Skip to content

Sichtschneisen VII

30.07.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Eben sahst du die Kippfigur der Hasen-Ente als Hase, jetzt plötzlich siehst du sie als Ente. Wieviel Zeit verging zwischen eben und jetzt?

Eben tat er seinen letzten Atemzug. Jetzt ist er tot. Wieviel Zeit verging zwischen eben und jetzt?

Zu dem Verstorbenen haben wir eine völlig andere Einstellung als zu dem Menschen, der eben noch lebte.

Die Jünger von Emmaus erkannten Ihn am Zeichen des Brotbrechens. Was sahen sie in dem Mann jetzt, das sie eben in ihm einen Wanderer sahen, der mit ihnen denselben Weg ging?

Der Mann sah im Augenblick, da sie in ihm den Herrn erkannten, genauso aus wie der Mann, der mit ihnen denselben Weg gegangen war.

Das Kind in der Krippe sah nicht anders aus als alle Kinder. Die Engel, die den Hirten erschienen und die Geburt des Heilands verkündeten, sind eine bildhafte Projektion des Blicks, der im Kind der Krippe den Christus erkannte.

Der Blick, der im Kind der Krippe Christus sah, war die Wirkung einer Offenbarung.

Etwas so zu sehen beruht auf einer Entscheidung, die wir nicht als Ableitung der Funktion rationaler Gründe darstellen können.

Zu sagen, hätte Rimbaud sich nicht in jungen Jahren entschieden, nach Afrika auszuwandern und Handel zu treiben, hätte er noch viele wunderbare Gedichte schreiben können, ist eine Platitude und Ausdruck von Dummheit.

Wer den Lorbeer im olympischen Wettkampf erringt, entscheidet sich im Augenblick des Sieges.

Der Augenblick des Sieges oder der entscheidende Augenblick kann nicht als Ableitung der Funktion des zeitlichen Ablaufs und seiner kausalen Faktoren, die ihm vorausgehen, dargestellt werden.

Wäre der entscheidende Augenblick wie der Sieg eine Determinante des zeitlichen Verlaufs, der in ihm gipfelt, wäre es sinnlos, von Sieg zu sprechen, sinnlos, den Sieger mit dem Lorbeer zu krönen, sinnlos wie Pindar ein Preislied auf ihn zu verfassen.

Wäre was wir meinen ableitbar in einer Theorie oder einem Modell der Welt, gleichgültig von welchen Elementen und Prozessen sie handelten, Molekülen, Genen oder Neuronen, könnten wir über diese Theorie und dieses Modell nichts aussagen, weder ob sie wahr noch ob sie falsch sind.

Daraus ersehen wir, dass die Sprache keine Theorie und kein Modell der Welt ist, gleichgültig welche Elemente und Prozesse sie aufbauen, Bedeutungen, Sätze oder Sprechakte, denn wir können über sie als Ganze nichts aussagen, schon gar nicht, ob sie wahr oder falsch ist.

Gäbe es eine Theorie oder eine Sprache als ein Modell der Welt, müsste sie sich selbst enthalten. Doch die Theorie und die Sprache, die sich selbst enthält, müsste zugleich ein Element der übergeordneten Theorie und Sprache sein, die sich selbst enthält. Und so fort ad infinitum.

Wir können über das Ganze eines Lebens oder das Ganze des Lebens nicht ohne weiteres einen Überblick gewinnen.

Herodot erzählt, wie Solon die Jünglinge Kleobis und Biton glücklich pries, die ihre Mutter mit letzter Anstrengung zum Tempel der Hera im Wagen zogen und im Tempel einschliefen und nicht wieder erwachten. Die Göttin hatte das Gebet der Mutter erhört, mit dem sie die Göttin um die höchste Ehre für die Söhne bat, die Menschen vergönnt ist.

An der Grenze des Lebens fällt ein Licht auf das Leben, doch von einer göttlichen Quelle des Lichts.

Wir können die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nicht vollständig durch Angabe der Kontexte klären und präzisieren, in denen er begegnet. Dies wäre eine empirische Leistung, doch weil ohne definite Grenzen, denn es gibt zahllose Kontexte dieser Art, unerfüllbar.

