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Sinnbezüge

15.03.2018

Philosophische Bemerkungen zur Grammatik von Wahrnehmungsaussagen

Wie wir sagen, daß wir an demselben Ort des Gesichtsraumes nicht gleichzeitig einen schwarzen und einen weißen, einen grünen und einen roten Fleck sehen können, so sagen wir, daß wir nicht gleichzeitig aus ein und derselben Schallquelle einen tiefen und einen hohen Ton (tief und hoch entsprechend der von uns gewählten Tonskala) hören können; wohingegen wir natürlich gleichzeitig einen tiefen und einen hohen Ton aus zwei verschiedenen Schallquellen hören können, nämlich einen Akkord.

Anders auf dem Feld der sich überkreuzenden Wahrnehmungen. Denn wir bemerken, daß unsere Sinnesfelder sich mehr oder weniger überschneiden oder vollständig überlappen oder daß unsere Wahrnehmungsräume mehr oder weniger vollständig ineinandergeschachtelt sind. Wir hören, was wir sehen, wir sehen, was wir hören. Wir riechen, was wir sehen, wir riechen, was wir schmecken.

Betrachten wir folgende Aussagen über Wahrnehmungserlebnisse:

Wir sehen Wasser aus einem Wasserhahn rinnen oder in einem Brunnen als Fontäne aufsteigen und hören gleichzeitig das schäumend-zischende Geräusch, wenn das Wasser auf das Becken herabstürzt.

Wir sehen das Laub des Baumes stark aufgerührt vom Wind und hören gleichzeitig das Rauschen der Blätter.

Wir sehen die Flammen im Kartoffelfeuer züngeln und hochschlagen und hören gleichzeitig das Knistern und Prasseln der brennenden Reiser.

Wir sehen ein Auto an uns vorüberrasen und hören etwas zeitversetzt das Heulen des Motors.

Wir sehen den Blitz und hören mehr oder weniger zeitversetzt den Donner.

Wir sehen die Rose und riechen gleichzeitig ihren Duft.

Wir schmecken die Süße der Erdbeermarmelade und riechen gleichzeitig den Duft von Erdbeeren.

Wir fühlen die Hitze der Herdplatte und verspüren gleichzeitig den Schmerz in der Hand.

Wir sehen die Bewegungen der Lippen unseres Gesprächspartners und hören gleichzeitig die von ihm artikulierten Laute.

Wir werfen hier einen kurzen Blick auf die Sinnbezüge zwischen den Sinnesfeldern und Wahrnehmungsräumen, die uns durch unsere Sinne und Wahrnehmungen erschlossen sind.

Sinnbezüge sind logische oder im Sinne Ludwig Wittgensteins grammatische Bezüge, keine physischen oder psychologischen Relationen, wie sie wissenschaftliche Forschung auf dem Gebiet der Physik und Psychologie zutage bringt.

So ist die Fähigkeit der synästhetischen Wahrnehmung, also die Fähigkeit, angesichts eines roten Farbeindrucks einen akustischen Ton zu hören, wie auch umgekehrt, mittels eines akustischen Eindrucks zum Sehen einer Farbe angeregt zu werden, eine psychologische Disposition, die gewiß mit neurologischen, also physischen, Abweichungen vom Nervenkostüm des Normalsterblichen übereinkommt.

Diese wissenschaftlich erforschbaren realen Bezüge sind KEINE Sinnbezüge, sondern statistisch erfaßbare Korrelationen, wie diejenige, die beschreibt, daß bei einer spezifischen neurologischen Sachlage spezifische psychologische Sachlagen wie das Sehen von Klängen oder das Hören von Farbeindrücken eintreten.

Daß es sich hier um keine Sinnbezüge handelt, die sich uns stets mit einem gewissen logisch-immanenten Zwang aufnötigen, sondern um akzidentelle Vorkommnisse und Relationen, ersehen wir aus der Tatsache, daß auch bei gegebener neurologischer und psychologischer Disposition synästhetische Wahrnehmungen ausbleiben können. Wie wir uns auch leicht vorstellen können, die Fähigkeit zu synästhetischen Wahrnehmungen zu besitzen und auszuüben, ohne durch eine spezifische neurologische und psychologische Disposition dazu veranlaßt worden zu sein.

