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Sichtschneisen IV

23.07.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen zum Tier-Mensch-Unterschied

Roboter und Tiere sehen nichts in dem Sinne, wie du oder ich etwas sehen.

Das Foto vor deinen Augen ist kausal wirksam für das, was du siehst. Aber dein Blick könnte das Foto streifen, ohne dass du dir dessen bewusst wärest, dass du es siehst.

Du kannst das Foto sehen, ohne zu erkennen, wen es abbildet.

Du siehst die Person auf der anderen Straßenseite, ohne zu erkennen, dass es dein Freund Peter ist.

Die Katze sieht die Maus am Rand der Wiese. Aber nur im Märchen erkennt sie, dass es Peter ist, die Maus, die auf Nachbars Grundstück wohnt.

Die Katze sieht in Wahrheit nicht einmal eine Maus. Sie sieht da etwas, ein Lebewesen, das sich so und so bewegt, so und so riecht, und ein leckeres Mahl verspricht.

Die Katze sieht in Wahrheit nicht einmal ein Lebewesen, denn um das zu können, müsste sie den begrifflichen Unterschied zwischen nichtlebendigen Dingen und Stoffen wie diesem Stein oder jenem Wasser und lebendigen Wesen wie Mäusen, Enten und ihren eigenen Artgenossen verstehen.

Wenn du Peter auf der anderen Straßenseite siehst, erzeugst du kein mentales oder inneres Bild, dessen Bedeutung du als „Peter“ identifizierst. Denn in diesem Falle müsstest du wiederum das innere Bild sehen und ein Bild von diesem Bild erzeugen und dessen Bedeutung als das Bild von Peter identifizieren.

Der schlaue Gesichtserkennungsroboter bestätigt durch ein Signal, die ihm vorgelegten optischen Daten eines digitalen Fotos als „Peter“ identifiziert zu haben. Doch er könnte nicht wie du die Person Peter sehen, ohne sie zu erkennen, und die optischen Daten korrekt verarbeiten, ohne durch Musterabfrage auf „Peter“ zu kommen.

Der Roboter könnte „sich irren“ und bei der Identifikation des Gesichts anhand eines Abgleichs mit seiner Musterdatei versagen.

Doch wenn du von Peter gefragt, ob du ihn gestern nicht an dir vorübergehen gesehen habest, antwortest: „Ich habe dich nicht gesehen“, gestehst du keinen Irrtum ein.

Wenn du deine Hand in Eiswasser tauchst, empfindest du die eisige Kälte in der Hand. Du magst sagen: „Ich spüre die Kälte in meiner Hand“, indes nicht: „Meine Hand fühlt die eisige Kälte.“

Deine Hand kann nichts fühlen, wenn DU es nicht fühlst.

Doch könnte es sein, dass das Echolot der Fledermaus das Insekt „hört“ oder „sieht“, das heißt registriert, ohne dass wir sagen können: „Die Fledermaus hört oder sieht das Insekt.“

Könnte die Katze, die nach einer reichlichen Mahlzeit in der Sonne döst und die vorbeihuschende Maus übersieht, sagen: „Ich habe die Maus nicht gesehen“, wäre sie unserer Sprache mächtig?

Wir können sehen, dass Peter auf der anderen Straßenseite geht. Wir können nicht SEHEN, dass Peter NICHT auf der anderen Straßenseite geht. Aber wir können SAGEN: „Der dort geht, ist nicht Peter.“

Wir können negative Tatsachen oder nichtbestehende Sachverhalte nicht wahrnehmen, aber darüber sprechen.

Wir können sehen, dass Peter nicht zur vereinbarten Zeit am vereinbarten Ort gewesen ist. Aber wir können die Tatsache, dass er nicht gekommen ist, nicht sehen, nur darüber reden.

Wir können die Tatsache bedauern oder begrüßen, dass Peter nicht gekommen ist. Wir können nicht unsere Wahrnehmung, dass Peter nicht gekommen ist, bedauern oder begrüßen.

Wir sagen: „Es tut mir leid, dass ich unsere Verabredung vergessen habe.“ Mit selbstreflexiven Aussagen dieser Art kennzeichnen wir demnach unsere Einstellung zu bestimmten Tatsachen, nicht zu Wahrnehmungen.

