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Sprache und Bewußtsein

27.01.2020

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

„Bewußtsein“ ist ebenso wie „Sprache“ und aus ähnlichen Gründen ein Pseudo-Objekt, eine theoretische Fiktion, eine abendländische Mythe.

Das gleiche gilt für Begriffe wie „das religiöse (oder theologische) Zeitalter“, „die Aufklärung“, „die Epoche der Rationalität“ – dies sind Formen des okzidentalen Mythos. Die Griechen glaubten nicht an heidnische Götter; dies ist ein Etikett, das ihnen wenig gewogene christliche Theologen anhängten; Kopernikus glaubte an den Schöpfergott, Newton an alchemistische Magie, Einstein an die göttliche Spur in der kosmischen Ordnung aufgrund der Naturgesetze, der bedeutende Logiker Kurt Gödel entwarf vor nicht allzu langer Zeit einen ontologischen Gottesbeweis im Geist der mittelalterlichen Theologie.

Uns in einem irgend sinnvollen Verlauf historischer Ereignisse, Bezüge, Epochen zu verorten, an dessen glücklichem Ausgang die Vernunft, die höhere Moral, die Gerechtigkeit oder widrigenfalls der Teufel obsiegen, zeugt von der Überspanntheit akademischer Philosophen.

Man kehrt aus einer Ohnmacht ins Bewußtsein zurück, man ist sich der Folgen einer Tat nicht oder nur vage bewußt, man bemerkt die Passanten, aber achtet im flüchtigen Vorbeigang kaum auf ihre Mienen, man wählt bewußt die Lieblingsblumen zum Geschenk – aber man HAT kein Bewußtsein, wie man eine Hand, ein Gehirn, Geld in der Tasche hat.

Kaum erwacht, findet man sich im Bett liegend in einem Dämmerzustand wieder, der noch nicht den Gedanken daran ins „Licht des Bewußtseins“ dringen läßt, wer man ist, was hier los ist, was man hier soll. Dann klingelt das Telefon, und sofort erinnert man sich an die Verabredung, die man verschlafen hat. Jetzt wird einem klar, daß man derjenige ist, der vor einigen Tagen dem Freund versprochen hat, an diesem Morgen mit ihm gemeinsam in dessen Wohnung zu frühstücken.

Das Leibgefühl, anhand dessen man sich der eigenen Position im Raum vage bewußt wird, kommt ohne sprachliches Vermögen aus; anders die Erinnerung an das gegebene Versprechen und die versäumte Verabredung, die man nur hat, wenn man beispielweise vor sich hin murmelt: „Verdammt, ich habe den Termin verschlafen!“

Ich kann den Satz „Ich habe den Termin verpaßt“ nicht sinnerhaltend durch den Satz „N. N. hat den Termin verpaßt“ ersetzen, wobei N. N. der Eigenname des Sprechers wäre. Es könnte jemanden des gleichen Namens geben, aber dieser ist nicht gemeint, auch wenn es zufällig der Fall wäre, daß auch er gerade einen Termin verpaßt hat; doch ist es so gut wie ausgeschlossen, daß er diesen, den hier einzig relevanten, Termin verpaßt hätte.

Der Satz: „Er versprach seinem Freund, sich mit ihm zu einem gemeinsamen Frühstück zu treffen“ setzt augenscheinlich voraus, daß der reflexive Ausdruck des Infinitivs („sich“) auf das Subjekt des Hauptsatzes („er“) Bezug nimmt. Wir können solche reflexiven Bezugnahmen in der dritten Person nur verstehen, wenn wir auch in der Lage sind, reflexive Aussageformen in der ersten Person zu verstehen, hier also den Satz: „Ich versprach meinem Freund, mich mit ihm zu einem gemeinsamen Frühstück zu treffen.“ Die reflexiven Aussageformen in der dritten Person, können wir sagen, sind semantische Ableitungen von reflexiven Aussageformen in der ersten Person. Das erkennen wir, wenn wir den Ausgangssatz sinnerhaltend wie folgt umformen: „Er versprach seinem Freund: ‚Ich werde mich mit dir zu einem gemeinsamen Frühstück treffen.‘“

Dies ist der Kern der subjektiven Bezugnahme, der allen natürlichen Sprachen eignet und die Asymmetrie der Aussagen der ersten Person Singular zum Rest aller Äußerungen erzeugt, widrigenfalls sie keine Sprache in dem uns geläufigen Sinne wären.

Eine Sprache ohne systematische Verwendung von Personalpronomina ist keine natürliche Sprache, sondern ein künstlicher Code.

Zum Ausdruck der Subjektivität bedarf es eines spezifischen semantisch-grammatischen Distinktionsmerkmals, das von Sprache zu Sprache unterschiedliche Gestalt annehmen kann („Ich ging gestern im Park spazieren“ „cras per hortos ambulavi“).

