Sichtschneisen III
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir können uns im Spiegel nicht sehen.
Wir sehen im Spiegel unser Gesicht unter einem Blickwinkel, das unser Freund unter einem anderen Blickwinkel sieht.
Wir könnten verrückt werden und unser Bild im Spiegel nicht mehr als unser Spiegelbild erkennen. Doch darauf hingewiesen, dass sei doch unser Abbild, könnten wir sagen: „Ich bin das nicht!“
Ich könnte mich in der Identifikation der abgebildeten Person täuschen, nicht aber in der Person, die diesem Irrtum Ausdruck gibt.
Ich auf einem alten Foto als Schulanfänger. Du sagst: „Das bist also du als kleiner Schulbub!“
Doch ich könnte mich irren und das alte, vergilbte und ziemlich verwackelte Bild stellt nicht mich, sondern meinen Schulkameraden Peter dar, der mir damals ziemlich ähnlich sah.
Narziss, von seinem Spiegelbild im Wasser fasziniert, zerstört es, löscht es im Zuge der Bewegung aus, mit der er ihm, mit der er sich nahekommen will.
Die Toten, denen Dante auf seiner Jenseitsfahrt begegnet, haben keinen Körper aus Fleisch und Blut, sondern sind Schatten, Flamme, Hauch, und doch als ihrer bewußte Individuen beschrieben, sie sprechen im eigenen Namen.
Freilich, Dante kann auf eine gleichsam verdichtete oder schattenhafte Substanz reduzierte Präsenz derjenigen nicht verzichten, die ihm begegnen und mit ihm und seinem spirituellen Führer Vergil reden. Ist dies eine fiktionale Notwendigkeit oder weist es auf ein ontologisches Minimum der leibhaften Präsenz des Ich-Bewusstseins?
Was meinen die großen Lehrer der Kirche, die sich dabei auf Platon und Aristoteles stützen konnten, damit, Gott sei Moi pur und als reines Ich-Bewusstsein ein an keine Materie gebundener Geist?
Jedenfalls nicht das, was Descartes unter res cogitans verstand. Denn der Gott der Propheten, der Gott Augustins, Kierkegaards und Pascals offenbart sich ihnen nicht (oder nicht in erster Linie) als gleichsam weltüberleger Weiser, sondern eingehüllt in emotionale Bezüge von Liebe und Zorn, Forderung und Vergebung, ja er nimmt unaustilgbare väterliche und mütterliche Züge an, die wir nicht als bloß allegorische Petitessen beiseiteschieben können.
Doch ist diese Sonne uns gewöhnlichen Erdlingen dunkel in ihrer blendenden Helle im Vergleich zu den unscheinbaren Lichttropfen, als die wir uns allenfalls im weiten Meer der Trübsal spiegeln.
Wir können auf die absolute Grenze, die unser bewusstes Leben wie ein Laserstrahl in die Nacht der unbewussten Materie brennt, nicht zeigen.
Im Kristall der großen dichterischen Form ist das Ich eingeschlossen wie eine gefrorene Träne.
Ich zu sein, dieser hellwache Somnambulismus.
Wenn wir vor dem Spiegel stehen, kann ich nicht auf dein Spiegelbild zeigend sagen: „Da bist du ja!“
Woran erkennen wir, dass wir statt zu sagen, einer sei souverän, besser sagten, er sei arrogant, statt zu sagen, einer sei offenherzig und freimütig, er sei lax und geschwätzig, einer sei klug und scharfsinnig, er sei listig und verschlagen?
Tugenden, die wie die Statue der Frau Welt im Wormser Dom von der Rückseite betrachtet sich als glänzende Laster erweisen. Worte, voller Klang und hochsinniger Anmutung, die zu stinken anfangen, weil jene, die sie uns zurufen, durch die Kloake des Kulturbetriebs waten.
Im Nebelreich, da alle Bewertung schwankt, sind wir auf die Exempla autoritativer Zeugnisse angewiesen. Jesus galt den jüdischen Priestern als gefährlicher größenwahnsinniger Mann, der sich die messianische Berufung anmaßte und dafür mit dem Tod gestraft werden musste, die Stimme von oben, wenn wir diese Höhe über alle Höhen gelten lassen, bezeugte etwas anderes, seine wahre Abkunft.