Die Katze kann, wäre sie der Sprache mächtig, nicht sagen: „Es tut mir leid, dass ich dem Kater des Nachbarn die Maus weggeschnappt habe.“

Sie kann dies nicht, nicht weil sie ein durch und durch egoistisches Tier ist, sondern weil sie weder über bestehende oder nichtbestehende Tatsachen sprechen noch ihre Einstellungen zu bestimmten bestehenden oder nichtbestehenden Tatsachen ausdrücken kann.

Wir können sehen, dass Peter JETZT auf der anderen Straßenseite geht. Aber wir können jetzt nicht sehen, dass Peter GESTERN auf der anderen Straßenseite ging. Doch können wir sagen: „Peter ging gestern dort entlang.“

Die Katze kann, wäre sie der Sprache kundig, nicht sagen: „Der Kater des Nachbarn hat mir gestern die Maus weggeschnappt“, geschweige denn: „Vor einer Milliarde Jahren lebten hier keine Katzen.“

Wir sagen: „Morgen gebe ich meinem Freund wie versprochen das geliehene Buch zurück.“ Die Katze kann nicht sagen: „Morgen schenke ich meinem Freund, dem Nachbarskater, zum Geburtstag eine Maus.“ Nicht weil die Katze ein durch und durch egoistisches Tier ist, sondern weil sie über keine Sprache verfügt, die ihr Zeitbegriffe wie heute, gestern und morgen bereitstellte.

Von einer größeren oder kleineren Zeitstrecke der Vergangenheit zu sprechen, setzt den Gebrauch des Zahlbegriffs voraus.

Die Katze kann nicht deshalb nicht über die Zeitstrecke von einer Milliarde Jahren sprechen, könnte sie sprechen, weil sie ein zu kleines Gehirn für eine so große Zahl hat (oder anderer lächerlicher Gründe dieser Art wegen), sondern weil sie schlechterdings über keinen Zeit- und Zahlbegriff verfügt.

Die Katze kann nicht ausdrücken, was gestern geschah oder morgen geschehen soll, weil der Zeitbegriff, den sie dazu verwenden müsste, den Begriff der Zahl voraussetzt, denn gestern ist ein Tag vor heute oder morgen ein Tag nach heute.

Die Katze mag wohl sehen, dass der Nachbarskater im Anmarsch ist, aber sie kann nicht erkennen, dass EIN Kater kommt und nicht wie gestern ZWEI.

Um zählen zu können, müsste die Katze in der Lage sein den Begriff eines negativen Sachverhalts zu bilden, beispielsweise des Sachverhalts, dass die Menge aller Katzen, die sowohl miauen als auch zwitschern können, leer oder die Nullmenge ist, und diese Menge ist genau EINE Menge.

Wir sagen: „Wenn ich früher aufgestanden wäre, hätte ich die interessante Radiosendung nicht verpasst.“ Die Katze könnte nicht sagen: „Hätte ich nicht so lange geschlafen, hätte ich den Nachbarskater getroffen und mit ihm gespielt.“

Aussagen dieser Art setzen den Gebrauch der logischen Folgerung voraus, denn q nur, wenn p, wenn nicht-p, dann nicht-q. Dieser Gebrauch setzt wiederum die Art von Sprache voraus, die Katzen nicht sprechen, unsere Sprache.

Die Katze kann erwartungsvoll vor dem Mauseloch liegen. Doch sie kann nicht darauf warten, dass der Nachbarskater endlich wieder vorbeikommt, um mit ihm gemeinsam herumzutollen.

Wenn wir auf etwas warten, sind wir nicht nur wie die Katze in einem bestimmten emotionalen Zustand der Anspannung, sondern haben eine bestimmte Einstellung zu einem möglichen Sachverhalt, die wir in der Aussage ausdrücken: „Ich warte darauf, dass Peter kommt.“

Die Katze erwartet freudig, dass ihr Frauchen ihr den Napf mit leckerem Futter füllt. Aber sie kann nicht darauf warten, dass ihr Frauchen den Napf füllt, und zugleich befürchten, dass es wieder die fade Kost wie gestern ist.

