Das Licht des Logos
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Im Dunkeln tasten wir unsere Umgebung bisweilen mit einer Taschenlampe ab; wir leuchten den Pfad aus, auf dem wir sicheren Schrittes an unser Ziel gelangen wollen. Vernehmen wir ein ungewöhnliches Geräusch, richten wir den Strahl in die Richtung seiner Herkunft, um uns zu vergewissern, ob nicht etwa Gefahr droht oder ein Fremder uns auflauert. Doch es war nur ein knackender Ast, es waren nur Tropfen, die vom Blattwerk fielen, als ein Vogel sich dort niederließ.
So tasten wir mit dem Organ unserer Sprache den Unbekannten ab, der uns im Dunkel auf dem verwaisten Bahnsteig anspricht.
Im Licht unserer Fragen sollen der Unbekannte und das Unbekannte sein Profil, sein Gesicht zeigen.
Der Fremde ist nicht nur eine Quelle der Verunsicherung, sondern begegnet uns in der Rolle des Prüfers, Sachverständigen und Richters als Instanz des Vertrauens, nämlich eines erwarteten und erwünschten objektiven Urteils, das nicht durch Bestechung oder verwandtschaftliche Voreingenommenheit getrübt und zurechtgebogen ist.
Der Junge, der sich im Dickicht verirrt hat, ruft laut und immer lauter nach dem Vater, mit dem er sich am Morgen zu einem kleinen abenteuerlichen Ausflug aufgemacht hat. Sein Ruf hat die allgemeine kommunikative Gestalt, die wir so wiedergeben können: „Ich bin jetzt hier.“ Wir treffen auf die von Karl Bühler so genannte Origo im deiktischen Zeigefeld der Sprache.
Wir können das sprachliche Zeigefeld mit dem Sehfeld vergleichen: Eine Figur hebt sich stets von einem Hintergrund ab, ein Sagen vor dem Hintergrund des virtuell Sagbaren.
Unsere Rede wirft ein bestimmtes Licht auf die Dinge; sie mögen uns von einer diffusen Aura des Geahnten, Bedrohlichen, Geträumten umgeben oder mit scharfer, harter Kontur entgegenblicken.
Unser Sprach-Licht ist stets von einer Dunkelheit umgeben, deren Anwesenheit in den Schatten spricht, die zwischen unsere Wörter und Sätze fallen. Die Dunkelheit spricht vernehmlicher im Wort der Dichtung; kündet vom endgültigen Verlöschen, vom Vergessen, vom Schweigen.
Paradies: immerwährende Festbeleuchtung, purpur-goldener Glorienschein auf Lobgesanges ewigem Wellenschlag oder schattiger Garten wolkenartiger Alhambra, wo das selige Seufzen des Wassers, auf dem sich Orchideenblüten wiegen, bisweilen vom Kreischen barbusiger Jungfrauen unterbrochen wird – dann doch lieber das Dunkel, das Schweigen, das Nichts.
Die Antwort muß zur Frage passen wie das sich auftuende Schloß zum passenden Schlüssel.
Der Dialog besteht aus Variationen auf das Thema „Frage und Antwort“. Er bleibt wie öfters bei Sokrates aporetisch, wenn der Frager nicht befragt werden will oder die Welt des Befragten in Frage stellt.
Liebeszeichen sind wie zerbrochene Symbola, Ringe, die jeweils nur an den Bruch- und Nahtstellen zusammenpassen.
Wie der Maler mit den Farben auch Licht und Schatten verteilt, weiß der Dichter sublimer Gebilde das Licht des Wortes unter die Ranken des Verschwiegenen zu streuen.
Bisweilen ist das nicht ausdrücklich Gesagte, das dunkel Gelassene, der eigentliche Grund des Gedichts.
Das allzu deutlich Gesagte, das viel zu grell Beleuchtete, wirkt trivial und aufdringlich.
Gedichte, die uns unter dem Überhang aufgeblähter Metaphern oder mit dem Schattenspiel rätselhafter Assoziationen Botschaften übermitteln wollen, die sich wie die Frequenzen alter Radioempfänger im Rauschen gegenseitig auslöschen.
