Sprache und Ontologie II
Die semantisch-logische Analyse kann die Sense sein, mit der sich die Ontologie einen Weg durch das Dickicht der Sprache bahnt, um zu einer Lichtung klarer und transparenter philosophischer Darstellung zu gelangen. – Bisweilen genügt es freilich, ein paar Umwege zu gehen, um ebenfalls ungehindert die Lichtung zu erreichen.
Aufgrund der semantischen Analyse des alltäglichen Gebrauchs von Begriffen wie „etwas“, „Gegenstand“ und „jemand“ schreiten wir zur ontologischen Festlegung, daß es neben Dingen wie Bäumen, Mäusen und Fahrrädern sowie Substanzen wie Wasser, Schnee und Blut Personen gibt, die zwar auf chemischem und physikalischem Niveau in unzählige Teile und Teile von Teilen zerfallen, aber auf sozialem Niveau ontologische Einheiten darstellen.
Mittels semantischer Analyse verschaffen wir uns Klarheit über die Referenz von Begriffen wie „Baum“, „Maus“ und „Person“. Wenn wir zumindest eine adäquate Anwendung oder eindeutige Projektion des Begriffs registrieren, würdigen wir ihn (vorläufig) eines ontologischen Ranges.
Wenn der Neurologe von der Aktivität neuronaler Muster im Gehirn von Peter spricht, sagt Peter: „Ich höre eine Klaviersonate von Mozart.“
Es bleibt nach wie vor unerfindlich, wie man eine Äußerung wie „Ich höre eine Klaviersonate von Mozart“ in das entsprechende neuronale Muster oder das neuronale Muster in den Satz „Ich höre eine Klaviersonate von Mozart“ übersetzen kann.
Es mutet beinahe lächerlich an, sich vorzustellen, in Peters Gehirn würde auf neuronalen Bahnen das repräsentiert, was der Pianist vom Blatt spielt, wenn er eine Klaviersonate Mozarts vom Blatt spielt, lächerlich, sich vorzustellen, mittels einer adäquaten Transkription dessen, was sich in Peters Gehirn auf neuronalen Bahnen abspielt, könnte der kundige Pianist Mozarts Klaviersonate wiedererkennen.
Auch wenn wir keine Ahnung von der Aktivität neuronaler Muster im Gehirn der Person haben, sprechen wir im Rahmen unseres alltäglichen Wahrnehmens und Erlebens ohne epistemische und ontologische Skrupel davon, daß Peter Musik hört.
Der Neurologe, der die neuronale Aktivität seiner Versuchsperson beobachtet, kann nicht sagen, ob sie an ihre Mutter oder ihre Freundin denkt; er kann es nur herausfinden, wenn er wie wir Normalsterblichen die Versuchsperson befragt und diese aufrichtig von ihren Gedanken berichtet.
Die Person, die gemäß dem Rätsel der Sphinx am Morgen auf vier Beinen, am Mittag auf zweien und am Abend auf drei Beinen geht, also gravierenden Modifikationen in der Zeit unterliegt, ist doch als Kleinkind ontologisch dieselbe Person wie als Greis. Die Identität der Person in der Zeit beruht nicht auf einem Kontinuum dessen, was man poetisch-verschwommen Bewußtseinsstrom nennt, denn sie könnte psychotisch bedingten Erinnerungsstörungen unterliegen, ohne daß wir ihr die personale Identität absprechen würden.
Vielleicht sind es auf physikalischem Niveau bestimmte neuronale Muster, die das Kontinuum der personalen Identität in der Zeit bedingen; aber wir sprechen von Peters Kindheit, ohne eine Kenntnis der zugrundeliegenden physikalischen Referenz zu haben, wie von dem vor einigen Jahren verstorbenen Johannes, bei dem von dieser Referenz keine Rede mehr sein kann.
Substanzen wie Fließgewässer oder Wolken bilden andere Referenzpunkte als Mäuse und Menschen; ich kann vom fließenden Wasser im Rhein oder von den schnell vorüberziehenden Wolken reden, auch wenn ich weiß, daß das Wasser jetzt nicht mehr aus denselben Molekülen und die Wolken nicht mehr aus denselben Molekülkonstellationen bestehen wie noch vor einer Minute.
Menschen sprachen vom Wasser des Rheins, auch als sie nicht wußten, daß es H2O ist, mit derselben Berechtigung und ontologischen Transparenz und Adäquatheit, mit der sie vom Sonnenuntergang sprachen, auch wenn sie nicht wußten, daß sich die Erde um sich selber dreht.