Sich seiner Empfindungen, Äußerungen und Taten mehr oder weniger bewußt sein ist keine Form von Wissen; wir wissen etwas, wenn wir hinreichend gute Gründe auffinden können, die den Sachverhalt erklären; insofern können wir uns auch irren, wenn wir nach den falschen Gründen greifen: Doch wir können uns nicht irren, wenn wir uns im Halbschlaf im Bett liegend wiederfinden.

Wenn wir glauben, wir sind in einer Wohnung erwacht, in der wir vor Jahren einmal gewohnt haben, handelt es sich nicht um eine vag bewußte Empfindung, sondern um einen wenn auch verschwommenen Gedanken, dessen in klare Gestalt gerückte Aussage leicht widerlegt werden kann.

Wie der Grund der Logik ist der Grund der Sprache, der sich in Äußerungen der ersten Person Singular kundgibt, nicht wieder begründbar oder ableitbar, sondern erscheint uns unmittelbar evident und einsichtig.

Ich muß vom Grund der Logik unmittelbare Evidenz im Nachvollzug gültiger Argumente erhalten haben, um Argument an Argument reihen zu können; ich muß vom Dasein meiner selbst unmittelbare Evidenz erhalten haben, um weitere Äußerungen in der ersten Person machen zu können.

Aufgrund der korrekten Anwendung der logischen Junktoren gelangen wir von als wahr angenommenen Prämissen zu gültigen Folgerungen. Die wahre Konklusion können wir nicht anders „begründen“ als durch den erneuten Nachvollzug des vorliegenden Arguments.

Wenn wir einen Bekannten auf der Straße zu erkennen meinen, können wir nicht aus unserem Gesichtskreis heraustreten, um zu überprüfen, ob wir richtig sehen, sondern nur genauer hinschauen. Freilich können wir ihn fragen; doch auch seine Aussage ist uns einsichtig (oder auch nicht), ohne daß wir aus unserer Umwelt heraustreten könnten, um sie von einem neutralen Ort aus zu überprüfen.

Wie bekannt, könnte uns eine neutrale oder objektive Weltbeschreibung ohne Verwendung der Ich-Aussage weder einen Nachweis der Tatsache erbringen, daß es sich bei dem Bekannten, den ich auf der Straße erkenne, um MEINEN Bekannten handelt, noch einen Nachweis der Tatsache, daß es sich bei der Person, die den Passanten auf der Straße als ihren früheren Bekannten erkennt und anspricht, um MICH handelt.

Erinnerungen nennen wir die Vorkommnisse der Vergangenheit, die wie die Farben der Dinge in unserem Gesichtsfeld mit ihrer Tönung, Stimmung und Bedeutung unmittelbar zu uns sprechen; ein an Demenz Erkrankter liest die Briefe seiner Jugendliebe, doch die Blätter bleiben ihm nichtssagend und gleichsam leer.

Wir können den Grad der Bewußtheit sprachlicher Äußerungen beispielsweise nach dem Grad skalieren, in dem wir für sie zur Verantwortung gezogen oder haftbar gemacht werden können, wie bei einem Versprechen, einer geschäftlichen Abmachung, einer Verleumdung, einer vorsätzlichen Lüge, einer Falschaussage vor Gericht, einem Meineid.

Das Bewußtsein ist wie der Schein einer Taschenlampe, mit der wir uns im Dunkeln orientieren; freilich, die Dinge um uns sind vorhanden, auch wenn wir sie nicht beleuchten. Doch uns sind sie nur so gegeben, daß wir sie frontal oder seitlich, als Momenteindruck oder im zeitlichen Wandel, im Ganzen oder im Detail, als Ding oder Zeichen, als Maske oder Gesicht betrachten.

Vom Logischen können wir nur einsehen, daß es da ist; und ebenso vom Subjekt.

Was außerhalb des Lichtkreises liegt, tangiert uns nicht; es ist nicht wie im Freudschen Unbewußten auf gespenstische Weise abwesend und doch anwesend.

Die Dinge tauchen gleichzeitig mit dem Ich aus dem Nichts auf.

Die Dinge sind, was sie sind, kraft der Negation alles dessen, was sie nicht sind.

Wir können nicht mit den Augen und dem Bewußtsein eines anderen sehen.

Unsere subjektive Sicht oder unser Bewußtseinspol besteht nur als dynamische Negation aller anderen möglichen subjektiven Sichten und Bewußtseinspole.

Lesen wir von fremdem Leben, in Biographien, historischen Berichten oder Romanen, sehen wir nicht die zeitlich oder fiktiv entrückte Figur an unserer statt, sondern uns an ihrer statt.

Die Kosmologie, die Physik, die Biologie, die Evolutionstheorie, die Soziologie geben uns objektive Berichte über Dinge und Ereignisse, in denen wir nicht als wir selbst, sondern nur als marginale Repräsentanten und Schemen theoretischer Entitäten vorkommen.