Sinnbezüge dagegen lassen sich anhand der logischen Relationen von Sätzen angeben, die bestimmte Wahrnehmungen ausdrücken. So sagen wir, daß sich die Aussage über die Wahrnehmung eines roten Flecks im Gesichtsraum und die von demselben Beobachter in Bezug auf denselben Ort des Gesichtsfelds getroffene Aussage über die Wahrnehmung eines grünen Farbeindrucks ausschließen. Die Behauptung der einen Aussage impliziert die Negation der anderen Aussage, so daß gilt:

S1: Dieser Fleck ist grün

impliziert:

S2: Dieser Fleck ist nicht rot.

Das Vorliegen von Sinnbezügen der genannten und gemeinten Art können wir demnach leicht prüfen, wenn wir die sie ausdrückenden Aussagen unter Anwendung der logischen Implikation und der Negation untersuchen. Impliziert ein Satz die Negation des ihm sinngemäß verwandten Satzes, das heißt eines Satzes aus demselben logischen Raum, handelt es sich um einen Sinnbezug.

Wenn wir zur Bestimmung und Benennung der wahrgenommenen Dinge sich ausschließende oder sich systematisch verzweigende Ordnungsbegriffe wie Natur und Kunst, Pflanze und Tier, Rose und Tulpe, Wildrose und Kulturrose, Alba-Rose und Gallica-Rose (als Sorten von Kulturrosen), Aimable Rouge und Tricolore de Flandre (als Namen von Exemplaren der Rosensorte Gallica) benutzen, gelangen wir (wenn wir nur die genannten Begriffspaare berücksichtigen) mittels der einfachen Anwendung der Negation und der Implikation etwa zur folgenden Reihe von Aussagen:

I:
Wenn dies eine rote Rose ist
und diese rote Rose keine gemalte Rose darstellt,
handelt es sich um eine natürliche Rose.

II:
Wenn diese natürliche Rose keine Wildrose ist,
handelt es sich um eine Kulturrose.

III:
Wenn diese Kulturrose keine Alba-Rose ist,
handelt es sich um eine Gallica-Rose.

IV:
Wenn diese Gallica-Rose keine Tricolore de Flandre ist,
handelt es sich um eine Aimable Rouge.

Die Aussagenreihe I–IV bilden gleichsam eine begriffliche Stufenleiter innerhalb der Sinnbezüge, die wir an Aussagen über Phänomene unseres Gesichtsfelds anlegen können. Dabei spielt der ontologische Status dieser Phänomene keine exklusive Rolle.

Dagegen bilden die folgenden Aussagen über Phänomene unterschiedlicher Sinnesfelder und verschiedener Wahrnehmungsräume keine logischen oder grammatischen Sinnbezüge der genannten Art:

I:
Wenn ich die Fontäne aufsteigen sehe,
höre ich das Wasser rauschen.

II:
Wenn ich die blühende Rose vor Augen habe,
rieche ich ihren Duft.

III:
Wenn ich die Hitze der Herdplatte fühle,
verspüre ich einen Schmerz in der Hand.

Die in den Sätzen I–III beschriebene Koinzidenz von Sinneseindrücken visueller, akustische, taktiler und sensorischer Natur eröffnet uns keine logisch analysierbaren Sinnbezüge:

Ad I:
Ich könnte die Fontäne sehen, ohne das Rauschen des Wassers zu hören, weil es vom Kreischen einer Motorsäge überdeckt und verschluckt wird.

Ad II:
Ich könnte die Rose sehen, aber ihren Duft nicht riechen, weil ich verschnupft bin, oder Veilchenduft riechen, weil der Duft der Rose von dem Veilchenduft meines Einstecktuchs überlagert wird.

Ad III:
Ich kann mir vorstellen, die Hitze der Herdplatte zu fühlen, ohne einen Schmerz zu spüren.

Die Erläuterung zu Satz III ist besonders aufschlußreich, weil sie uns darauf hinweist, daß Sinnbezüge Relationen beschreiben, denen wir logische Notwendigkeit zumessen. So können wir in unserer dreidimensionalen Körperwelt nicht an demselben Ort zur gleichen Zeit zwei verschiedene Körper sehen. Oder wie gesagt aus ein und derselben Schallquelle einen hohen und einen tiefen Ton (gemessen an unserer konventionellen Tonskala) hören. Wir können uns das Gegenteil schlicht nicht vorstellen. Und diese Unfähigkeit ist kein Mangel unseres Vorstellungsvermögens, sondern eine Implikation der Sinnbezüge, in denen wir existieren.