Der unwillkürliche Ruf des Kindes, das sich im Dickicht verirrt hat, ist zugleich Ausdruck der Hilflosigkeit und Appell, der Vater möge es finden und ihm beistehen.
Die schmerzliche Gebärde des sterbenden Galliers (in der hellenistischen Plastik) ist nur Ausdruck und kein Appell; die Kunst isoliert das Ausdrucksmoment, gleichsam durch Theatralisierung oder Inszenierung.
Weil sie des Appellcharakters entbehrt, können Kunst und Dichtung das Ausdrucksmoment bisweilen in einem Maße steigern, forcieren und übertreiben, wie es uns im gewöhnlichen, nicht inszenierten Alltag manieriert und aufdringlich, ja maskenhaft und lügnerisch anmuten würde.
Luthers Bibelübersetzung ist, wie er es selbst auffaßte und empfand, das aus dem Flammenquell des Heiligen Geistes angezündete Sprach-Licht, das über die Deutschen kam – und blieb, solange ihre Dichter es in ihre Werke aufnahmen und sie als Lampen für den Lebensweg in der Finsternis dieser Welt weiterreichten.
Charakterisierung der Gegenstände mittels Spezifikation und Prädikation ist die vorzügliche Leistung der darstellenden oder symbolischen Funktion der Sprache; „Rose“ ist spezifischer als „Blume“, „purpurfarben“ sprechender und charakteristischer als „rötlich“. Darstellungen können aus sich selber leuchten, ohne die sprachlichen Funktionen des Ausdrucks und Appells zu bedienen. Stifters Nachsommer ist eine reine Darstellung stillen Daseins mittels Charakterisierung der in ihm kaum handelnden, nur atmenden Personen, der sie einhüllenden Duft- und Blütenschalen und der sie ins Dämmerlicht tauchenden Schattenranken der Erinnerung.
„Zu nahe treten“ ist prosaisch; „aufs Fell rücken und am Zeug flicken“ ist idiomatisch, körnig, charakteristisch, es ist der Unterschied von Zeitungsdeutsch und der Sprache Goethes oder Gottfried Kellers.
Der Hilferuf des Knaben ist keine Beschreibung seiner Hilflosigkeit. Erst wenn das Kind dem herbeigeeilten Vater erzählt, wie es in die mißliche Lage geriet, kommt die Sprache zu ihrem Recht symbolischer Darstellung.
Die poetologische Verknüpfung der dichterischen Gattungen des epischen Erzählens, des lyrischen Ausdrucks und des dramatischen Appells mit den Bühlerschen Sprachfunktionen, wie sie Emil Staiger geistreich und profund vorgeführt hat, mag sie in der Durchführung auch bisweilen forciert wirken, ist mehr als die bedächtige Auffächerung eines scharfsinnigen Aperçus.
Das Licht des Logos, das, wie es der alte Ritus der Osternacht vergegenwärtigt, in die Finsternis der Welt eingeht, wird weniger von der menschlichen Rede gespiegelt als vom preisenden Gesang des Hymnus.
Uns blieben die bang im Nachtwind flackernden Lichter auf den Gräbern der Ahnen.
Die billigen Wahrheiten des Marktes sind gemessen an jenem Sprachleib aus Licht Schatten, die nicht nähren.
Die Kerze, die am Osterfeuer entzündet und mit den Emblemen der Erlösung versehen wird, ist im Sinne des Organon-Modells der Sprache Karl Bühlers aufgefaßt ein darstellendes Symbol des Logos, ein Ausdruck der göttlichen Liebe und den Frommen ein Geheiß, ihre Herzen daran zu entzünden.
Das Organon-Modell der Sprache können wir auch auf nonverbale rituelle Zeichenhandlungen anwenden.
Die kurze Linie der Kommunikation zwischen Ausdruck und Appell (Hilferuf des Kindes) vermag den engen, auf das gegenwärtige Umfeld ausgerichteten Horizont nicht zu überschreiten; anders die Erzählung oder der Bericht des Kindes, wie es in die mißliche Lage geriet. Die kurze Linie finden wir auch im Tierreich, nicht aber die darstellende Funktion der Sprache, den eigentlichen Logos der Sprache.
