Sichtschneisen I
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Ich kann dein Leben nicht leben, du nicht meinen Tod sterben.
„Es könnte alles anders sein“ – das ist Unsinn.
Wärst du ganz anders, existiertest du nicht als derjenige, der du jetzt bist.
Wäre alles anders, existierte derjenige nicht, der glaubt, sich dies vorstellen zu können.
Es gibt kein externes Kriterium, an dem gemessen alles als so oder anders gewertet werden könnte.
Einer nimmt einen fremden Namen an, einer schreibt unter einem Pseudonym:
Es ist derselbe, der gestern Hans und heute Peter gerufen wird; es ist derselbe, der gestern mit seinem Geburtsnamen und heute mit einem fiktiven Namen zeichnet.
Wäre es nicht derselbe, verlöre der Begriff „Pseudonym“ seinen Sinn.
Wäre ich morgen ein anderer, könnte ich von dieser seltsamen Metamorphose nichts wissen.
Die Schatten in Dantes Hölle sprechen mit der ihnen ganz eigenen lichten Stimme.
Der Priester, der eine Taufe vollzieht, auch wenn er während der Zeremonie von abscheulichsten Phantasien gequält worden ist, hat den rituellen Akt dennoch vollgültig vollzogen.
Der Täufling hat einen Namen, auch wenn der Priester beim Aussprechen des Namens an etwas ganz anderes gedacht hat.
Dieser Vorgang ist ein semantisches Modell der Benennung und der Konstitution von Sinn.
Doch eine Maschine ohne Bewußtsein hätte den semantischen Ur-Akt nicht gültig vollzogen.
Warum? Sie könnte nicht wissen, dass sie eine Maschine ist, deren semantische Handlungen Schein-Handlungen sind, weil sie per definitionem nichts weiß.
Eine Maschine kann nicht sprechen, nicht nur weil sie nicht wissen kann, dass sie eine Maschine ist, sondern weil sie nicht einmal wissen kann, dass sie existiert.
Die Maschine könnte nicht meinen, dass sie keine Maschine sei, so wie wir von seelischer Auszehrung heimgesucht oder wie manche verrückten Philosophen von der verrückten Idee besessen meinen können, wir seien keine Menschen, sondern Maschinen.
Dass etwas da ist, irgendetwas, und sei es ein flackerndes Nichts, bevor es ein Gesicht annimmt, diese Tatsache ist symmetrisch und gleichursprünglich damit, dass etwas für irgendeinen, für mich oder für dich, da ist.
Der Hinweis darauf, dass etwas da ist, ist gleichsinnig mit der Aussage, dass etwas in den Gesichtskreis dessen tritt, der sagen könnte: „Da!“
Es muss Ur-Namen, Ur-Zeichen oder Ur-Begriffe geben, die nicht mittels Kombination bereits bekannter Zeichen gebildet werden.
Ein solcher Ur-Begriff ist „ich“. Wir kommen nicht von der Verwendung von „du“, „er“ und „sie“ zum Begriff „ich“.
Ein anderer ist „dies da“, der Sinnhorizont aller Dinge und Ereignisse, die dem Ich widerfahren.
Ein anderer wiederum „nicht“, womit wir die Grenze zwischen dem, was uns, und dem, was anderen widerfährt oder sonstwie geschieht, ziehen.
Mithilfe der Negation durchfurchen wir das Feld des Sinns, an den Seiten häufen sich die irrelevanten Möglichkeiten oder die ins Unkraut gefallenen Samenkörner.
Die Möglichkeit, wer? zu fragen, deutet auf den ontologischen Grund der Sprache.
Wer hat es gesagt, wer spricht?
Auf die Frage wer? antworten wir durch Angabe eines Namens. Peter hat es gesagt.
Peter ist nicht die Summe aller möglichen Beschreibungen, die wir von Peter durch Auflistung von Eigenschaften geben können, Eigenschaften wie Geschlecht, Größe, Alter, Beruf, Krankheiten, Vorlieben.
Peter ist nicht die biologische und soziale Identität als eine beliebige Summe von Eigenschaften. Wir treffen ihn nach zwanzig Jahren wieder, er hat sein Geschlecht umwandeln lassen, seinen Beruf gewechselt, ist von der Kinderkrankheit genesen und spielt heute lieber Schach als Fußball. Aber es ist derselbe Peter, mit dem wir in die Schule gingen.
