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Sprachdenken

21.01.2021

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Wir nennen einen mimischen, gestischen oder sprachlichen Ausdruck gezwungen, übertrieben, forciert oder einfach falsch, wenn es sich um eine Pose handelt, die nach der Aufmerksamkeit eines realen oder imaginären Publikums schielt. Dabei kann es sich um einen erhofften Applaus oder eine befürchtete Zurückweisung handeln.

Furcht vor möglicher Zurückweisung ist eine gesteigerte Form der Furcht vor fremden Blicken. Wir nennen den mimischen, gestischen oder sprachlichen Ausdruck dieser Furcht Verlegenheit.

Verlegenheit ist oft die giftige Frucht einer überscharfen Selbstbeobachtung

Die seelische Quelle des Ausdrucks, der weder eine Pose noch verlegen ist, sind wir versucht, Einfalt, Schlichtheit des Gemüts und Naivität des Empfindens zu nennen.

Aber das kann täuschen; denn Einfalt, Schlichtheit, Naivität des Empfindens kann die mittels raffinierter poetischer und musikalischer Technik hervorgerufene Suggestion eines Kunstliedes sein, das den vollkommenen Ausdruck eines Volksliedes angenommen hat; wie der Dichter der heiteren Melancholie in seinen Fêtes galantes den verwöhnten und gelangweilten Damen ins Mondlicht getauchte Blüten in den Schoß wirft und den Hofschranzen das lüsterne Wehen des Schäferkleides überstülpt.

Wir nennen als Beispiel artifiziell-naiven Ausdrucks das Lied „Komm, schöner Mai, und mache/die Bäume wieder grün/und laß mir an dem Bache/die kleinen Veilchen blühn“, dessen Originalversion von Christian Adolph Overbeck stammt und das in der von Joachim Heinrich Campe modifizierten Liedfassung von Mozart vertont worden ist.

Das Wort Naivität hat dasselbe Etymon wie Natur; es wäre reizvoll, dem Gedanken nachzugehen, warum die echte oder kunstvoll nachgeahmte Naivität der Volks- und Kunstlieder ein solch bezwingendes Merkmal deutscher Dichtung und Musik darstellt.

Naivität des Empfindens kann der Quell schlichten dichterischen Singens und Sagens, Naivität des Ausdrucks kann aber auch das ästhetische Ziel und der bewußte Zweck der mit kunstvollen Techniken operierenden Dichtung und Komposition sein.

Goethe hat die Echtheit, urtümliche Kraft und Archaik des naiven Empfindens, das er aus dem dunklen Brunnen des Selbstgefühles schöpft, und zugleich die Subtilität und virtuose Wendigkeit, womit er noch den schlichtesten Ausdruck wie den der Abendstille ins Grandiose, Lichtvolle, Geistige, in ein Clair-obscur sublimer Schattenranken hebt.

Die faden und schalen, aber auch die allzu scharfgewürzten Erzeugnisse der zeitgenössischen Lyrikköche, und hier ist Gendern allemal geboten, vor allem der sudelnden und panschenden Lyrikköchinnen, sind Ergebenheitsadressen und devote Posen vor dem unsicheren, bildungsfernen, wurzellos und anämisch gewordenen Kunstgeschmack eines Publikums, dessen Applaus ihnen die hochdotierten Preise des Literaturbetriebes sichert und damit ihre Daseinsfristung in der Komfortzone der hell illuminierten Akademien und gut geheizten Lyrikkabinette, in die kein Schatten, kein kalter Hauch des Ungeheuers namens Leben dringt.

Overbecks und Mozarts Kinderlieder atmen die würzige Luft der durch Rousseau entdeckten oder doch erstmals mit zarten Wasserfarben hingetupften Landschaft der Kindheit, die noch nicht vom Wegenetz der Zivilisation durchschnitten ist.

Der Psychologe Wilhelm Stern, der gemeinsam mit seiner Frau erstmals empirische und systematische Beobachtungen zur Entwicklung der Kindersprache anhand des Spracherwerbs der eigenen Zöglinge unternommen hat, berichtet, wie seine kaum einjährige Tochter auf die Äußerung „Ticktack“ ihre Blicke in Richtung der tickenden Uhr gewandt hat; wenig später vermochte das Kind die Uhr mittels dieser Lautäußerung selbst zu benennen. Entscheidend für den systemisch und endogen gesteuerten Fortgang der sprachlichen und geistigen Entwicklung des Kindes ist aber der Umstand, daß es den Namen unabhängig von der akustischen Reizquelle zum Hinweis auf die im Jackett des Vaters verborgene Taschenuhr anzuwenden lernte.

