Sichtschneisen II
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir wissen, worüber wir reden, wenn ich dir sage: „Gestern habe ich meinen Freund Peter im Park gesehen.“
Worüber wir reden, ist der Gehalt meiner Äußerung (in schulmäßiger Formulierung der Gegenstand oder das intentionale Objekt meiner Äußerung).
Du verstehst meine Äußerung auf Grund der Tatsache, dass du des Deutschen mächtig bist.
Du musst nicht wissen, wer mein Freund Peter ist, sondern nur, was es heißt, jemanden einen Freund zu nennen.
Du musst nicht wissen, ob ich entweder einen Freund namens Peter habe oder nicht einen Freund namens Peter habe.
Demnach ist dein Verständnis meiner Äußerung unabhängig von der Tatsache, ob sie wahr oder falsch ist. Denn meine Äußerung ist gewiss falsch, falls es sich herausstellt, dass ich keinen Freund namens Peter habe und folglich einen Freund namens Peter gestern im Park nicht gesehen haben kann.
Es ist evident, dass der Gehalt meiner Äußerung oder das intentionale Objekt des Sprechaktes nicht mit dem grammatischen Objekt des Satzes oder dem durch ihn repräsentierten visuellen Gegenstand identisch ist: Denn sollte ich die Unwahrheit gesagt haben oder unter meinen Freunden sich keiner namens Peter befinden, bleiben der Gehalt meiner Äußerung und dein Verständnis dieses Gehalts davon unberührt.
Du verstehst, was ich sage und meine, auch wenn du nicht weißt, ob was ich sage, zutrifft oder nicht, wahr ist oder nicht. Doch wenn du nicht verstehst, dass meine Äußerung eine behauptende Kraft hat, verstehst du sie nicht. Du mußt nicht wissen, dass sie wahr ist oder dass sie falsch ist, sondern dass sie entweder wahr oder falsch sein muss.
Das Verstehen einer geäußerten Behauptung ist demnach unabhängig von der faktischen Wahrheit oder Falschheit des Geäußerten, nicht aber von der prinzipiellen Wahrheitsbedingung, dass sie wahr oder falsch ist.
Wenn du meinen Freund Peter nicht kennst oder wenn ich keinen Freund namens Peter habe, kannst du den Gehalt der Äußerung verstehen, ohne dir unter dem Namen Peter das Geringste vorstellen zu können.
Nennen wir Vorstellungen schulmäßig mentale Bilder oder Repräsentationen, folgt daraus: Du verstehst, was ich sage, ohne dass dein Verständnis vom Aufrufen oder der Assoziation mentaler Bilder begleitet sein müsste.
Mitglieder schriftloser Völker mögen die Zahl der Schafe anhand der Finger oder der vorgestellten Finger abzählen. Du aber kannst die Summe der natürlichen Zahlen von 1 bis 100 nach der Gaußschen Methode bilden, ohne dir dabei etwas Besonderes vorzustellen.
Wir können die Abwandlungen eines musikalischen Themas in einer Bachschen Fuge im Wellengang ihrer Variationen wie Modulation, Umkehrung oder Krebsgang verfolgen, ohne uns auf mentale Bilder zu stützen, die uns dabei gleichsam über Wasser hielten.
Die Ton- und Akkordfolge, die wir hören, ist nicht identisch mit der Ton- und Akkordfolge der Partitur. Denn der Unterschied zwischen der Notenfolge auf dem Papier und der gehörten Tonfolge ist so groß wie der zwischen einem Toten und einem Lebenden.
Es ist alles andere als klar, wie das Ich-Bewusstsein es vermag, dem toten Buchstaben oder den toten Noten Leben einzuhauchen.
Die Tatsache, dass unser sprachliches und gedankliches Verstehen unabhängig vom Bestehen oder Nichtbestehen mentaler Bilder funktioniert, erhellt aus dem Gebrauch der Negation: Denn welches wäre das Bild eines negativen Tatbestands? Beispielsweise des negativen Tatbestands, der in folgender Äußerung dargestellt wird: „Wider Erwarten habe ich gestern meinen Freund Peter nicht im Park gesehen.“
Meine Äußerung „Ich habe gestern meinen Freund Peter im Park gesehen“ scheint ohne Verlust von Sinn und Gehalt übersetzbar in deinen Gedanken: „Er hat gestern seinen Freund Peter im Park gesehen.”
