Personalpronomen „ich“, „du“, „er“, „sie“, „wir“ und „ihr“ weisen sie auf kein handelndes Subjekt hin, sondern auf ein subjektloses Geschehen, eben den Regen.
Das gilt auch für den seltsam anmutenden altgriechischen Satz, der zwar vom obersten Olympier aussagt, daß er regne, was aber schon zu Zeiten Homers mehr wie eine verblaßte Metapher für die schlichte Feststellung, daß es regnet, gewirkt haben muß, auch wenn ihr ein Spötter wieder einmal hat Leben einhauchen können, der die Wendung zum Anlaß nahm, sich über den Umstand zu mokieren, daß es Pflanzen und Tieren und Menschen wohl bekommt, wenn der Vater der Götter und Menschen aus höchsten Höhen sein Wasser abschlägt.
„Der Apfel fällt vom Baum“, „Die Katze springt vom Fenstersims“, „Peter überquert die Straße“, „Es fing an zu regnen“: In diesen Sätzen, die Vorgänge und Ereignisse beschreiben, kommen die unterschiedlichen Ontologien von Dingen, Gegenständen, Personen und Substanzen zur Geltung, was freilich durch die Ähnlichkeit ihrer grammatischen Form verdeckt wird.
Betrachten wir den ontologischen Unterschied von Personen und Substanzen. Wenn wir sehen, wie Peter den ersten Schritt auf den Zebrastreifen setzt, unterstellen wir ihm als handelnder Person die Absicht, die Straße zu überqueren. Doch nur im mythischen Rest der verblaßten Metapher, daß Zeus regnet, fassen wir noch die geistige Neigung des frühen Menschen, den Naturvorgängen Absichten zu unterstellen; die Kinder der Aufklärung dagegen sehen in der Natur keine absichtsvollen Prozesse, keine providentiellen Ereignisse mehr.
„Es begann zu regnen“ – ein paar Tropfen genügen, die Aussage zu rechtfertigen, ohne daß wir angeben müßten, bei welcher Anzahl von Tropfen die Aussage gilt. Dagegen sollten auf den ersten Schritt Peters ein zweiter und ein dritter folgen, um auszuschließen, daß er etwa versehentlich nach vorne trat.
Wir müssen ein paar Tropfen gespürt haben, um vom Regen sprechen zu können; und was wir mit Regen meinen, ist einfach die Summe aller in unserem Umfeld niederfallenden Tropfen.
„Der Regen hat aufgehört.“ – „Peter hat die Straße überquert.“ Wenn der Regen aufgehört hat, haben sich die Regenwolken verzogen oder aufgelöst; doch wenn Peter die Straße überquert hat, ist er noch da und begrüßt seinen Freund Hans, der ihm von der anderen Straßenseite zugewunken oder zugerufen hat.
Die Konstanz und Kontinuität von Dingen und Personen über gewisse zeitliche Strecken und innerhalb gewisser räumlicher Kontexte ist ein wesentliches Merkmal ihrer Ontologie.
Die Teile von Substanzen wie Regentropfen, Schneeflocken oder die Duftmoleküle von Blumen und Gräsern haben keine Dispositionen, Fähigkeiten oder Möglichkeiten, jetzt etwas anderes zu tun, als was sie eben taten; während die Katze, die eben noch faul auf dem Fenstersims lag, jetzt herunterspringt und einer Maus nachjagt, und Peter, der eben noch über den Bürgersteig trottete, auf das Winken oder den Zuruf seines Freundes aufmerksam geworden, jetzt die Straße überquert.
Wenn Peter auf das Winken von Hans oder seinen Zuruf die Straße überquert, antwortet er damit auf die Geste seines Freundes; sein Gang ist sowohl ein physischer als auch ein symbolischer Akt, wie alle Sprechhandlungen, könnten wir ergänzen.
Peter hätte das Winken seines Freundes oder seinen Zuruf auch ignorieren können, er hätte weitergehen können und so tun, als sehe und höre er den Freund nicht. Auch dieses Ignorieren wäre eine gestische Antwort, auch sein Schweigen wäre ein Sprechakt.