Wir leben nicht nur, sondern erleben unser Dasein mehr oder weniger klar oder dunkel, spezifisch wie den wahrgenommenen Farbton oder diffus wie das Schneelicht.

Das Erleben ist mehr oder weniger bewußt; dabei unterscheiden wir vorsprachliche und außersprachliche Regionen des Erlebens von solchen, die von unserem Sprachvermögen abhängen.

Die Quelle oder das Objekt des nichtsprachlichen Erlebens können wir sprachlich durch Angabe eines Gegenstands bezeichnen, der als direktes oder indirektes Objekt oder als präpositionaler Ausdruck eines Satzes erscheint: „Ich spüre die Kälte in der Hand.“ – „Ich bin dem Hindernis noch rechtzeitig ausgewichen.“ – „Ich fühle Schmerzen in der Hand.“

Die sprachabhängigen Erlebnisse nennen wir Gedanken; sie kennzeichnet eine propositionale Form, die wir mittels eines Hauptsatzes ausdrücken, dessen Prädikat meist eine Weise des Merkens, Spürens, Fühlens, Denkens oder Sagens bezeichnet; den Inhalt des Gedanken (des Merkens, Spürens, Fühlens, Denkens oder Sagens) drücken wir in einem vom Hauptsatz abhängigen, mit einer Konjunktion eingeleiteten Nebensatz aus: „Ich bemerkte, daß sich seine Miene verdüsterte.“ – „Es kam mir so vor, als ob die Zeit während unseres Ausflugs wie im Fluge vergangen war.“ – „Ich fragte mich angesichts seines Grinsens, ob er mich nicht hinters Licht führen wollte.“ –­ ­ „Ich sagte ihr, daß ich es für verlorene Zeit hielte, wenn wir unser Gespräch fortsetzten.“ – Es ist bemerkenswert, daß viele der genannten Prädikate des Hauptsatzes im Lateinischen jene verba sentiendi et dicendi darstellen, die anders als im Deutschen ausschließlich mit dem a. c. i. konstruiert werden.

„Ich spüre Schmerzen in der Hand“ – dies kann auch einer sagen, dem die Hand amputiert worden ist. „Ich fragte mich angesichts seines Grinsens, ob er mich nicht hinters Licht führen wollte“ – dies kann auch der Ausdruck einer Täuschung sein, wenn der Gesprächspartner aufgrund einer Verletzung der Gesichtsnerven eine hämische Miene zur Schau stellt. Demnach stellen sowohl die Sätze, mit denen wir sprachunabhängige Erlebnisse ausdrücken, als auch die Sätze, mit denen wir sprachabhängige Gedanken darstellen, intensionale Kontexte dar.

Intensionale Kontexte sind ein semantisches Merkmal unseres subjektiven Lebens.

Wenn wir unsere Äußerungen über Erlebnisse, sei es nichtsprachlicher, sei es gedanklicher Natur, in einer Weise modifizieren, daß sie die Wahrheitsbedingungen extensionaler Kontexte erfüllen, verwandeln sie sich von Äußerungen des subjektiven Lebens und Erlebens in Aussagen über objektive Sachverhalte. Aus dem Satz: „Ich spüre Schmerzen in der Hand“ wird nunmehr ein Satz wie: „Aufgrund einer akuten Verbrennung der Haut an der rechten Hand wurden Nervenfasern verletzt, was den Patienten zu der Äußerung bewog, er verspüre Schmerzen.“ – „Aufgrund der Aktivierung bestimmter Hirnareale, von welchen die amputierte Hand repräsentiert wird, erfährt der Patient nervliche Impulse, die ihn zu der Äußerung bewegen, er verspüre Schmerzen.“

Das Erlebnis der Schmerzempfindung wird im objektiven medizinischen und neurologischen Bericht zur Diagnose von Phantomschmerzen. In letzter Konsequenz der Neutralisierung des intensionalen Kontextes müßte der Begriff „Schmerz“ durch einen objektiven Begriff wie „neuronales Ereignis XYZ“ ersetzt werden; doch diese Form von Übersetzung wäre nur zu leisten, wenn wir den subjektiven Begriff adäquat durch einen objektiven Begriff wiedergeben könnten. Dies ist freilich unmöglich, denn „Schmerz“ bedeutet etwas vollkommen anderes als „neuronales Ereignis XYZ“. Aber auch wenn wir es könnten, müßten wir das Verständnis des subjektiven Schmerzbegriffs und also das Erlebnis von Schmerzen voraussetzen.

Wir finden keinen alle Teile und Formen unseres Erlebens umspannenden Gesamtsinn; es ist wie bei einem bemalten Fächer, ganz ausgefaltet zeigt er vielleicht ein hübsches Blumenmuster, doch mehr und mehr eingeklappt läßt er nur seltsame Flecken erkennen, zugeklappt wie naturgemäß im Endzustand ist er gleichsam bedeutungslos und blind.

 

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