Unterliegen wir als Sprecher einer indogermanischen Sprache einer grammatischen Suggestion, wenn wir Dinge, Entitäten oder Gegenstände wie Moleküle, Neuronen, Mäuse und Fahrräder, Substanzen wie Wasser, Schnee und Blut, Personen wie Caesar, Hildegard von Bingen oder Onkel Kurt sowie Ereignisse wie die Krönung Karls des Großen oder die Geburtstagsfeier von Tante Hilde ontologisch auszeichnen, nicht aber fiktive Entitäten wie Einhörner, mythische Personen wie Odysseus und die Göttin Athene sowie legendäre und traumartige Ereignisse wie die Versammlung der Krieger in Walhalla und Peterchens Mondfahrt?
Der Mensch in der Masse, vor allem der aufgewühlten, zeigt uns ein anderes, häßlicheres Gesicht als derjenige, den wir im ruhigen Gespräch von Angesicht zu Angesicht angetroffen haben; doch wenn Hans aus der wütenden Menge heraus einen Stein auf einen Polizisten schleudert, wird er als Einzelperson zur Verantwortung gezogen, ohne daß er aufgrund der Massenerregung mildernde Umstände erfährt.
Ich kann den platonischen Satz „Theaitetos sitzt“ auf zweierlei Weise verneinen: „Es ist nicht der Fall, daß Theaitetos (dort) sitzt“ und „Es ist nicht Theaitetos, der (dort) sitzt.“ Doch weder, wenn Theaitetos dort nicht auf der Bank sitzt, sondern herumläuft, noch, wenn nicht Theaitetos dort sitzt, sondern Lysis oder niemand, stoße ich auf eine semantisch bedeutsame Referenz, die meine Ontologie bereichert.
„Niemand sitzt auf der Bank“, „Nichts ist geschehen“: Es ist offensichtlich, daß ich mit diesen und ähnlichen Negationen keine ontologisch neuen Felder betrete. Mit den Aussagen, daß im Moment keiner auf der Parkbank sitzt oder der langweilige Urlaubstag ohne besondere Vorkommnisse verstrichen ist, wird nicht in gleicher Weise Bezug genommen auf eine Tatsache wie mit der Aussage, daß Theaitetos auf der Bank sitzt oder ausgerechnet an diesem Wintertag die Heizung ausgefallen ist.
Das Wörtchen „nichts“ hat in der Philosophie Europas von Platon über die jüdische und christliche Mystik bis zu Heidegger und Sartre eine Corona diffuser Bedeutungen erhalten, die selbst seinen metaphorischen Gebrauch in Mißkredit gebracht haben.
Begriffe haben unterschiedliche Körnung, je nach dem ontologischen Niveau, auf dem wir sie situieren: Eine Person ist im Vergleich mit den Atomen, Zellen, Neuronen, aus denen ihr Körper besteht, ein grobkörniger Begriff, dagegen im Vergleich mit den naturwüchsigen oder institutionellen Einheiten, deren Mitglied oder Teil sie ist, wie der Familie, dem Verein, dem Unternehmen, dem Staat, ein feinkörniger Begriff.
Wir können eine Person anhand eines einzigen charakteristischen Merkmals oder eines spezifischen, ontologisch eindeutigen Kriteriums identifizieren; so wenn wir mit „Wittgenstein“ jene Person meinen, die den „Logisch-philosophischen Traktat“ geschrieben hat, auch wenn wir nicht wissen, daß Wittgenstein die „Philosophischen Untersuchungen“ geschrieben hat.
Wenn wir wissen, daß Peter der Vater von Hans ist, wird unser Wissen, daß er blaue Augen hat, keine echte Erweiterung unserer Ontologie der Person darstellen, denn blaue Augen haben viele, aber der Vater von Hans ist nur einer.
Umso genauer, detaillierter, minutiöser wir eine Person (einen Gegenstand) beschreiben, desto weniger relevant werden unsere deskriptiven Aussagen für die Feststellung ihres ontologischen Status. Diese Beobachtung bestätigt die Annahme, daß Philosophie keine Literatur und keine Dichtung ist. Die Dichtung beispielsweise kann die Intensität der Gegenwart einer Person in der Beschwörung ihres lebendigen Blicks einfangen und die intensive Wirkung ihrer Abwesenheit im leeren Blick dessen, der an dieser Abwesenheit leidet.
Trotz der materialen Mannigfaltigkeit der Vorstellungsbilder, Phantasmen und Wahnideen, die wir der Symptomatik der Psychose zuordnen, finden wir immer wieder dieselben typischen Muster wie das Stimmenhören, Halluzinationen oder Verfolgungsideen. Wir können von der Beschreibung dieser typischen Muster nicht auf die konkrete Person schließen, die unter ihnen leidet. Um diese Muster für die Diagnostik oder Therapie heranziehen zu können, müssen sie in die Beschreibung der Lebensvollzüge des Patienten integriert werden.