Wir verstehen cum grano salis, was mit dem Ausdruck „Mein letzter Wille“ als Überschrift über eine Liste von Verfügungen über den Besitzstand des Verfügenden gemeint ist, ohne dass wir alle möglichen Kontexte oder vergleichbaren testamentarischen Verfügungen zu Rate ziehen müssten.

Täten wir dies, müssten wir beispielsweise die Verfügung des sterbenden Sokrates, Kriton solle in seinem Auftrag dem Asklepios einen Hahn opfern, als weiteren Kontext hinzufügen.

Doch das Opfer an den Gott der Heilkunde ist ein symbolischer Akt. So erweitern wir die Bedeutung des Ausdrucks „Mein letzter Wille“, wenn wir beispielsweise die Verfügung, am Grab des Verstorbenen ein bestimmtes Lied zu singen, in den Kontext seiner möglichen Verwendung aufnehmen.

Wir können die Tatsache, dass Augustinus nach und aufgrund seiner Bekehrung sein Leben und das Leben überhaupt in einem anderen Licht sah, nicht durch historische Kontexte erklären, wie den Einfluss seiner frommen Mutter und die Lektüre des Propheten Jesaia. Warum, könnten wir fragen, hatten die fromme Mutter und die Lektüre des Propheten Jesaia denn auf Augustinus gewirkt? Diese Einwirkungen hätten auch spurlos an ihm vorübergehen können.

Wir verstehen die Wirkung der Kontexte, die Augustinus zu seiner Bekehrung bewogen haben mögen, nur aus der Tatsache dieser Bekehrung selbst. Diese müssen wir demnach als bedeutungsstiftendes Ereignis hinnehmen.

Wittgenstein unterschied, um das Russelsche Paradox aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, zu lösen oder aufzulösen, zwischen dem, was aufgrund der logischen Form des Satzes sinnvoll gesagt werden kann, und dem, was als Aussage über die logische Form aller Aussagen oder die Welt nicht sinnvoll gesagt, sondern worauf nur hingewiesen werden kann.

Wir können die Unterscheidung Wittgensteins nicht als Wirkung der Kontexte erklären, die ihm die Unterscheidung nahelegten, wie die Lektüre Weiningers oder die Grenzerfahrung des Ersten Weltkriegs. Sie ist demnach eine Form der ursprünglichen Intuition.

Die mythischen Götter, das Lächeln der frühgriechischen Bildnisse, die Gestalt der sapphischen Ode oder die Akkordfolge des Lacrimosa in Mozarts Requiem sind Formen der ursprünglichen Intuition.

Keats bewundert den Gesang der Nachtigall, nicht nur weil er überaus melodisch und über alle Worte schön ist, sondern weil er der Kehle des Vogels wie das Wasser der Quelle ungehemmt und rein entströmt.

Das Störende und Abschreckende expressionistischer O-Mensch-Gedichte ist nicht nur ihr formloses und marktschreierisches Auftreten, sondern die herausgebrüllte Indiskretion ihrer Aussage.

Das Große an klassischen Gedichten ist die Diskretion, mit der sie tiefere Einsichten im schattigen Laub ihrer sublimen Form verbergen. Das Gedicht des Horaz (Oden I, 38) über diese Art des Dichtens und Fühlens spricht vom Degout an überladener Metaphorik (Persicos apparatus), vom Verzicht auf die üppige Knospe des Bilds (rosa sera) und von der zartsinnigen Genüge an der schlichten Fülle des Daseins (myrtus, sub arta vite bibentem).

Von dieser sublimen Schlichtheit sind auch die Gleichnisse Jesu.

Diese Gleichnisse geben Bilder vom Himmelreich oder dem Reich des Worts, das derjenige verkörpert, der sie darlegt. Kein Gleichnis vermag die Fülle dessen, was Himmelreich meint, zu erschöpfen, und ebensowenig eine beliebige noch so geistreiche Vermehrung solcher Gleichnisse.

Das, wofür die Gleichnisse stehen, lässt sich nicht in einem Begriff, sondern wiederum nur in einem anderen, einem neuen Gleichnis bezeichnen.

Wollen wir das Gleichnis verstehen, können wir es mithilfe der Bezugnahme auf andere Gleichnisse kommentieren, doch nicht begrifflich auflösen.