Indes müssen wir die antike Auffassung des Logos als unterschiedsloses Zeichen oder transparentes, mittels dialektischer Kritik gereinigtes Glas, durch das wir die Gegenstände und Sachverhalte in ihrem Dasein und Sosein erblicken, aufgeben; denn wir können die Rechenoperation 2 x 2 = 4 nicht ausführen oder den Gedanken „Ich glaube, auf der anderen Straßenseite geht mein Freund Peter“ nicht denken, ohne die Zeichen, mit denen wir sie darstellen, zu verwenden.
Wir können außerhalb des darstellenden Universums und der symbolischen Ordnung der Sprache nichts meinen, glauben, hoffen oder befürchten.
Wir können nicht mittels Bildern oder Vorstellungen denken oder etwas meinen; wir könnten uns zwei oder vier Gegenstände vorstellen, aber nicht die Operation der Multiplikation als mentales Bild auffassen. Wir könnten uns vorstellen, wie dort unser Freund Peter entlanggeht, aber nicht uns vorstellen, daß wir glauben, er gehe dort. Die einzige Repräsentation oder Darstellung für die Annahme, den Glauben oder die Überzeugung, dort gehe unser Freund Peter, ist der Satz: „Ich glaube, dort geht mein Freund Peter.“
Wir bemerken, daß aufgrund der darstellenden Funktion der Sprache die Analogie zwischen Sehen und Sagen an ihre Grenze stößt; denn wir können natürlich über alles Mögliche sprechen, was wir nicht sehen wie über unseren in Amerika weilenden Freund Peter, was wir nie gesehen haben wie den Übergang Caesars über den Rubikon oder was wir nie sehen werden wie die Vernichtung der Erde bei der einstigen Expansion der Sonne.
Unsere Annahmen und Überzeugungen sind keine unmittelbaren Wirkungen physischer Ursachen; die Annahme, bei jener Person, die auf der anderen Straßenseite geht, handele es sich um meinen Freund Peter, kann falsch sein, denn es ist sein Zwillingsbruder Hans, dessen Wahrnehmung sich nicht merklich von der Wahrnehmung von Peter unterscheidet.
Was wir uns mit der Errungenschaft der darstellenden Funktion der Sprache einhandeln, sind die Möglichkeiten des Irrtums, von Fabel und Fiktion, aber auch der Lüge. Der in seiner Bedrängnis unwillkürlich um Hilfe rufende Knabe kann nicht irren oder lügen; doch der Kriminelle kann den Hilfsbedürftigen simulieren, um dem hilfsbereiten Passanten in die Tasche zu greifen.
Ursachen, wie sie die Neurowissenschaft und ihre gläubigen philosophischen Adepten für Überzeugungen ausfindig machen wollen, geben uns kein Kriterium für die Wahrheit oder Falschheit von Überzeugungen an die Hand, die mit ihnen korrespondieren; so die unwahre Überzeugung des Logikers Gödel, seine Frau reiche ihm ein vergiftetes Getränk, die dieselben neuronalen Muster zur Grundlage hat wie die wahre Überzeugung des Sokrates, der ihm gereichte Becher enthalte den tödlichen Schierling.
Schlichte Annahmen wie diejenige, dort gehe mein Freund Peter, implizieren eine unbegrenzte Anzahl an weiteren Überzeugungen, die wir nicht überschauen oder aus grundlegenden Prämissen ableiten können, wie die Überzeugung, Peter sei ein Bewohner dieser Stadt, die in Deutschland liegt, das ein Land im Nordteil der Erdkugel ist, die sich im Laufe eines Tages um sich selber dreht und dabei um die Sonne rotiert, die ein Stern innerhalbe der Milchstraße ist, die eine Galaxie unter unzähligen Galaxien des Universums ist …
Mathematische Berechnungen lassen sich mit unterschiedlichen Zeichensystemen wie dem arabischen oder dem digitalen darstellen, wenn sie nur jeweils wahrheitserhaltend ineinander transformierbar sind; ein medizinischer Befund läßt sich ohne Sinnverlust auf Deutsch, Englisch, Chinesisch oder Urdu wiedergeben. Aber das „Je ne sais quoi“ eines Mallarméschen Gedichts kann nur an diesem selbst erfahren werden, auch wenn der Deutsche, der Engländer, der Chinese oder Inder eine Übersetzungshilfe in seiner jeweilige Muttersprache zu Rate zieht.