Wir unterscheiden die biologisch, psychologisch und sozial definierte Identität oder Persönlichkeit von der semantisch-ontologischen Identität, die wir mit dem Namen verbinden, den der Täufling durch den Taufakt erhält.
Wir könnten im ungünstigsten Falle anhand unserer Beobachtungsdaten nicht mehr ermitteln, ob der Mann, der morgens das Haus verlässt, zu dem wir ihn abends als unseren Freund Peter begleitet hatten, derselbe Mann, Peter, ist. – Er aber weiß es.
Peter muss nicht wissen, dass Peter das Haus verlässt, nur, dass er es ist und kein anderer.
Wer meint, diese Rose sei rot, während sie in Wahrheit gelb ist, mag sich irren, weil er vielleicht fehlsichtig ist oder nicht gelernt hat, das Farbprädikat „rot“ korrekt zu benutzen. Doch wenn er im Ernst meint, die Blume sei rot vor Zorn, scheint er sich nicht auf eine Weise zu irren, die wir einsehen und korrigieren können. Er hat den Horizont des uns alltäglichen Sinns überschritten und spricht aus einem anderen Sinnhorizont als dem uns geläufigen.
Vielleicht ist er ein Dichter. So würden wir Dichtung als Entwurf einer Welt betrachten, in der die uns geläufigen Antworten auf die Fragen nach der semantisch-ontologischen Identität Wer? und Was? ungewöhnlich und neuartig ausfielen. So spricht im 26. Gesang des 1. Buchs der Divina Commedia Dantes die Zunge einer Flamme für den in die Hölle verbannten Odysseus.
Wenn die Rede davon ist, eine Rose neige ihr Haupt, verbleiben wir im Umkreis konventioneller Metaphorik. Wenn wir hören, die Rose sei eine verwunschene Prinzessin, die ihren Duft demjenigen aufspart, der ihre Schönheit ehrt, ohne sie zu pflücken, vernehmen wir den echten Märchenton.
Die Negation ist das Tor zum semantischen Begriff des Sinns.
Wir reden von Peter, und schließen dabei alle Personen, die nicht Peter sind, aus dem Sinnhorizont aus.
Wir sprechen Peter alle möglichen Eigenschaften zu, und können dabei im Zweifel sein, ob er musisch begabt oder ein Banause, tapfer oder feige, ehrgeizig oder träge ist, doch wenn sich herausstellt, daß er nicht die Person ist, die wir im Park gesehen haben, sondern deren Zwilling, sprechen wir über einen anderen.
„Es könnte alles ganz anders sein“ – aber wenn es so wäre, wüßten wir es nicht.
Denn auch der dies sagt, wäre nicht mehr derselbe.
Also macht es keinen Unterschied.
Daraus schließen wir: Sätze, die keinen Unterschied erkennen lassen im Falle, dass sie gelten oder nicht, sind sinnlos.
„Wäre ich nicht geboren, gäbe es die Spezies Mensch nicht, hätte David Goliath nicht besiegt“ – das sind unsinnige Annahmen, denn die Welt, die sie antizipieren, ist von der unseren begrifflich prinzipiell verschieden und demnach für uns unzugänglich.
Peter kann seine Freundin Carla an seiner statt mir das Buch aushändigen lassen, das er versprochen hat, mir an besagtem Tage wieder zurückzugeben. Doch nur er selbst, nicht ein anderer, kann dieses Versprechen gegeben haben.
Wir können auch sagen, in den wesentlichen subjektiven Bezügen unseres Lebens können wir uns nicht vertreten lassen.
Die Tatsache, dass einer den roten Fleck dort als Rose sieht, ist eine andere ontologische Tatsache, als diejenige, die der Satz beschreibt, dass dort eine rote Rose ist.
Der Blick kann nicht auf den Inhalt oder die Beschreibung des Gesehenen zurückgeführt werden.
Wir können die Tatsache der Wahrnehmung oder das Dasein der subjektiven Welt nicht auf die wahrgenommenen Inhalte zurückführen.
„Dort geht Peter.“ Dieser Satz, wie alle Sätze, deren Inhalt aus der Beschreibung von Sinnesdaten oder Beobachtungen besteht, ist eine Funktion der Tatsache, daß es jemanden gibt, der den Satz aufgrund seiner Wahrnehmung äußern könnte.
Die Tatsache, dass einer spricht, gehört einer anderen ontologischen Ebene an als das, was er äußert.