Wir müssen uns im Zweifelsfalle in den wesentlichsten und heikelsten Punkten entscheiden, ohne unsere Entscheidung auf letzte rationale Gründe fußen lassen zu können.
„Liebe“ – unversehens bedeutet es: „Ich töte dich“ oder „Töte mich!“
Bucklige Seelen, die bei „Devotion“ an geküsste Füße oder die sklavisch-hündische Proskynese denken.
Wir können bekunden, dass wir etwas sagen, nur indem wir es sagen.
Wir können, um herauszustellen, dass unsere Äußerung unsere Äußerung ist, sie nur wiederholen.
Wir können, wenn wir jemandem etwas versprechen, unserem Versprechen die Formel voran- oder nachstellen: „Ich verspreche es!“ Diese können wir zwar wiederholen, nicht aber auf einer metasprachlichen Ebene einholen und fundieren.
Die subtile Gliederung des Organismus, Fühler, Augen, Ohren, Beine, zeigt uns die elementare Ordnung des Lebens.
Die Gliederung des Satzes, hinweisende Partikel, Namen, Eigenschaftswörter, zeigt uns die elementare Ordnung der Sprache.
Die Gliederung und Untergliederung der Sätze durch Demonstrativa, reflexive Fürwörter und Konjunktionen, zeigt uns die elementare Ordnung des Denkens.
„Ich – jetzt – hier“ ist der Nullpunkt des Koordinatensystems, von dem aus wir die Dimension und Reichweite unserer Äußerungen fixieren und bemessen.
Die Identifikation und Abmessung der von uns wahrgenommenen Äußerungen Dritter erfolgt gleichsam mittels geometrischer Projektion auf unser Koordinatensystem mit dem Ich als seinem Nullpunkt.
„Demnach“, „also“, „daher“ „folglich“ sind die Schlüsselbegriffe zur Gewichtung und konsistenten Strukturierung unserer gedanklichen Ordnung.
Der Organismus ist nach vorne ausgerichtet, denn vor ihm öffnet sich die Welt als Inbegriff von Gefahr, Nahrungsquellen und Möglichkeiten sexueller Reproduktion.
Es nimmt wunder, dass wir hinten kein Auge haben, lauert doch der Feind im Hinterhalt.
Wir sagen: „Er hat mir den Rücken freigehalten“, wenn wir erläutern wollen, was es mit der Freundschaft auf sich hat.
Der Freund ist demnach der Kampfgenosse.
Der Verrat bildet den Bruch der Freundschaft.
Der Freund verdient unser Vertrauen, insofern und solange wir davon ausgehen, dass er nichts wider uns im Schilde führt.
Der Unbekannte verdient unser Misstrauen, insofern und solange wir nicht wissen, ob er nichts wider uns im Schilde führt.
Die rhythmischen Zyklen von Wachen und Schlafen, Arbeit und Muße, Kampf und Spiel, Reden und Schweigen bilden die elementare Ordnung unserer Lebenszeit.
Die Blumen gehören einer anderen Gestalt des Lebens an, weil sie der zentrierten und intentional ausgerichteten und ausgespannten Ordnung und Organisation des Lebenswillens entbehren.
Allerdings finden wir noch fließende Übergänge bei den Einzellern und primitiven Blumentieren der Tiefsee.
Alle pflanzlichen und tierischen Lebewesen, wären sie der Sprache mächtig, hießen das Licht, die nährende Feuchte, die Nahrung, den Geschlechtspartner und ihre Nachkommen „gut“. Doch weil sich die schenkenden und gewährenden Lebensmächte ebenso im Schatten, der Dürre, dem Mangel und der Verweigerung entziehen können, erscheinen sie stets als ambivalent. Dies ist der vitale Mutterboden der ethischen Ordnung.
Was sich schenkt und was sich entzieht, ist dasselbe. Diese Einsicht ist auf höchster symbolischer Ebene der Nullpunkt der religiösen Ordnung.