Idealismus, Rationalismus und Aufklärung eint der Glaube, die natürlichen Sprachen seien gegen die Wahrheit und Relevanz des mitgeteilten Gedankens indifferent; der Fromme aber muß daran festhalten, daß die Mitteilungen der Botschaften des göttlichen Logos nicht zufällig auf Hebräisch, Griechisch und wie Luther und Hölderlin glaubten auf Deutsch erfolgt sind.
Die Möglichkeit des Irrtums und der Lüge, des Wahns und des Betrugs ist die dunkle Rückseite des Lichtes der Sprache, die wie der Schatten von der Quelle des Lichts und dem Gegenstand, der ihn wirft, nicht ablösbar ist.
Die Möglichkeit der Wahrheit und des Irrtums ist eine Folge der Ablösung der Aussage vom deiktischen Umfeld der sprachlichen Origo (ich, jetzt, hier): Ich kann dich auf die hinter der Wand im Nebenzimmer schlafende Katze nicht mittels Zeigegeste oder deiktischer Äußerung („Sieh mal, dort schläft meine Katze!“) hinweisen; aber ich kann es dir sagen („Im Nebenzimmer schläft meine Katze“). Freilich kann ich mich irren, und die Katze hat sich durchs offene Fenster längst aus dem Staub gemacht; ich kann dir etwas vormachen, falls ich gar keine Katze habe.
Die funktionalen Träger der sprachlichen Darstellung, die manche als Gedanken oder Propositionen von ihr ablösen wollen (doch dies scheint nicht möglich zu sein), sind Namen und Beschreibungen (deskriptive Ausdrücke); mit dem Namen „Bella“ kann ich auf meine Katze hinweisen, gleichgültig, wo sie sich gerade aufhält (ja, auch wenn sie gestern gestorben sein sollte); mit dem deskriptiven Ausdruck „die Stadt, die am Zusammenfluß von Rhein und Mosel liegt“ kann ich auf die Stadt namens Koblenz verweisen. Mit dem Ausdruck „Zusammenfluß von Rhein und Mosel“ beziehe ich mich nicht wie mit „Bella“ und „Peter“ auf einen raumzeitlich abgegrenzten Gegenstand, sondern auf ein raumzeitlich kontinuierliches Ereignis. Zusammenflüsse sind Ereignisse, die durch viele Stoffe und Raum-Zeit-Koordinaten exemplifiziert werden können (Milch und Kaffee in dieser Tasse; Lava und Rheinwasser beim Ausbruch des Eifelvulkans vor 11.000 Jahren).
Mit Ausdrücken wie „ich glaube, Peter glaubt“ kann ich auf Einstellungen und Überzeugungen anderer Personen hinweisen; anders als bei Ausdrücken wie „ich glaube, Peter hat Schmerzen“ habe ich bei der Bezugnahme auf die Gedanken und Einstellungen anderer Personen kein eindeutiges Kriterium ihrer Rechtfertigung durch die Beobachtung ihres Verhaltens. Peter weicht mir auf der Straße aus; ich glaube, er hat ein schlechtes Gewissen, weil er auf meine Einladung nicht geantwortet hat; aber er ist nur in Eile und hat mich gar nicht gesehen.
Tiere verständigen sich auf Basis des Signalaustausches im unmittelbaren Aktionsumfeld; der Ruf des Nestlings kontrolliert das Brutverhalten der Elternvögel; der Schrei des Murmeltiers warnt die Verwandten vor dem Herannahen des Beutegreifers. Aber der Jungvogel teilt den Altvögeln nicht mit, wie es um ihn steht wie das Kleinkind, wenn es sagt „Peter Durst“; das Murmeltier verfügt weder über einen Namen noch eine Beschreibung für den Adler.
Die menschliche Sprache ist daher nicht, wie viele meinen, nur eine Funktion kommunikativer Verständigung; sie ist wohl in diese durch eine Vielzahl von sprachlich vermittelten Handlungen eingebettet, aber ihre eigentümliche Leistung ist die symbolische Darstellung.
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