Wenn die natürlichen Bedingungen, wie die Windstärke oder der Kondensationsgrad zur Bildung von Wasser, erfüllt sind, fällt der Apfel vom Baum, beginnt es zu regnen; wenn die Katze die Maus erspäht, springt sie instinktiv vom Fenstersims. Wir können nicht sagen, der Apfel hätte auch noch ein Weilchen am Zweig hängen bleiben, der Regen ausbleiben, die Katze den instinktiven Fangreflex ignorieren können.
Die Anwendung des irrealen Konditionalis auf Sätze, die mögliche oder virtuelle Handlungen beschreiben, oder die Darstellung kontrafaktischer Annahmen ist ein sprachliches Kriterium für den ontologischen Status von Personen.
„Hätte Peter nicht verschlafen, hätte er den Zug noch erwischt.“ – Sein treues Hündchen hat ihn jedenfalls nicht geweckt. Hat es auch verschlafen? Hunde freilich können weder verschlafen noch zu spät kommen, geschweige denn sich vornehmen, früher schlafen zu gehen oder länger wach zu bleiben.
Der Satz: „Wären die Naturgesetze andere, als sie sind, und wären die Randbedingungen bei der Expansion des Universums nur geringfügig anders gewesen, würden wir nicht existieren. Also …“ Und dann folgt womöglich ein theologisches Argument. – Aber dieser Satz ist ein Schein-Satz, denn die Welt ist, wie sie nun einmal ist. Punctum.
Die Welt ist nicht etwas, von dem man sagen könnte, daß es die ontologische Instanz eines Allgemeinbegriffs oder einer Universalie ist, wie die Katze dort auf dem Fenstersims die ontologische Instanz der zoologischen Ordnung der Feliformia (der Katzenartigen) und Peter die ontologische Instanz einer menschlichen Person (der menschlichen Spezies).
Universalien sind gleichsam Leerstellen und Platzhalter auf dem ontologischen Formblatt und Organigramm, bei denen unter der Rubrik „Name“ der individuelle Name, unter „Wohnort“ der Name einer Stadt, einer Straße, eines Landes, unter „Beruf“ die jeweilige Berufsbezeichnung einzutragen sind.
Die deutsche Grammatik behandelt unter dem Abschnitt „Fragesätze“ die syntaktische Form von Fragen und gibt dazu Beispielsätze wie: „Hast du heute Nachmittag Zeit“, „Bist du schon in London gewesen?, „Leben deine Eltern noch?“ Diese Beispielsätze werden erst zu echten sprachlichen Partikularien oder Instanzen des Typus Fragesatz, wenn sie in einem spezifischen Kontext geäußert werden. So, wenn Peter Hans fragt, ob er heute Nachmittag Zeit habe, ob er schon in London gewesen sei oder ob seine Eltern noch leben.
Der Zuruf von Hans ist eine Instanz jener Sätze und Sprechakte, die wir Aufforderungen nennen; diese Rose, auf die ich dich im Garten wegen ihrer besonderen Pracht hinweise, ist ein Exemplar jener Blumensorte, die wir Rosen nennen.
Wir treffen nirgendwo auf Rosen, sondern immer nur auf diese weiße oder diese rote; wir treffen uns nicht mit typischen Menschen, sondern immer nur mit diesem oder jenem besonderen, mit Hans oder Peter.
Oft dient uns die Klassifikation durch Allgemeinbegriffe der Orientierung im Einzelnen: Ich weise dich auf die außergewöhnlichen Merkmale dieser prächtigen Rose hin. Du fragst: „Meinst du die Form oder die Farbe?“
Peter hätte das Winken oder den Zuruf seines Freundes ignorieren können, wenn er ihm den Umstand übel nähme, daß er auf seine letzte E-Mail nicht geantwortet hat. Wir schließen von einem solchen Verhalten auf eine gewisse moralische Empfindlichkeit und nennen Personen, die es an den Tag legen, nachtragend.
Charakterliche Dispositionen und Neigungen wie die, nachtragend, verlegen, jähzornig oder unterwürfig zu reagieren, sind keine verborgenen Züge der Innerlichkeit, denn würden sie sich nicht bisweilen in Gesten und Äußerungen kundtun, hätten wir keinen Anlaß und Grund, sie den Betreffenden zuzuschreiben.