Jubel und Klage, Hymnus und Bitte sind elementare religiöse Ausdrucksformen.
Merkwürdig ist die Verwurzelung des Selbsterlebens in der Elementarschicht des Gleichgewichtssinns und der Raumorientierung, des Tastens, Empfindens und Fühlens. Wir spüren, wie sehr es um UNS geht, wenn wir plötzlich über ein Hindernis stolpern, uns verlaufen haben, wenn ein kalter Schauer uns überrinnt, eine Mücke uns sticht oder wir uns an einer Flamme die Haut verbrennen.
Dagegen können wir ins Gespräch versunken auf der anderen Straßenseite eine Person wahrnehmen und uns hernach fragen, ob es nicht unser Freund Alexander gewesen ist.
Oder wir erblicken mir Erstaunen auf der anderen Seite unseren Freund Alexander und registrieren erst eine Weile später, was uns der Gesprächspartner gefragt hat.
Daher die seltsame Suggestion in der Vorstellung, ein androider Roboter könne visueller Wahrnehmungen fähig sein, weil wir aus ihr das elementare Selbstgefühl ausschließen. Wir stellen uns nicht vor, wie es sich für ihn anfühlte, würde er mit einem Eimer Wasser übergossen oder mit einer Stichflamme versengt.
Können wir uns vorstellen, ein Organismus ohne eine Art von Haut oder sensible Schale sei eines Selbstgefühls mächtig?
Das Paradies ist die Vorstellung eines Daseins jenseits der Moral, insofern die Grundlage moralischer Gefühle der Konflikt, die Ambivalenz, der Streit und der Kampf ist.
Doch ein Leben ohne Konflikt, Ambivalenz, Streit und Kampf ist kein menschenwürdiges Leben.
Im Konflikt, im Kampf gilt es sich zu bewähren, der Rest wäre ein Dahinsiechen im Futteral des stumpfsinnigen Komforts.
Glück ist nicht der eschatologische Wahn, sich am Tropf der kollektiven Fürsorge zu verliegen, sondern das Gefühl der Selbststeigerung, das sich in moralischen Formen der Selbstüberwindung zeigt, wenn wir einen Konflikt überwunden, einen Zwiespalt ausgeleuchtet, einen Kampf gekämpft haben.
Die existentielle Form der semantischen Wahrheit, die wir nur erschließen, wenn wir aus der Falschheit einer Annahme die Wahrheit ihrer Negation folgern, ist die Erfahrung und Schlussfolgerung darauf, was für eine Art Person wir sind.
Aus der Falschheit DEINER Annahme, ich sei gestern Abend im Konzert gewesen, folgern wir die Annahme, dass ich gestern Abend in Wahrheit woanders war. Zudem schließen wir daraus, dass du dich geirrt hast oder mich mit einer mir ähnlich sehenden Person verwechselt hast.
Aus der Falschheit MEINER Äußerung, ich sei gestern Abend im Konzert gewesen, folgern wir nicht nur, dass ich gestern woanders war, sondern darüber hinaus, dass ich entweder nicht bei Sinnen bin oder gelogen habe.
Die Folgerung aus der Unwahrheit meiner Aussage ist demnach nicht nur die Annahme der Wahrheit ihrer Negation, sondern der Schluss darauf, um was für eine Person es sich bei mir unter diesen Umständen handeln würde: einen Verrückten oder einen Lügner.
Äußerungen in der direkten Rede oder Ich-Form unterliegen also nicht nur der allgemeinen Wahrheitsbedingung, sondern darüber hinaus einer gleichsam ethischen Bedingung: dass wir sie zu verantworten haben.
Es sei denn, wir sind in einem Ausnahmezustand, der uns daran hindert, unsere Äußerungen zu verantworten, dann sind wir eben, was man verrückt oder von Sinnen nennt.
Die Fiktion des Als-ob, die wir bei den Protagonisten auf der Theaterbühne vorfinden, definiert eine andere Form des Ausnahmezustandes, in dem die Äußerungen weder im wörtlichen Sinne genommen noch im eigenen Namen gemacht werden: Der Schauspieler in der Rolle des Romeo erklärt nicht der Schauspielerin, die ihm als Julia gegenübertritt, seine Liebe (es sei denn es handelt sich um einen Fall von raffinierter oder dialektischer Doppel-Maskerade).