Wir berühren hier eine der Quellen des Gedankens, wie er sich in der Sprache darstellt: die Begriffsbildung; die andere Quelle, die Prädikation, zeigt sich in den Einwortsätzen, wenn das Kind alles, was vier Beine hat, ob Hund, Katze oder Pferd, als „Wauwau“ bezeichnet und damit meint: „Sieh mal, ein Wauwau!“

Die Einheit von Begriffsbildung und Prädikation, wie sie die logische Notation in der simplen Aussagefunktion F(a), sprich: Der mit a gemeinte Gegenstand hat die Eigenschaft F, darstellt, ist demnach eine frühe kognitiv-sprachliche Leistung des Kindes; sie stellt somit die romantische Annahme seiner infantilen Einfalt in Frage.

Das frühe Keimen und Sprossen des sprachlichen Gedankens oder Sprachdenkens, deren ausgewachsene Blüten im Garten unserer Sprachkultur gedeihen, macht die Vorstellung von der vorzivilisatorischen Wildheit des Kindes, wie wir sie bei Rousseau und den in seinen Spuren wandelnden Romantikern finden, zumindest fragwürdig.

Der ausgewachsene Gedanke situiert sich als Kreuzungspunkt in einem unübersehbaren Netzwerk von Gedanken, dessen Ränder gleichsam in der Ferne des Virtuellen verschwimmen und dessen Mittelpunkt kein natürlicher Ort ist, sondern sich je nach den Anforderungen des gewählten Aussagesystems verschiebt. So gravitieren unsere Gedanken an einen Freund um die Begriffe von Freundschaft und Vertrauen, unsere Gedanken über die Strafwürdigkeit einer Tat um die Begriffe von Gesetz und Verantwortung, unsere Gedanken über Gedanken um die Begriffe des Objekts und seiner relationalen Eigenschaften.

Wenn das Kind mit „Wauwau“ Hund, Katze oder Pferd meinen kann, hat es schon vor der Spezifikation des Artbegriffs den Allgemeinbegriff verwendet. Wenn es mit „Ticktack“ die Wanduhr, die Taschenuhr und Kirchturmuhr meinen kann, hat es schon vor diesen Spezifikationen den Gattungsnamen „Uhr“ verwendet.

Aufgrund der Loslösung des Gedankens von unseren sensorischen Reizquellen und der unmittelbaren Wahrnehmungssituation vermögen wir den Begriff von Objekten zu bilden, die wie der Begriff unseres nach Amerika ausgewanderten Freundes reizunabhängige Kriterien der Identität aufweisen, und Dingen Eigenschaften zuzusprechen, wie die Eigenschaft zerbrechlich oder jähzornig zu sein, die reine Dispositionen, Virtualitäten und keine aktuellen Vorkommnisse darstellen.

Schon Kleinkinder wissen, wer gemeint ist, wenn sie aufgefordert, die Zunge herauszustrecken oder eine Klangfolge nachzusingen, dies ohne zu zögern, geschweige denn darüber zu reflektieren, tun; die Annahme, der Selbstbezug beruhe auf Reflexion, dem korrekten Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person Singular oder gar der Erfassung des Selbstbildes im Spiegel, ist Unsinn.

Daß wir dank spezifischer Sprechakte in der Lage sind, mittels Bildung von Begriffen den Gegenstand in die Welt zu setzen, den sie benennen, wie im Falle des Versprechens das Versprochene oder im Falle des Richterspruchs die Strafe, ist allerdings eine reife Leistung.

Auf diese Weise konstituiert die dichterische Sprache durch evokative, beschwörende Benennung den Gegenstand ihres Sagens; so sind die Veilchen Sapphos und Mörikes nicht jene, die uns der Spaziergang im hellen Frühlingslichte oder die botanische Klassifikation eines Linné vor Augen führt, auch wenn wir nur auf Basis solcher Wahrnehmungen und Belehrungen um das Vorkommen dieser Blumen wissen, sondern sie sind insofern gedichtet, als ihr Tauglanz an die Tränen um den fernen Geliebten, der zarte bläuliche Dämmer ihrer Blüten an die Schwermut des unglücklich Liebenden gemahnt; die Suggestion dieser Liebesdinge muß uns freilich nicht anhand einschlägiger Dokumente aus der Biographie des Dichters nahegelegt oder dokumentarisch bekräftigt werden.