Ein wesentliches semantisches Verfahren zur Ermittlung ontologischer Feststellungen und Zuschreibungen besteht in der Aufteilung und Gliederung (der semantischen Artikulation): Wir schreiten von der phonologischen Ebene des Satzes zur grammatisch-syntaktischen und von dieser zur semantischen Ebene. Auch wenn wir die phonologische und syntaktische Ebene mittels Übersetzung in eine andere Sprache vollkommen austauschen, können wir in den meisten Fällen zumindest den elementaren oder primitiven semantischen Gehalt konservieren.
Doch wenn wir die Liebesgedichte der Sappho mit den mystischen Gebetsanrufungen einer mittelalterlichen Heiligen vergleichen, merken wir bald, daß hier unvereinbare Konzepte von Verehrung, Hingabe und Liebe aufeinandertreffen.
Wenn wir sagen, Hans sei von Beruf Lagerist, können wir seine beruflichen Tätigkeiten nicht auf das feinkörnige Niveau reduzieren, auf dem wir von den Ennervationen seiner Hand und der Krümmung seiner Finger reden; sondern wir müssen etwa sagen, er räume bestimmte Waren in bestimmte Regale.
Wir sprechen vom Beruf oder der Profession einer Person; doch diese Kennzeichnung hat keine unmittelbare Relevanz für ihren ontologischen Status; sie kann ja den Beruf wechseln oder arbeitslos werden, ohne diesen Status zu verlieren. Dies gilt im gleichen Sinne auch von Kennzeichnungen wie „verheiratet“, „magenkrank“ oder „jähzornig“.
Verstehen wir unter Jähzorn die Neigung, schon bei nichtigen Anlässen wie einer unwirschen Geste und herausfordernden Mimik oder einem scharf fixierenden Blick aus der Haut zu fahren, können wir sie als Verhaltensdisposition auffassen, die uns nicht nur bei Peter, sondern auch bei dem Wachhund Rex begegnet. Dispositionen zu emotionalen Reaktionen scheinen keine unmittelbare Relevanz für die Zuordnung des ontologischen Status an denjenigen zu haben, an dem wir sie bemerken.
Der Grad der Feinkörnigkeit unserer ontologischen Bezugnahme ist abhängig von den Absichten und Zwecken, die wir damit verfolgen; so ist die Genauigkeit der Wanderkarte mittels Maßstabsvergrößerung gegenüber der Straßenkarte für Autofahrer erhöht; dadurch findet der Wanderer nicht nur die Burg, sondern auch die versteckte Grotte oder die verborgene lauschige Quelle. Die Beschreibung von Pflanzen und Tieren ist um ein Vielfaches genauer, detailreicher und subtiler in den entsprechenden botanischen und zoologischen Handbüchern als im Lehrbuch für die unteren Klassen, in dem wohl von Rosen und Tulpen, von Hunden und Katzen die Rede ist, aber kaum einmal zwischen Beet- und Kletterrosen, zwischen Pinschern und Windhunden oder zwischen Siamkatzen und Perserkatzen unterschieden wird.
Die Topographie der Wanderkarte muß auf veridischen Projektionen der vermessenen und dokumentierten dreidimensionalen Landschaft mit ihrem Wegenetz auf die zweidimensionale Fläche der symbolisch repräsentierenden Karte beruhen, damit sie unsere Absichten und Zwecke erfüllt; denn das auf der Karte eingetragene Knusperhäuschen der Hexe würde der Wanderer vergebens suchen. Ebenso die Abbildungen der Pflanzen und Tiere mit ihren botanischen und zoologischen Klassifikationen: Sie müssen veridische Projektionen der realen Pflanzen und Tiere darstellen; denn weder die blaue Blume noch das Einhorn, die etwa in das botanische oder zoologische Handbuch geraten sind, vermögen unsere wissenschaftliche Neugier zu stillen.
Die Karte und unser ontologisch transparentes und semantisch geregeltes Aussagesystem müssen über eine isomorph-projektive Ähnlichkeit mit dem Gegenstand, den sie darstellen, verfügen, damit wir uns anhand ihrer orientieren oder verständigen können.
Die Syntax und Semantik jener Sätze, mit denen wir von einzelnen Entitäten Eigenschaften und Zustände prädizieren, wie in dem Satz: „Der Hund liegt im Körbchen“ oder dem Satz: „Peter überquert die Straße“, sind anders geartet als die Syntax und Semantik von Sätzen, in denen wir von Substanzen oder Stoffen Eigenschaften und Zustände prädizieren, wie in den Sätzen: „Es regnet“ und „Es schneit.“
Eine wahre Totalrepräsentation oder ein vollständiges Bild der Welt entwerfen zu wollen, das all ihre Teile und Elemente umfaßt, ist schon deshalb nicht möglich oder inkohärent, weil das Bild selbst als Teil der Welt dabei unter den Tisch fällt; eine Wiederholung und Iteration des Verfahrens aber führen zu einem unendlichen Regreß.