Das jesuanische Gleichnis ist das Gegenteil des sokratischen Begriffs.

Sokrates fragt nach dem Wesen eines Phänomens und will die unterschiedlichen Züge des frommen, gerechten, künstlerischen Tuns und Verhaltens durch Angabe eines klar umrissenen Begriffs der Frömmigkeit, der Gerechtigkeit, der Kunst zusammenfassen und gleichsam in einer abstrakten Gestalt aus einem einheitlichen definitorischen Guss vor Augen stellen. Mögen die platonischen Dialoge, die von der sokratischen Frage nach dem Wesensbegriff ausgehen, aporetisch und ergebnislos enden, weil Platon diese Art des Fragens ironisiert: Sie stoßen gleichsam auf den Granit der Sprache, an dem sich der Spaten, der weiter graben will, umbiegt.

Im euklidischen Verfahren der Ableitung von wahren Sätzen der Geometrie aus Axiomen und Theoremen haben wir ein Urbild des sokratischen Verlangens nach der reinen Form. Doch die Sprache der Geometrie ist ein Teil der Sprache und die Sprache als Ganzes kann nicht auf diesen Teil abgebildet werden, in dem es um alltägliche Äußerungen über Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Kunst geht.

Wir können die Definitionen der euklidischen Geometrie auch durch Handlungsanweisungen ersetzen: Konstruiere eine Linie auf einer gegebenen Linie in einem Winkel von 90 Grad und zeichne mit dem Lineal in beliebigen Abständen weitere Linien, die die rechtwinkligen schneiden, und wir erhalten ein Handlungsschema zur Konstruktion eines beliebigen rechtwinkligen Dreiecks.

Aber wir können kein Handlungsschema für die Konstruktion eines beliebigen Typs frommen, gerechten oder künstlerischen Handelns gewinnen, in dem wir sowohl das heidnische Opfer als auch das leise vor sich hingesprochene Gebet des Herrn ableiten könnten, oder das Ritual des Potlatsch neben dem gerechten Tausch von Gütern oder ein schlichten Volkslied und ein komplexes Kunstlied.

Indes können wir eine entfernte Ähnlichkeit im Gebaren des Heiden und des Christen erkennen, das wir vielleicht als die Hinwendung zu einer höheren Macht und die Hingabe des Eigenen begreifen, sei es materieller, sei es geistiger Natur.

Doch diese Ähnlichkeit können wir wiederum nur wahrnehmen, wenn uns der Geist der Frömmigkeit leitet.

Wir müssen demnach, um einzelne Handlungen und Äußerungen als fromm einordnen und verstehen zu können, schon verstehen, was Frömmigkeit ist, ohne einen allgemeinen Begriff von Frömmigkeit oder eine Theorie der Religion zugrunde zu legen. Das ist eben die Pointe.

Der Geist, aus dem heraus wir etwas verstehen, ist gleichsam die Atmosphäre oder die Aura, die einzelne sprachliche Ausdrücke oder Sprechakte umhüllen. Wenn dich dein Freund einlädt, morgen mit ihm im Park spazieren zu gehen, gibst du gewiss kund, dass du seine Aufforderung verstanden hast, wenn du am darauffolgenden Tag dich im Park einfindest. Doch du verstehst seine Einladung auch als Geste der Freundschaft.

Wir verstehen die Einladung als Geste der Freundschaft, wenn wir sie aus dem Geist der Freundschaft heraus verstehen, ohne dass wir sie an einer Definition des Begriffs von Freundschaft messen müssten oder versuchen, sie aus einer solchen Definition abzuleiten.

Wir müssen demnach, um einzelne Handlungen und Äußerungen als Gesten und Zeichen der Freundschaft einordnen und verstehen zu können, schon verstehen, was Freundschaft ist, ohne einen allgemeinen Begriff von Freundschaft oder eine Theorie sozialer Beziehungen zugrunde zu legen. Das ist eben die Pointe.

Die Freundschaft könnte von dunklen Wolken des Argwohns und Missverständnisses überschattet sein. Dann sähe man die Einladung des Freundes, sich im Park zu treffen, in einem anderen Licht. Vielleicht ginge es dann um eine letzte Aussprache.

