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Spiegelschrift

07.06.2022

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Auch Flocken, die schweben, fallen.

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Er wähnt, mittels hochtrabenden Geschwätzes zu faszinieren und zu bannen, sie schlägt die Augen auf und alle Knappen knien.

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Dichtung, die nicht tröstet und lindert und erleuchtet (auch wenn sie schneidet oder sticht oder Schleier webt), bliebe besser ungeschrieben.

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Der aufgeklärte Simpel meint, Philosophen wüßten mehr als der Alltagsverstand.

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Wer sich in einen falschen Körper und ein fremdes Geschlecht verhext glaubt, lebt in einem bösen Zauber, von dem ihn auch kein Medizinmann befreien kann.

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Das Unerreichbare zu wünschen – Quelle des Kummers (wie die Stoiker und Weisheitslehrer wußten); und doch Adelszeichen auf einer von der Muse geküßten oder doch gestreiften Stirn.

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Und dennoch, törichtes Menetekel auf den Mauern des Campus, damals: „Exigeons l’impossible“.

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Enttäuschung durch Erfüllung.

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Ein Mann kann keine Frau werden; das Kriterium des Frauseins besteht in der Fähigkeit, empfangen und gebären zu können.

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Das Gehirn des Mannes ist anders aufgebaut und vernetzt als das Gehirn der Frau (vom hormonellen Kreislauf zu schweigen); würden die Neuroingenieure sich aber dahin versteigen, Gehirne zu transplantieren, wüßten die Opfer nicht mehr, wer sie waren.

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Man redet sich selber nicht mit „Ich“ an. – Man fragt nicht nach sich.

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Man fragt sich wohl: „War ich vor zwei oder drei Tagen im Park?“ Oder: „War ich vor drei Tagen im REWE oder im Aldi?“ Aber nicht: „War ich es, der vor zwei oder drei Tagen im Park war?“ – „War ich es, der vor drei Tagen im REWE oder Aldi war?“

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Kennt die Physik auch kein natürliches Vakuum, die Dichtung weiß von der leeren Zeit und dem unerfüllten Augenblick.

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Wie jäh der Blitz des Blickes, wie lang der Wunde Brand.

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Schatten des Gefühls, Erinnerung.

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Hoher Schnee, der die Nacht erhellt. Dunkel das glucksende Wasser der Tiefe.

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Zeus zieht die Brauen hoch. Der Aphrodite Wimpern zucken.

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Großvater ging mit mir den Weg „Überm Rath“ nach Güls zu den Moselfischern. Das Schäumen und Klatschen der Flossen im Bottich. – In der Badewanne die sich träge zu Tode ringelnden Schatten.

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Ares und Eros: Die Grenzen zwischen Tag und Traum, zwischen Grausamkeit und Glanz, Verbrechen und Ruhm verschwimmen.

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Dem Kurzsichtigen wird alle Ferne ein vages Ungefähr, er blickt verstohlen zur Seite, ruft eine unbekannte Gestalt ihm von der anderen Straßenseite zu.

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Zu weich das Schülerherz für solche Küsse.

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Zu herb das Dichterherz für solche Phrasen.

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Genrebild mit Mutter als junges Mädchen. Spätsommernachmittag, im Arm hängt der geflochtene Korb mit frisch gepflückten Birnen, Äpfeln. Sie wischt sich mit der freien Hand die Locken aus der heißen Stirn, verlegenes, kokettes Lächeln.

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Freizeitlatschen, Jogginghose. Er geht zu den steinernen Delphinen des Brunnens im Park, aus deren gestülpten Lippen der saumselige Strahl herniederplätschert. Er zückt sein Smartphone, hält es kurz hin, und schleicht von dannen, ohne etwas gesehen, etwas gehört zu haben.

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Barbarisierung der Sinnlichkeit durch Technik. Schnelle Fahrten, optische Strudel und visuelle Siphons, von denen die Bilder der Landschaft verschluckt werden. Das äonenlange Rauschen der Motoren, sein Sieg über das Rauschen des Wassers, der Brunnen, Sieg des Pfeifens der Fabriksirenen über das Schluchzen der Nachtigall. Der Triumpf des Asphalts über das Gedächtnis der Gräser. Das kalte Flackern der Bildschirme, seine zersetzend-verödende Wirkung auf die Anschauung der Bildnisse alter Meister.

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Die Anmut Mozarts ist keine artistische Allüre, kein musikalisches Konstrukt, keine Erfindung.

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Der Schatten wandert mit den Sonnenuhren, und mit ihm, daß wir Wehmut fühlen, Erleichterung atmen, die Schönheit, der Schrecken.