Du kannst angespannt auf deinen Freund warten und zugleich hoffen, er möge nicht kommen.

Wir sagen, die Tatsache, dass es regnete, war für uns der Grund, zu Hause zu bleiben. Doch ist der Regen nicht die Ursache unseres Verhaltens wie die Tatsache, dass Frauchen die Dose öffnet, die Ursache für die freudige Erwartung der Katze ist.

Wir könnten einen Anruf unseres Freundes erhalten, der in eine Notlage geraten ist. Dadurch drängt sich uns ein Grund auf, trotz Regens das Haus zu verlassen, ein Grund, dem wir mehr Gewicht beimessen als dem Grund, zu Hause zu bleiben, weil es regnet.

Dass wir den einen Grund den anderen überwiegen lassen, zeigt, was für eine Art Person wir sind oder sein wollen, indem wir die Hilfe für den Freund unserer Bequemlichkeit vorziehen.

Die Katze kann dem ausgehungerten Nachbarskater aus Solidarität die erlegte Maus nicht deshalb nicht überlassen, weil sie ein durch und durch egoistischen Tier ist, sondern weil ihr Verhalten nicht durch das Abwägen von Gründen bestimmt wird.

Wir mögen die Katze einen ausgefuchsten Utilitaristen nennen, allein die Tatsache, dass wir im besten Falle den besseren Grund über den schlechteren obsiegen lassen können, zeigt, dass der katzige Utilitarismus nicht alles erklären kann, was wir tun.

Wir wollen alles tun, damit unsere Katze glücklich ist. Doch nicht alles, um selber glücklich zu sein, wenn dies bedeutete, unser Wohlergehen durch unwürdiges Verhalten oder durch Untaten zu erreichen.

Die Katze ist nicht verpflichtet, dem ausgehungerten Nachbarskater die erlegte Maus zu überlassen. Sie muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie die Maus verspeist und der arme Kater leer ausgeht, selbst nicht, wenn er Hungers stürbe.

Ist die Katze der vollkommene Immoralist und das auserwählte nietzscheanische Tier? Nein, denn sie lebt diesseits des Unterschieds von moralisch und unmoralisch. Sie lebt nicht deshalb unmoralisch, weil sie ein durch und durch egoistisches Tier ist, sondern weil sie keinen Begriff von sozialer Verpflichtung und Pflicht hat, die sie bewegen könnte, ein Vergnügen für ihre Erfüllung zu opfern.

Wir können es als unsere Pflicht und Schuldigkeit ansehen, unsere Katze zu hätscheln und glücklich zu machen. Doch die Katze ist kein Bewohner unseres sozialen und kulturellen Universums und hat keine Pflicht, uns zu unterhalten und glücklich zu machen.

Hat die Katze keine Pflichten, so auch keine ihnen im selben moralischen Universum reziproken Rechte. Wir können der Katze daher nicht dasselbe Recht auf Fürsorge zusprechen, das ein Kleinkind gegenüber der Mutter erhebt, die es als normale Pflicht ansieht, dieses Recht als einen an sie erhobenen Anspruch zu gewähren. Wir können und sollten uns dagegen für das Wohlergehen unserer Katze verantwortlich fühlen, ohne sie damit in die Reziprozität von Rechten und Pflichten einzuschließen.

Roboter und Computer können weder denken noch rechnen. Ganz davon zu schweigen, dass denken und rechnen das Selbstsein dessen voraussetzt, der denkt und rechnet, implizieren die intelligenten Fähigkeiten sowohl die konsistente Anwendung und Abwägung von Gründen im logischen Raum als auch einen eisernen Vorrat von Begriffen wie den Zeit- und den Zahlbegriff. Doch Roboter und Computer rechnen ohne Begriffe und rein algorithmisch, was wir ihnen gemäß unseren Begriffen eingegeben haben.

Weder Tiere noch Maschinen können Symbole verwenden oder Zeichen lesen. Die Verwendung von Symbolen und Zeichen impliziert auf der elementaren Ebene ein Selbstsein, das mit konventionellen Zeichen Intentionen ausdrückt. Alles zeichenhafte Gebaren muss daher in Formen der direkten Rede umgeformt werden können, wie wenn ich dir mit meiner Äußerung zu verstehen gebe, dass wir bei diesem Regen besser zu Hause bleiben sollten.