Gewiss könnte es Lebensformen oder Kulturen geben, und es gibt sie, auf deren Ausdrucksformen unser Begriff von Freundschaft keine Anwendung findet. In solchen Kulturen sind Gesten, die wir als freundschaftlich verstehen und verkennen würden, wie dem Nachbarn mit Geschenken aufzuwarten, keine freundschaftlichen, ja nicht einmal freundliche Akte, sondern Ausdrucksformen eines grundlegenden Misstrauens. Beispielsweise der Furcht vor bösen Geistern, die von den Nachbarn Besitz ergreifen könnten oder ergriffen haben, und die durch solche Gesten beschwichtigt werden.

Das Scheitern des sokratischen Zugriffs auf den Begriff beruht demnach auf der Illusion seiner Universalität, die sich vergebens auf den Satz vom Widerspruch stützt, denn sicher können wir in keiner Welt etwas fromm, gerecht oder ästhetisch wertvoll nennen und zugleich das Gegenteil behaupten. Doch diese triviale logische Tatsache impliziert nicht, dass Verwendungen solcher Begriffe auf denselben Regeln und Kriterien der Anwendung beruhen, ja nicht einmal, dass es nicht Sprachen geben sollte, und es gibt sie, in denen der eine oder andere Begriff überhaupt keine Verwendung findet.

Der Amusische hört Geräusche statt Klängen und Akkorden oder er bevorzugt Geräusche statt sublimer Melodien und Harmonien.

Hört der Musische das Lacrimosa aus Mozarts Requiem mit Verständnis, weil er eine Theorie der Musik mitbringt und beispielsweise die Tonarten oder die musikalischen Themen und ihre Variationen erkennen kann? Nein, auch der ungebildete Bauer, der keine Noten lesen kann oder noch nie etwas von Mozart gehört hat, könnte es verstehen.

Wir gehen wohl zurecht davon aus, dass einer, der sich beim Hören des Lacrimosa ein Grinsen nicht verkneifen kann, wohl kaum das richtige Musikverständnis mitbringt.

Doch entbehren wir der präzisen Vorschriften darüber, welche bestimmten Empfindungen und Gefühle das verständnisvolle Hören begleiten sollten.

Wir können nicht zugleich die Empfindung des Kalten und Warmen in der Hand haben, die wir ins kalte Wasser tauchen, ebensowenig wie wir an einem Punkt des Gesichtsfelds den visuellen Eindruck von Blau und Rot haben können.

Doch beim Hören des Lacrimosa aus Mozarts Requiem können wir gleichzeitig ein trauriges und erhebendes Gefühl haben. Nicht aber ein Gefühl der Verzweiflung oder des freudigen Überschwangs.

Wir hören das Musikstück mit Verständnis, ohne das Gehörte interpretieren zu müssen, ähnlich wie wir Äußerungen des alltäglichen Umgangs wie „Achtung, die Ampel zeigt Rot!“ unmittelbar verstehen, ohne sie interpretieren zu müssen.

Wir können allerdings sagen, dass dem Amusischen aufgrund des Vorwaltens bestimmter Gefühlserwartungen beim Hören von Musik das rechte Verständnis des Mozartischen Lacrimosa verstellt ist, insofern sich diese Erwartungen auf die Erregung niedriger Instinkte konzentrieren, die sich gleichsam wie Spasmen im nervösen Wippen und Ruckeln von Armen und Beinen zu entladen pflegen.

Somit ist der Geist, in dem wir das Lacrimosa recht verstehend hören, der Geist einer bestimmten Kultur, der abendländischen. Diese Kultur können wir nicht begrifflich fassen, sondern nur anhand von möglichst herausragenden Beispielen ihrer kulturellen Hervorbringungen beschreiben, und zu diesen Beispielen zählt natürlich das Lacrimosa von Mozart.

Aber um zu wissen, dass Mozarts Musik exemplarisch für die abendländische Kultur steht, müssen wir ja schon irgendwie wissen, was wir mit diesem Begriff meinen. Das ist eben die Pointe.