Doch das ist falsch. Denn meine Äußerung kann nur adäquat in einen analogen Ausdruck deines Gedankens übersetzt werden, wenn du dir etwa sagtest: „Er behauptet, was ich sinngemäß behaupten würde, wenn ich gestern meinen Freund Konrad im Park gesehen hätte, nämlich: Ich habe gestern meinen Freund Konrad im Park gesehen.“
Nennen wir dieses Verfahren der gedanklichen Übersetzung einer Äußerung in der ersten Person die perspektivische Projektion.
In der perspektivischen Projektion bleibt die Zentralperspektive des wahrnehmenden und sprechenden Ich-Bewusstseins erhalten.
Wir gehen davon aus, dass eine digitale Maschine wohl darauf programmiert werden könnte, bei passender Gelegenheit zu äußern: „Ich habe gestern meinen Freund Peter im Park gesehen.“ Doch wäre sie nicht in der Lage, eine perspektivische Projektion vorzunehmen und sich oder uns zu sagen: „Er behauptet, was ich sinngemäß behaupten würde, wenn ich gestern meinen Freund Konrad im Park gesehen hätte, nämlich: Ich habe gestern meinen Freund Konrad im Park gesehen.“
Das Ich-Bewusstsein wurzelt in den Leibempfindungen.
Die leibhafte Empfindung des süßen Geschmacks kann nicht mittels chemischer Analyse der Moleküle der ihn verursachenden Substanz, wie der Erdbeere oder des Zuckers, erklärt werden.
Der Säugling empfindet den süßen Geschmack, ohne sagen zu können „Das schmeckt süß“. Die Maschine könnte darauf programmiert sein, bei passender Gelegenheit zu äußern: „Das schmeckt süß“, ohne den süßen Geschmack empfinden zu können.
Freilich können wir vorgeben, einen süßen Geschmack zu empfinden, ohne ihn zu empfinden. Die Maschine könnte dies nicht.
Maschinen können nicht lügen, weil sie kein Ich-Bewusstsein haben.
Wenn wir annehmen, dass Säuglinge allen Anzeichen nach etwas Süßes als süß empfinden, schließen wir daraus, dass das Ich-Bewusstsein in einem sei es auch rudimentären Selbstgefühl wurzelt, das uns vorsprachlich gegeben ist. Ich ist keine Ableitung der Funktion, von sich sprechen oder „ich“ sagen zu können.
Die Empfindung der Süße erwacht auf der Zunge und verbreitet sich im Mundraum. Wer immer den süßen Geschmack der Erdbeere empfindet, wird nicht von sich sagen, dass er, der Empfindende, auf der Zunge erwache und sich im Mundraum verströme.
Die Empfindung der Süße hat keinen Gegenstand und die Äußerung „Das schmeckt süß“ kein intentionales Objekt.
Daraus schließen wir, dass die primären Ausdrücke für das Selbstgefühl wie die Äußerungen über Empfindungen keine Gedanken sind, weil sie die Wahrheitsbedingung von Gedanken, eben wahr oder falsch sein zu können, nicht erfüllen.
Die Äußerung „Das schmeckt süß“ ist gleichsam immer wahr und deshalb weder wahr noch falsch.
Wenn ich einen süßen Geschmack zu empfinden glaube, aber nichts Süßes zu mir genommen habe, wird meine Äußerung „Ich empfinde einen süßen Geschmack“ nicht in ähnlicher Weise falsifiziert wie die Äußerung „Gestern habe ich meinen Freund Peter im Park gesehen“, wenn sich herausstellt, dass ich keinen Freund dieses Namens habe.
Können wir sagen: Je sens donc je suis?
Das wäre wenig sinnvoll, denn unsere Äußerungen über das Bestehen oder Nichtbestehen von Sachverhalten oder die existenzquantifizierende Zuordnung eines Individuums zu einer definierten Menge unterliegen der Wahrheitsbedingung, nicht aber wie gesehen unsere primären Äußerungen über Selbstgefühle.
Wir könnten meinen, jemand habe etwas Falsches gesagt, wenn er eine Erdbeere verzehrend äußert: „Das schmeckt bitter.“ Aber dann hat er entweder tatsächlich einen bitteren Geschmack empfunden (weil etwas in seinem Nervensystem anders läuft als bei uns) und dann ist alles in Ordnung. Oder er versteht sich nicht auf den korrekten Gebrauch der Eigenschaftswörter für Geschmacksempfindungen, und dann ist ebenfalls alles in Ordnung, außer mit seiner Sprachverwendung. Seine Äußerung war nicht falsch, sondern unsinnig.
Der Empfindende ist gleichsam in die Empfindung eingehüllt.