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Cäsar hat den Ruhm der Romania, Napoleon den Makel des brennenden Moskau.

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„Nachtigall“ ist die allgemeine zoologische Bezeichnung einer Vogelart und die poetische Evokation einer singulären Empfindung.

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„Gender“ ist nicht der Name eines Begriffs, sein hemmungsloser, mit gesinnungsterroristischen Sanktionen bewehrter Gebrauch ist vielmehr das Kennzeichen einer kollektiven Hysterie.

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In der Spätromantik gab es hierzulande das seltsame Phänomen der Sonettenwut, ausgetragen unter alten bärtigen Barden wie dem Schulmeister Voß und den gelehrten Schulfuchsern der Gebrüder Schlegel, die so rasch erlosch, wie sie aufgeflammt war; in Japan ereifern sich allerorts schon die kleinen Kinder, sich im Verfertigen der subtilen Gedichtform des Haiku zu übertreffen.

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„Freie Presse“, „objektive Medienberichterstattung“, „der Wahrheit verpflichteter Journalismus“ – contradictiones in adiecto. Es sind die Götzen und Schibboleths der meist verbeamteten Vertreter einer parasitären Kaste, die desto mehr sich als unverzichtbare Avatare der höheren Moral ins Rampenlicht stellen und die eigenen Fleischtöpfe füllen, je mehr sie ihre Berichte über das Elend der anderen mit scharfen rhetorischen Gewürzen garnieren oder unter geschickter Verwendung zweideutiger Bilder und Phrasen zu ihre höchsteigene Betroffenheit ausstellenden Sensationen hochstilisieren.

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Wo die Medien, Theater und Ausstellungshallen, die Kindergärten, die Schulen und Hochschulen, vor allem die angeblich freier Künste, staatlicher Aufsicht und ideologischer Kontrolle unterliegen, steigen aus den Sümpfen niederer Begabungen die widrigen Dämpfe der Vulgarisierung des Geschmacks, der Verwilderung handwerklichen Könnens und der pubertären Verunglimpfung der Überlieferung empor.

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Als es noch keine Presse gab und keine sogenannte Vierte Macht im Staat, schrieb Horaz seine Oden und Vergil die Aeneis, als es jedenfalls keine freie Presse gab, Goethe den Faust II und Hölderlin seine Hymnen. – Der nicht der Zensur, sondern einer Hofintrige zum Opfer gefallene und ans Schwarze Meer verbannte Ovid schrieb dort seine „Tristia“.

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Wege, die durch eine imaginäre Wildnis führen, kennen wir weniger aus der Prosa als der Dichtung; wir meinen die weinfarbenen Wogen, in die der Kiel des homerischen Hexameters seine schäumenden Furchen zieht, oder die schwarzblauen Strudel im Haar der Geliebten, dessen betörendem Duft der Vers des Dichters nicht widerstehen kann, sich auf die Inseln der glücklichen Hesperiden entführen zu lassen.

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Der Hund ist der Gefährte des Erzählers auf den schön gebahnten Wegen ihrer gemeinsamen Wanderungen, und pfeift das Herrchen, läuft er freudig herzu und legt ihm einen Tannenzapfen aus der nahen Schonung oder eine wohlduftende Nuß aus dem Gras der heimischen Erde zu Füßen. Die Katze ist die Gefährtin des Dichters, streicht sie auch gern ihm ums Knie und liegt ihm bisweilen, wenn er schreibt, im Schoß, bleibt sie doch anders als der Hund im Wesen ungezähmt und fremd, denn spricht Treue aus den Augen des Hundes, so ein dunkles Rätsel aus denen der Katze, ein Rätsel, das demjenigen des lyrischen Gedichts nicht von ungefähr ähnelt.

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Der Dichter liest die Seele der Welt in der Spiegelschrift des Wassers; anders als der Himmel der Wolken ist das Blau des Wassers Innerlichkeit und Traum, und in seiner unwirklichen Tiefe sind das Seufzen des Sommergrases und das Stöhnen des Novemberwinds schon verstummt. Und jene Augen, die ihm am Ufer des Sees, beugt er sich tiefer herab, entgegenblicken, erkennt er nicht als seine eigenen, sondern als die einer abgelebten Gestalt seines Daseins, und die Träne, die ihr rinnt, ist nicht das Zeichen der Trauer, sondern der Ergriffenheit der Wiederbegegnung mit einem verloren Geglaubten. Wie das Bild verschwimmt, wenn sie fällt, zählt auch er sich den Verlorenen zu.

 

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