Wer redet, führt sich gleichsam selbst im Munde, die von ihm geäußerte Rede kann jeder andere nachsprechen.
Die hier etablierten Begriffe wie ego cogitans, Selbstaffektion, Subjektivität oder Dasein sind Fingerzeige, aber ohne selbsterklärende Evidenz.
Eine Evidenz finden wir in der bemerkenswerte Tatsache, dass die originären Zeichen oder Symbole für die Ich-Instanz sowohl singulär als auch universell sind: Der Pfeil auf der Wanderkarte steht für den je Einzelnen, der daran seinen Standort erkennt, und kann von allen Verständigen gelesen werden.
Eine andere Evidenz gewährt uns die sprachliche Tatsache, daß die Bildung der reflexiven Fürwörter mich und mir, mit denen wir leicht selbstbezügliche Empfindungen, Handlungen oder Widerfahrnisse wie „ich fühle mich schwach“, „ich wusch mir die Hände“ oder „ich verletzte mir den Finger“, ausdrücken können, sich eines anderen Wortstammes bedient als die nichtreflexive Form des Nominativs ich.
Das deutet auf die elementare Einsicht hin, dass die mit „Ich“ gemeinte Instanz nicht das Produkt oder Erzeugnis einer Reflexion ist, also auch nicht gelernt oder antrainiert werden kann.
Der Spiegel sagt nicht: „Du bist es.“
Und würde er es sagen, müsstest du, um zu verstehen, was er meint, schon gewusst haben.
Die Schachfigur belegt ein bestimmtes Feld auf dem Schachbrett. Das ist ein Modell der Bestimmtheit des Sinns.
Doch oft ist das Bedeutungsfeld vage oder verschwommen, ohne dass wir vor den Kopf gestoßen sind oder aus dem Spiel aussteigen.
Wenn wir von unserem Freund, der am Schreibtisch noch an einer wichtigen Arbeit sitzt, mit einem Fingerzeig Richtung Sofa und die Zeitungen auf der Anrichte aufgefordert werden, uns noch ein bisschen zu gedulden, werden wir, auch wenn „ein bisschen“ ein unbestimmter Ausdruck ist, doch ungeduldig, wenn wir den Lokalteil schon ganz gelesen haben, ohne dass sich unser Gastgeber gerührt hat.
Mag für Gott ein Äon wie ein Regentropfen an der Fensterscheibe verrinnen, uns kann die kurze Zeit, die wir auf den Geliebten warten, eine Ewigkeit dünken.
Wir können das Warten als Zumutung oder Selbstentfremdung empfinden. Wir können auch gleichsam zu uns selbst zurückkehren und uns der Wirklichkeit der stets gewärtigen inneren Leere stellen. Denn diese wird nur kurzzeitig und scheinbar durch die Stillung physischer Bedürfnisse aufgefüllt oder verdrängt. In Wahrheit existieren wir wie Wartende an einem Gleis, das längst tot ist. Wenn wir auf dem aufgeplatzten Asphalt, aus dessen Ritzen Löwenzahn und Gräser sprießen, in Gruppen herumstehen, plaudern wir über mehr oder weniger exotische Reiseziele. Doch die Fahrpläne sind Makulatur. Da ragt der eine oder andere Erzähler heraus, der durch die Kühnheit, den Charme und die Großzügigkeit seiner Traumberichte fasziniert. So gelangen wir zur Einsicht, dass der uns gemäße Zeitvertreib auf die Flucht zu imaginären Zielen hinausläuft, die Dichtung.
Der Mensch, könnten wir sagen, lebt nicht vom Brot allein, er bedarf auch des Weins der Symbole.
Wir erkennen die Wirksamkeit der Symbole schon auf der natürlichen Ebene: So ist der Kuss das natürliche Siegel auf dem Bund der Liebe und Freundschaft, aber auch wie der des Judas des Verrats.
Die Redewendungen, die wir zum Gruß und Abschied, zu Lob und Tadel, Freude und Trauer, Anteilnahme und Beileid gebrauchen, gehören zu den Urformen unserer symbolischen Welt.
Der Dichter erweitert und vertieft die uns naturgemäß angewurzelte symbolische Welt, indem er ihr frisches Blut aus dem Adergeflecht seiner Verse zufließen lässt oder ein neues Sternbild an den leeren Himmel wirft, das dann und wann, in der blauen Stunde der Selbstversunkenheit, auf dem dunklen Wasser unserer Ratlosigkeit und Leere geisterhaft schimmert.
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