Nur in einer Welt, in der ich etwas im eigenen Namen sagen kann, gibt es das Phänomen des Wahnsinns und des Verbrechens (wenn wir hier wie die alten Theologen, aber auch wie Kant die Lüge cum grano salis als Hort des Verbrechens nehmen).
Das Dasein dieser Welt, in der wir leben, und des Ich, das wir sind, ist uns (gleichsam von außen betrachtet) so rätselhaft und fremd wie der Familie des Gregor Samsa in der Erzählung Kafkas „Die Verwandlung“ die Gestalt des Käfers, in die sich der Protagonist über Nacht verwandelt hat.
Allerdings können wir uns in Wahrheit nicht von außen betrachten. Versuchen wir es, zerfällt unsere Welt in den Staub des Anonymen und Namenlosen.
Denn lebten wir in einer Welt, in der wir nichts im eigenen Namen sagen könnten, sondern nur Aussagen über Dritte wie „N.N. ist gestern im Konzert gewesen“, ohne ausdrücken zu können, dass es sich bei N. N. um die Person des Sprechenden handelt, wäre uns die Möglichkeit, die Unwahrheit zu sagen oder zu lügen verwehrt. Wenn aber die Unwahrheit zu sagen, folglich auch, die Wahrheit zu sagen.
Die Naturwissenschaft (am wenigsten die Evolutionsbiologie oder die Evolutionspsychologie) gibt uns kein Bild der Welt, in der wir als sprechende Person leben.
Derjenige, der sich auf der Grenze zum Wahnsinn befindet, kann die Fremdheit des Ich-Seins erfühlen.
Dostojewski beschreibt diese schockhafte Erfahrung in den Anfällen des Fürsten Myschkin in seinem Roman „Der Idiot“.
Doch auch in der schlichten und alltäglichen Begegnung und im Gespräch liegt diese Fremdheit auf der Lauer, falls wir sie nicht auf die fade und blutleere Kommunikation und den Austausch von Meinungen im luftleeren Raum des sogenannten Diskurses entwirklichen.
Fremdheit wirkt in größerem oder geringerem Maße in der grundsätzlichen Asymmetrie von Ich und Du, Reden und Hören, Fragen und Antworten, Geben und Nehmen, Beobachten und Teilnehmen.
Ich kann alle möglichen Kontexte bemühen und in Rechnung stellen, den Anlass der Begegnung, das Thema und die Intention des Gesprächs, ein Lächeln, eine wegwerfende Handbewegung, Zögern und Schweigen, Gesten und Mienen, das Zentrum des fremden Ich, das sich in alledem manifestiert, bleibt mir in seiner Eigentlichkeit verborgen.
Doch kann dieses Zentrum des Eigentlichen auch dem Ich selbst verborgen sein. Mir helfen auch nicht all die Zeugnisse und Lebensäußerungen, die ich wie ein Detektiv oder Historiograph meiner selbst sorgsam zusammenstelle. Es ist ähnlich wie mit der Erfahrung, seine Stimme erstmals auf Band zu hören: Sie erscheint uns seltsam fremd und nicht zugehörig.
Wir können uns über die Aufzeichnungen unseres Tagebuchs ähnlich verwundern wie über die Autobiographie einer unbekannten Person.
Wir können uns an ein Liebesgeständnis erinnern (oder davon in unserem Tagebuch lesen) und dabei auf ein gleichsam rhetorisch-metaphorisches Missverständnis ähnlich dem stoßen, wenn wir wähnen, der Schauspieler in der Rolle des Romeo gestehe der Person, die die Julia verkörpert, seine wahre Liebe.
Wir können aber auch auf den merkwürdigen Fall stoßen, dass der Schauspieler sich gleichsam in der Rolle des Romeo vergisst oder besser darin selbst enthüllt und hingerissen von der vollendeten Sprache der Liebe Shakespeares nach und nach echte Liebe zu der Person, die die Julia verkörpert, empfindet.
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