Bei der Entwicklung der Kindersprache bemerken wir das allmähliche Hervortreten der Wortarten Demonstrativ, Substantiv und Verb und ihre Reihung zu Kurzsätzen wie „Dada Wauwau“ und „Puppa schlafen“; stufenweise folgen Interjektion, Nennung, Prädikation, und zwar noch ohne jedwede Flexion oder flektierende Verknüpfung.

Ein später Zug in der Sprachentwicklung sind die Markierung der syntaktischen Positionen der Wörter, in den flektierenden Sprachen mittels Flexionsbildung am Wortende, und die Markierung der syntaktischen Positionen der Sätze mittels Bildung von Satzgefügen durch den Gebrauch der Konjunktionen, Zeitformen und Verbmodi.

Erst mittels Satzgefügen sind wir in der Lage, durch Verknüpfung einfacher Gedanken komplexe Gedanken zu bilden und auszudrücken. Aus „Baby Milch“ und „Baby Schlaf“ wird „Baby trinkt Milch“ und „Baby schläft“; daraus „Baby hat Milch getrunken“ und „Baby schläft“; endlich der komplexe Ausdruck des komplexen Gedankens: „Wenn das Baby Milch getrunken hat, schläft es“ oder sogar: „Weil das Baby Milch getrunken hat, schläft es.“

Der Gebrauch der Negation und des irrealen Verbmodus macht es uns möglich, gedankliche Bedingungsgefüge faktischer und kontrafaktischer Natur zum Ausdruck zu bringen: „Obwohl das Baby seine Milch getrunken hat, schläft es nicht.“ – „Hätte das Baby rechtzeitig seine Milch bekommen, würde es jetzt schlafen.“

Es ist bemerkenswert, daß uns das Volkslied wie viele Lieder des „Knaben Wunderhorn“, aber auch das ihm nachempfundene und nachgebildete Kunstlied wie die Lieder Goethes und Eichendorffs syntaktisch schlichte Formen bieten, die auf komplexe gedankliche und grammatische Subordination Verzicht tun, während uns die große Lyrik wie in den Oden des Horaz oder den Hymnen und Elegien Goethes mit komplexen gedanklichen Verknüpfungen auf den verschlungenen, manchmal sich überkreuzenden, manchmal im Dickicht sich verlierenden Pfaden einer gleichsam rankenden Syntax überrascht.

Wir scheinen nur denken oder etwas in die Form des Gedankens fassen zu können, was sich auf die formalen Strukturen syntaktisch wohlgebildeter und semantisch nicht leerer Sätze und Satzgefüge abbilden und reduzieren läßt. Auch komplexe Gedanken zweiter Ordnung müssen diesen Anforderungen genügen; so können wir den komplexen Ausdruck „Peter glaubt, sein Freund Hans habe ihn verraten“ in die formale Struktur auflösen: „Peter glaubt: Hans ist sein, also Peters, Freund“ und: „Peter glaubt, Hans habe ihn selbst, Peter, verraten.“

Inkonsistente Gedanken sind keine; Peter kann nicht glauben, er sei eine andere Person als diejenige, die von sich sagen könnte, er glaube oder glaube nicht, daß dieser oder jener Sachverhalt besteht.

Peter kann nicht glauben, sein Freund Hans habe ihn verraten, wenn er die Semantik des rückbezüglichen Pronomens „ihn“ nicht beherrscht; andernfalls könnte er zu glauben kundtun, Hans habe einen anderen, nicht ihn selbst, verraten.

Wir können unseren Selbstbezug rein gestisch zum Ausdruck bringen, wenn wir als kleiner Pimpf, vom Lehrer aufgerufen, aus der Reihe treten; doch wenn unser Selbstbezug in einen komplexen Gedanken eingebettet ist, wie in den Gedanken, daß wir glauben, unser Freund habe uns verraten, müssen wir die formalen Strukturen der Sprache zu Hilfe nehmen.

 

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