Sinnbezüge zwischen Wahrnehmungsaussagen sind eine Funktion ihrer logischen Grammatik. Die Grammatik unseres Gebrauchs von Worten wie Ton und Klang, Körper und Gestalt oder Form, Ort und Dauer oder die Grammatik der Farbbegriffe umgrenzen den logischen Raum sinnvoller Aussagen über Phänomene der mit ihnen benannten Wahrnehmung.

Aufgrund grammatisch gehaltvoller Sinnbezüge ist für uns der Zusammenhang zwischen Farbe und Fläche oder Klang und Dauer oder Linie und Gestalt oder Körper und Tiefe immanent. Das erweist sich darin, daß wir uns keine Farbe ohne Fläche, keinen Klang ohne Dauer, keine Linie ohne gestalthaften Umriß, keinen Körper ohne Tiefendimension vorstellen können. Diese eigentümliche Art des Nicht-Könnens ist kein physisches Unvermögen, sondern weist auf die logisch-grammatischen Grenzen unserer Sprache und unseres sprachlich geprägten Weltumgangs.

Zufällige Verbindungen und Zusammenhänge zwischen Wahrnehmungen erachten wir nicht für solche, die in grammatisch gehaltvollen Sinnbezügen wurzeln. Betrachten wir folgende Sätze, zu denen uns die Verbindung des visuellen und des akustischen Phänomens anregt:

S3.1 Ich sehe Wasser aus dem Hahn rinnen und höre es plätschern.
S 3.2 Wenn ich Wasser aus dem Hahn rinnen sehe, höre ich es plätschern.
S4 Weil ich Wasser aus dem Hahn rinnen sehe, höre ich es plätschern.

Diese Aussagen repräsentieren offenkundig keine grammatischen Sinnbezüge, deren Vorhandensein wir nur auf Kosten des Sinnverlusts unserer Aussagen negieren könnten, wie wenn wir dem Begriff der Farbe die flächenhafte Verteilung der Farbe oder dem Begriff des Körper die Tiefendimension absprechen.

Die Sätze S3.1 und S3.2 implizieren NICHT den Satz S4.

Denn ich kann mir leicht vorstellen, Wasser aus dem Hahn rinnen zu sehen, ohne es plätschern zu hören, weil ich taub bin oder das typische Geräusch durch Straßenlärm überdeckt wird. Ich kann mir leicht vorstellen, daß ich zwar das Wasser aus dem Hahn rinnen sehe, aber nicht das von diesem Wasser verursachte Geräusch vernehme, sondern eine akustische Aufzeichnung eines solchen Geräusches höre, die das reale Geräusch überdeckt.

En passant erfassen wir damit auch die semantische Tatsache, daß KAUSALE Aussagen über unsere Wahrnehmungen stets einen kontingenten ontologischen Status aufweisen.

In der Kunst und insbesondere in Dichtung und Musik begegnen uns ästhetische Eindrücke, die sich weder in Aussagen über logische Sinnbezüge der genannten Art noch in Aussagen mit kausaler Relevanz übersetzen und ausdrücken lassen. Nennen wir sie imaginär, denn sie scheinen die Grenzen des Realen oder des logischen Raums, in dem unsere gewöhnlichen Wahrnehmungsaussagen beheimatet sind, zu überflügeln.

Die marmorne Gewandfältelung auf den Reliefs griechischer Göttinnen wie auf dem Fries des Parthenon vermag uns den imaginären haptisch-taktilen Eindruck des Weichen und Flüssigen zu geben, als würde Wasser durch unsere Finger rinnen. Die Rosen in den Gedichten Rilkes, allen voran diejenigen in seinem französischen Zyklus „Les Roses“, verbreiten zwar keinen realen Duft und dennoch vermögen sie uns einen imaginären olfaktorischen Eindruck von dunkler und wehmütiger Süße zu geben. Die betörenden Klänge des zweiten Satzes von Schuberts letzter Klaviersonate D 960 vermögen uns den imaginären taktil-vestibulären Eindruck eines leichten Schwindels und Vergehens in dem Realen entrückte seelische Räume zu vermitteln, deren Verortung uns rätselhaft und deren Dimensionen unermeßbar scheinen.

 

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