Weil unsere ontologisch veridischen Aussagesysteme sich nicht selbst isomorph abbilden und sich nicht selbst enthalten, bleiben sie notwendig unvollständig.
Nur wenn wir unsere projektiven Modelle auf die Wiedergabe von Types statt Tokens einschränken, könnten wir Vollständigkeit erzielen. Damit aber sind wir gehalten, abstrakte Entitäten wie Zahlen und Typen in unsere Ontologie aufzunehmen.
Wir müssen folgende unbeweisbare, aber methodisch unverzichtbare Maxime aufstellen: So wie wir unsere Milchstraße auf einer Sternenkarte projektiv modellieren, wird es wohl in allen Galaxien, also im Rest des Universums, aussehen. – Das Verfahren der semantischen Gliederung und Artikulation, das wir an Ort und Stelle ontologisch erfolgreich durchführen, muß auch am Nordpol, im Andromedanebel sowie in der näheren und ferneren Vergangenheit und Zukunft anwendbar, gehaltvoll und gültig sein.
Wir können ontologisch bedeutsame syntaktische Muster wie Formulare oder Organigramme betrachten, auf denen neben den Typen-Angaben wie „Person“, „Tätigkeit“ und „Zustand“ Leerstellen oder Platzhalter stehen, in die man die individuellen Token-Bezeichnungen eintragen kann, etwa: „Theaitetos sitzt.“
Wir können ontologisch bedeutsame Gliederungen und Schematisierungen an den Farb- und Tonskalen vornehmen, indem wir sie nach den Kriterien Helligkeit und Intensität oder Kontrastwirkung und Komplementarität ordnen; aber das, was Goethe die sittliche Wirkung der Farben nennt und, können wir ergänzen, was man die psychologische Wirkung der Töne nennen kann, läßt sich in unserer ontologischen Matrix nicht mehr erfassen.
Wenn wir in unserer grobkörnigen Sprechweise von Hunden und Katzen reden, kann der Molekularbiologe auf die jeweiligen feinkörnigen DNA-Muster als adäquate Referenz verweisen.
Man spricht zurecht von einem mehr oder weniger fein gewebten Netz der Begriffe, in dem wir auffangen, was nicht durch die Maschen fällt; wir könnten aber auch von begrifflichen Mikroskopen und Teleskopen reden, die sich gemäß der jeweiligen ontologischen Nähe und Ferne justieren lassen.
Wir sprechen von der Vagheit von Begriffen wie „hier“ und „dort“, „früher“ und „demnächst“, „Freundschaft, „Liebe“ und „Glück“, wenn ihre Verwendung kontextuellen Einschränkungen unterliegt, desgleichen von der ontologischen Unbestimmtheit von Begriffen wie „Einhorn“, „Rübezahl“ und „Stein der Weisen“, wenn ihre Referenz die Null-Menge darstellt.
Das Fieberthermometer bildet ein ontologisch projektives Modell zur Erfassung der Körpertemperatur, denn die Ausdehnung der Quecksilbersäule ist der Körpertemperatur direkt proportional. Die Aussage: „Peter hat Fieber“ ist wahr, wenn die eingezeichnete rote Linie an der Quecksilbersäule überschritten ist.
Die Prüfung der Transparenz unserer projektiven begrifflichen Fenster und ontologischen Modelle auf dasjenige, was sie identifizieren und klassifizieren, ist die Aufgabe der semantischen Analyse.
Die Aussage, daß Peter Hans begrüßt, kann entweder falsch sein, weil keine Form der Begrüßung vorliegt, oder weil umgekehrt Hans Peter begrüßt. Im ersten Falle scheitert die Transparenz der begrifflichen Projektion am Fehlen der Relation, im zweiten Fall an der verfehlten Reihenfolge der Relata.
Begriffliche Transparenz unserer projektiven Modelle wäre die Voraussetzung eines semantischen Realismus, semantischer Realismus die Voraussetzung eines ontologischen Realismus. Die Frage nach seiner Möglichkeit bleibt wohl angesichts der Mannigfaltigkeit der menschlichen Lebensformen und Sprachen offen, aber vielleicht auch nicht zu beantworten, und zwar aufgrund der Diskontinuitäten in der Abfolge basaler Theorien wie beispielsweise der astronomischen Theorien von Ptolemäus über Kopernikus und Newton bis Einstein und anderer Theorien, von denen nicht klar ist oder unklar bleiben muß, ob sie sich vollständig und ohne Sinnverlust wie eine Sprache in eine andere übersetzen lassen oder ob sie zumindest Kerne und Muster neuer Sprachen hervorbringen, die mit den von ihnen verdrängten Theorien inkommensurabel sind.
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