Merkwürdig scheint, dass wir gewisse exotische Akte der Frömmigkeit als religiöse Akte einordnen können, ohne sie zu verstehen, weil unser Verständnis von einer Theologie geprägt ist, die das Tötungsverbot des Alten und Neuen Testaments impliziert. Denn wir müssen wie immer widerstrebend konzedieren, dass es sich bei den Menschenopfern der Azteken und Majas oder der alten Römer um religiöse Akte handelte, ohne jenes unmittelbare Verständnis für sie aufbringen zu können wie für die Blumenopfer der Hindus und Buddhisten.

Oder wir sehen ein, dass unsere Verwendung des Prädikats „fromm“ keine universell gültigen und einheitlichen Regeln und Kriterien der Anwendung impliziert. So räumen wir ein, dass die Menschenopfer der alten Völker nicht unserem gewöhnlichen Begriff der Frömmigkeit entsprechen, aber als religiöse Akte einen gewissen, wenn uns auch fremden und vielleicht unzugängliche Geist der Frömmigkeit verkörpern.

Wir könnten sagen, die Blumenopfer der Hindus seien religiöse Handlungen mit einem künstlerischen Ausdruckswert, oder sagen, die Blumenopfer der Hindus seien künstlerische Handlungen oder ästhetische Aufführungen mit einem religiösen Bedeutungsüberschuss. Aber wenn wir einem modernistischen Kunstbegriff anhängen, dem gemäß richtige Kunst nur eine solche ist, die aus der Aura des Religiösen ins Profane vollständig herausgelöst werden kann, beschneiden wir unsere Möglichkeiten der adäquaten Beschreibung auf unnötige Weise.

Wir können wesentliche Handlungen, Gesten und Äußerungen nur vollziehen und nachvollziehen, weil sie den Geist einer uns verwandten Kultur oder gemeinsamen Lebensform atmen. Diese Feststellung verdammt uns nicht zu einer kulturrelativistischen Resignation, denn wir können wissen, dass diese oder jene Handlung, Geste oder Äußerung unangemessen, widersinnig oder falsch ist, wie bei der Aufführung des Requiems von Mozart unaufhörlich zu grinsen oder ein obszönes Gebaren während eines Gottesdienstes an den Tag zu legen oder Verrat an einer Person zu begehen, ohne dem Maßstab von Freundschaft zu widersprechen, den wir nun einmal an diese geschätzte Form des Miteinanders anlegen.

Der Zugriff des Sokrates auf den Begriff scheitert auch daran, dass Begriffe wie fromm, gerecht oder ästhetisch ansprechend keine Beschreibungen von Gegenständen oder Handlungen darstellen, sondern Aufforderungen und Vorschriften in die Form der Beschreibung gleichsam einkapseln und verhüllen. Frömmigkeit impliziert beispielsweise die Aufforderung, im Tempel oder in der Kirche vor dem Altar still und unbeweglich zu sitzen oder sich in ein Andachtsbild zu versenken oder ein liturgisches Gebet wie den Rosenkranz oder die Sutren korrekt, ohne Auslassungen, in einem würdigen, getragenen Ton des Psalmodierens zu flüstern.

Gerechtigkeit impliziert die Vorschrift, den Betroffenen, sich selbst eingeschlossenen, das rechte Maß an Tadel und Lob, an Ansporn und Ermunterung bei der Ausführung eines guten Werks vor Augen zu stellen und diejenigen, die sich auf Dauer als unwürdig für seine Ausführung erwiesen haben , aus der Gemeinschaft der Gerechten auszustoßen.

Regisseure, die für die Neuinterpretation der großen Werke der Oper und des Theaters den bunten Fundus der Masken und Rollen plündern und sich an einem Tamino, einer Elsa oder einem Moses, an einem Faust, Hamlet oder King Lear vergreifen, um sie als modisch abgehalfterte Puppen dem vulgären Geschmack vorzuwerfen, sollten demgemäß jeden Respekt und jede Form der öffentlichen Speisung und Subventionierung verlieren. Denn ihr vergiftetes Gemüt, ihr Ressentiment und ihr berserkerhafter Zerstörungswille sind wie Schwefel- und Rußwolken, die den Geist eines Goethe oder Shakespeare, den Geist eines Mozart, eines Wagner oder Schönberg verdunkeln. Sie bezeigen sich damit als Feinde des Geistes der Kultur, dem wir jene großen Werke verdanken.

 

Comments are closed.

Top