Die Disposition und die Fähigkeit, eine Sprache zu sprechen, sind ein wesentliches Kennzeichen der Ontologie der Person, auch wenn der Säugling noch nicht und der Sterbende nicht mehr sprechen können. Dabei gilt: Es gibt keine allgemeine oder universale Sprache, sondern immer nur partikulare oder besondere natürliche Sprachen, Deutsch, Englisch, Italienisch, Französisch. Aus den Kategorien des Aristoteles und Kants können wir kein universales philosophisches Idiom konstruieren, in dem sich Peter mit Hans verständigen könnte.
Jede natürliche Sprache verkörpert ein mehr oder weniger diffuses Weltbild und ein mehr oder weniger artikuliertes Ethos.
Sprecher von Sprachen ohne Zahlbegriff können keine höhere Mathematik entwickeln.
In allen natürlichen Sprachen findet sich das Äquivalent für den Sprechakt der Aufforderung. Die Aufforderung und die Arten, ihr zu entsprechen, zumindest durch eine bejahende oder verneinende Geste, sind die Grundlagen des sprachlichen Ethos.
Peter bejaht die Aufforderung von Hans, ihm die ausgeliehene Summe Geldes übermorgen zu erstatten. Hält sich Peter nicht an die Abmachung, droht ihm eine soziale Sanktion; sie mag daraus resultieren, daß Hans das Gerücht in Umlauf bringt, wie unzuverlässig und wortbrüchig Peter ist, oder auch in der Aufkündigung ihrer Freundschaft.
Hat Peter seinem Freund das Geld verabredungsgemäß ausgehändigt, ist dessen Forderung erfüllt und erlischt. Dagegen erlischt Peters Eheversprechen erst, wenn seine Frau die Scheidung eingereicht hat oder verstorben ist.
Unser Zeitbewußtsein ist nicht nur eine mentale Eigenschaft der reinen Subjektivität, wie Husserl anhand des Musikhörens phänomenologisch getreu dargelegt hat, sondern in erster Linie eine soziale Funktion, wie uns der zeitliche Index und die Geltungsdauer von Versprechen, Verabredungen, Abmachungen und Verträgen vor Augen führen.
Informelle und formelle Verpflichtungen sind die Basis des durch die natürliche Sprache konstituierten und kommunizierten Ethos. Im Rest des Universums hat dieses Ethos keinen Ort und keine Geltungskraft.
Wir können unseren Hund dressieren, uns die Zeitung aus dem Flur zu apportieren; aber unser treuer Hund weiß sich nicht zu dieser Dienstleistung verpflichtet, weil er im Falle ihrer Vernachlässigung befürchten müßte, daß sein guter Ruf bei den Hunden der Nachbarschaft Schaden nähme.
Das aus den sprachlichen Handlungen der Aufforderung, der Bitte, des Versprechens und der Verpflichtung erwachsene sprachliche Ethos ist ein singuläres Merkmal der Ontologie der Person.
Ein Gutteil dessen, was wir moralische Übel und seelisches Leiden nennen, entspringt aus den Fallstricken, die am Grunde unseres sprachlichen Ethos lauern: Wir gehen Verpflichtungen ein, die wir aufgrund mangelnder Kräfte und Talente oder aus Charakterschwäche nicht einlösen können, und fühlen uns überfordert oder versinken wegen unseres Versagens in depressive Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle. Wir weichen aus Bequemlichkeit, Trotz oder Hang zur Liederlichkeit der Übernahme von Verpflichtungen aus, die unserem Leben eine Richtung und dauernden Wert geben könnten, und versinken in innere Öde, Trübsinn und Langeweile.
Loben, Preisen, Rühmen gehören ebenso zum sprachlichen Ethos wie Tadeln, Zurechtweisen und üble Nachrede. Die sanfte, begütigende Stimme der Mutter, die strenge, strafende des Vaters oder die mäkelnde, hänselnde der Geschwister begleiten uns ein Leben lang, und wir hören sie mit dem inneren Ohr, ja noch in unseren Träumen oder wie bei psychotischen Anfällen als akustische Halluzinationen, weil sie in den Stimmen der Gruppen und Gemeinschaften, in denen wir Aufgaben übernehmen, uns bewähren oder versagen, ihr Echo finden.
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