Ein androider Roboter könnte vielleicht aufgrund seiner Informationen über die Wetterlage eine Botschaft ausspucken, der Art, es sei vorerst besser zu Hause zu bleiben. Doch könnte er diese Botschaft nicht MEINEN. Er könnte seine Äußerung auch nicht im Licht der Tatsache einer entscheidungsrelevanten neuen Information revidieren, die es ihm moralisch besser erscheine ließe, die Unbill des Wetters zugunsten der Hilfe für unseren Freund auf sich zu nehmen.

Wir können Französisch, Italienisch oder Lateinich lernen, die Maschine kann spontan keine neue Programmiersprache erfinden und anwenden.

Es kann keine Universalsprache geben, in die wir ohne Verlust an metonymischer Feinheit und metaphorischer Hintergründigkeit die Bibel, die Ilias, die Aeneis, die Divina Commedia, die Sutren oder das Baghavad Gita übersetzen könnten; ebensowenig wie einen Weltstaat, in den sich die Ethnien, Völker, Nationalstaaten ohne Verlust an kulturellem Reichtum verschmelzen ließen.

Katzen haben eine Familie, doch keine Familienerinnerungen, geschweigen denn entwickeln sie die Urform des religiösen Kultes im Ahnenkult.

Weil Tiere begrifflos und sprachlos leben, zerfallen ihre Arten nicht in verschiedene sprachlich und symbolisch geprägte Kulturen auf der Basis ethnisch und national geprägter Sprachen. Katzen fauchen gegen die Nachbarskatzen, aber ziehen nicht in Sippenverbänden organisiert gegeneinander in den Krieg, weil die Bewahrung der durch Feinde in Frage gestellten oder angegriffenen identitätsstiftenden Symbole ihrer kollektiven Selbstverständigung ab einer bestimmten Konfliktspannung der friedlichen Koexistenz eine definitive Grenze zieht.

Wir können das Bild von dem, was zu sein uns vorschwebt, übermalen oder auslöschen und durch ein anderes ersetzen; einer zieht sich von der Welt als kontemplativer Mönch zurück, einer greift zur Waffe und geht als Partisan in den Untergrund. Das Glück, das wir dem gelassenen Dasein der Katze zusprechen, rührt aus der Zeitenthobenheit ihres Fühlens und Empfindens.

Die Katze versteht das akustische Zeichen, wenn Frauchen die Dose mit ihrem Futter öffnet, gleichsam immer wörtlich. Wir können von uns gebildete Zeichen ikonischer oder lautlicher Natur beliebig drehen und wenden, dehnen und verdichten: Dies ist der Ursprung unserer künstlerischen Begabung, Zeichen metonymisch zu verschieben und metaphorisch zu überlagern, indem wir Schiff sagen und Staat meinen, Rose für Liebe, Schwert für Krieg, Eden für Paradies setzen.

Die Katze kann zufrieden, gelangweilt, verärgert oder wütend sein, aber nicht glücklich im Sinne unserer Idee eines Glücks, bei dem einem nicht die gebratenen Hendl ins Maul fliegen, sondern eines Glücks als Form der Selbststeigerung und Selbstüberwindung in der Lösung einer Aufgabe, in der Bewährung in einem Konflikt, ja im Opfer und der Hingabe für eine von uns als höchst wertvoll erachtete Sache.

Wir erblicken im Baum, der winterlich kahl seine Arme gen Himmel streckt, das Bild der Hoffnung auf ein neues Leben, eine Wiederauferstehung. Doch weder kann der Baum hoffen noch auferstehen, ja nicht einmal sterben.

Roboter sterben nicht, sondern gehen kaputt. Katzen sterben nicht, sondern verenden.

Die Fremdheit oder die Ausnahmestellung menschlichen Sterbens im zoologischen Sinne zeigt sich im extremen Falle, dass Menschen für eine Idee, ein Symbol, einen Gott oder einen Götzen ihr Leben hingeben oder ihr Leben wegwerfen können.

 

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