Der Empfindende ist der Nullpunkt der Empfindung, von dem alle Koordinaten ausstrahlen, die wir nach den uns geläufigen Namen für Empfindungen benennen.
Wenn wir den Nullpunkt aus dem n-dimensionalen Koordinatensystem entfernen, bricht es zusammen.
Die Empfindung dauert mehr oder weniger lang. Ist derjenige, der empfindet, um die Zeitspanne gealtert, die sie anhält?
Derjenige, der gestern seinen Freund Peter im Park gesehen hat, und heute äußert: „Ich habe gestern meinen Freund Peter im Park gesehen“, muss dieselbe Person sein, ungeachtet der Tatsache, dass ein Tag vergangen oder er einen Tag älter geworden ist.
Wir unterscheiden die Zeit der Empfindung von der Dauer dessen, der empfindet.
Anfangs ist der Geschmack der Süße intensiv, dann wird er fader und verblasst. Nicht so derjenige, der den Geschmack empfindet.
Wenn du schläfst, bist du gleichsam nicht vorhanden, und wenn du aufwachst, gleichsam wieder da. Doch nicht so wie dein Freund Peter, der plötzlich aus dem Park verschwunden war, dir aber nach Stunden auf der Straße wiederbegegnet ist.
Denn solltest du glauben, Peter nach etlichen Stunden wieder auf der Straße gesehen zu haben, könntest du dich irren, weil es nicht Peter war, sondern sein Zwillingsbruder.
Wenn du aus dem Schlaf aufwachst, könntest du nicht dermaßen fehlgehen zu glauben, da seist du wieder, während es in Wahrheit dein Zwillings-Ich wäre.
Man kann nicht glauben, ein anderer sei an unserer statt erwacht.
Ja, man kann nicht einmal glauben, man sei erwacht oder wach. Denn zu glauben, man sei wach, implizierte glauben zu können, man sei es nicht.
Aber zu glauben, man sei nicht wach, impliziert das Gegenteil. Demnach sind solche Annahmen sinnlos.
Man kann zu träumen glauben. Doch nicht, ein anderer träume an unserer statt.
Das Ich ist weder komplex noch zusammengesetzt. Wir erinnern uns, doch wir sind nicht die Komplexion oder Summe unserer Erinnerungen.
Wir können uns in unseren Erinnerungen täuschen. Wie darin, gestern unseren Freund im Park gesehen zu haben. Doch wir können uns nicht darin täuschen, dass wir uns zu erinnern glauben.
Das Bild, wir seien Schatten an der platonischen Höhlenwand oder Träume in Gottes Traumbewusstsein, ist grandios (wie es Platon oder Borges ausmalen), aber schief und nur scheinbar tiefsinnig. Denn der Schatten oder der Traum kann nicht wissen, er sei Schatten oder Traum.
Wir sind ebensowenig Rollen und Masken auf der Bühne der Welt in einem Schauspiel, das Gott, die Gesetze der Evolution oder der Geschichte geschrieben haben: Der Schauspieler muss die Maske abnehmen können, um als Bürger nach Hause zu gehen und sich in seiner Küche eine Suppe aufzusetzen.
Wir können Rollen spielen und Masken aufsetzen und bleiben doch das von seiner Einsamkeit gezeichnete Ich, das sich in keiner Rolle völlig verlieren, unter keiner Maske völlig vergessen kann.
Einsamkeit als soziales Phänomen ist trivial und erklärbar, die Transzendenz des einsamen Ich ist weder trivial noch erklärbar.
Das lyrische Ich bedeutender Dichtung wie der Goethes, Hölderlins, Hofmannsthals, Georges, Rilkes und Benns ist eine perspektivische Projektion des ontologisch einsamen Ich.
Wir finden in großer Dichtung sinnfällige Ich-Symbole wie Quelle, Fluss, Blüte, Stern oder Wunde.
Der Ursprung von Dichtung und Religion ist die Ausgesetztheit des ontologisch einsamen Ich.
Hebt nicht die Gnade das Ich auf, wie diese Wunde nur der Tod schließt?
Die grausame Zerstückelung der dionysischen Ekstase ist ein Mythos des gezeichneten Ich.
Und jene, die in fremden Zungen in den Liebeshymnus einstimmen, sind sie verwandelt nicht mehr sie selbst?
Romantisch-dionysischer Mythos: Verschmelzung, Entrückung, Verlöschen.
Apollinischer Mythos: Dauer im Wechsel, Verwandlung ins Eigenste, wie Philomela singt vom Ursprung ihrer Wunde, aber singt.
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