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Über die Aufmerksamkeit

09.02.2017

Sentenzen und Aphorismen zur Philosophie

Einer redet, der andere hört zu, unterbricht ihn aber dann, indem er sich für die Unterbrechung entschuldigt.

In einem lauschigen Café fängt ein Paar an sich heftig zu streiten. Betretenes Schweigen allerseits, vereinzeltes Lachen, scheues Spähen oder dreistes Glotzen auf das sensationelle Geschehen.

Zahnweh absorbiert die Aufmerksamkeit fast vollständig.

Die Störung, die Unterbrechung, der Ausfall im Organismus, im Bewußtsein, im Leben der Gruppe übergreifen die ihnen zugrundeliegenden unterschwelligen oder normalen Abläufe, und jetzt erst werden diese dem mehr oder weniger hellen Strahl der Aufmerksamkeit ausgesetzt. Der Verlust, die Abwesenheit, der Tod rücken den Wert und die Bedeutung des Vermißten, des Unerreichbaren, des Verblichenen ins Bewußtsein.

Der Zerfall ist das mehr oder weniger nahe oder ferne Schicksal des Organismus, des Bewußtseins, des Lebens der Gruppe: daher die erhöhte Aufmerksamkeit bei jedem Ereignis, das ihn heraufbeschwört.

Du gehst an einer Gruppe von Leuten vorbei, als der eine und andere in Lachen ausbricht. Du fragst dich: Bin ich gemeint? Habe ich verschiedenfarbige Socken angezogen, ist mein Haar so zerzaust, bin ich in ihren Augen eine komische, eine lächerliche Figur?

Die plötzlich hereinbrechende Gefahr für Leib und Leben erhöht die Aufmerksamkeit auf die Extremform des Wachbewußtseins.

Bei der Lektüre eines langweiligen Textes stößt du auf gravierende grammatische Fehler oder stilistische Schiefheiten: Du erinnerst dich später an keinen Inhalt, kein Detail des Gelesenen, aber der Artikel oder der Name seines Verfassers bleibt bei dir hängen aufgrund der Fehler, an denen du Anstoß genommen hast.

„Tod das Tor“: die radikalste religiöse Antwort.

Seelische Krankheit: Die Aufmerksamkeitsschwelle, die sich aufgrund einer außergewöhnlichen Störung wie einer Verwirrung, Bedrohung oder Verletzung impulsförmig erhöhte, bleibt auf Dauer hoch. Das Gefühl für die anhaltende Bedrohung beispielsweise sucht sich und findet die Bilder, Figuren und Masken, von denen sie auszustrahlen scheint.

Schwäche, Ohnmacht, Hinfälligkeit oder betäubende Leidenschaft suchen sich ihr Versteck, gehen in Deckung, verkriechen sich in Höhle und Gebüsch: Schlaf, Tod, Koitus, Rausch.

Aggressive oder herrische Gesten, Bilder, Masken, Symbole, mit denen sich der einzelne Geltung verschafft und die Gruppe sich Bahn bricht.

Das Gebrechen ist der Gegenstand erhöhter Aufmerksamkeit, die sich in Verlegenheit, Scheu oder Spott kundtut.

Warum löst der Hinkende, Stolpernde, Bucklige zugleich Entsetzen und Freude aus?

Die Gefahr der Intimität lauert in der körperlichen und seelischen Entblößung.

Die Vulgarität, die der Angst vor dem Alleinsein innewohnt: Anschluß zu suchen und um jeden Preis finden zu wollen, auch um den Preis der Selbsterniedrigung oder des Selbstverlustes.

Liebe ist ungeteilte Aufmerksamkeit.

Der bösartige Charakter sieht in den Mitmenschen zuerst und zuvörderst ihre Schwächen, ihre mangelnde oder fehlende Wehrhaftigkeit, die fatalen Augenblicke ihrer nachlassenden Aufmerksamkeit.

Die Dinge schärfer, deutlicher, intensiver wahrnehmen heißt auch, seiner selbst in erhöhtem Maße innewerden.

Dem Dichter wird der Baum, die Blume, der Stein zu einem Wesen, das ihn anschaut, ihn anspricht.

Er verwandelt sich in den Baum, die Blume, den Stein und spricht aus ihnen mit sich, aus ihnen von sich.

Das Dichter-Ich Goethes wird (in dem Gedicht „Gefunden“) aus der Indifferenz des Gewahrens durch den Anblick einer Blume herausgerissen, geweckt: Er gräbt sie vorsichtig aus und pflanzt sie in der Obhut seines Gartens wieder ein; sie erblüht neu – im Gedicht, als Gedicht, als dieses Gedicht.

Etwas mit erhöhter Aufmerksamkeit betrachten heißt blind sein für alles andere.

Das biologische Schicksal verurteilt uns zur Ungerechtigkeit. Die Mutter hat Augen in erster Linie für das Wohl und Wehe ihres Kinds. Summa ius summa inuria.

Die soziale Kommunikation kann auch als Kampf um Aufmerksamkeit beschrieben werden.

Charisma: der soziale Ort der höchsten Aufmerksamkeit.

Thomas Mann beschreibt im „Zauberberg“ das Phänomen des Charismas im Auftreten und Wirken der Figur des Mynheer Peeperkorn. Schon aufgrund seiner außeralltäglichen Physiognomie bannt er die Blicke der Umwelt: Er reckt sein vom Strahlenglanz der weißen Haare gekröntes Haupt königlich oder priesterlich empor; seine Stirn ist von Falten geistiger Entrückung und Qual gefurcht; seine tiefliegenden blauen Augen haften am Horizont; seine dionysisch zerrissenen Lippen stoßen hochmögende, tiefsinnige Abgerissenheiten hervor; seine langen weißen Finger mit den lanzenförmigen Nägeln greifen in den Nebel eines unaussprechlichen Grauens.

Peeperkorns Faszination rührt – scheinbar paradox – aus der Angst des Lebens: Angst, das Gefühl für das Leben nicht groß, nicht intensiv, nicht leidenschaftlich genug fühlen zu können. Er erlebt den Lebensgrund als Quelle eines unausgesetzten unerträglichen Brausens, Tosens, Sausens – so gipfelt sein pikareskes Dasein im „Zauberberg“ in einer Ekstase vor dem grausamen und grauenerregenden Lärm des herabstürzenden Wasserfalls im Wald: Dort erhebt er sich, um in prophetischer Pose letztmalig sublime Unverständlichkeiten hervorzustoßen, die augenblicks im großen Lärm und Tohuwabohu untergehen.

Peeperkorns Selbstmord gleicht einer Abdankung, einem Thronverzicht („abdication“ nennt ihn seine „Reisebegleiterin“ Clawdia Chauchat); er hat den Zerfall der Gruppe und der um ihn herum gesponnenen Beziehungen zur Folge, das soziale Leben degeneriert in Ödnis und Stumpfsinn – was einen Fingerzeig darauf gibt, wie die soziale Leistung des Charismas sich in der Bindung der Gruppe offenbart.

Die Aufmerksamkeit der Götter lebendig halten durch Opfer, Gebet, Gesang – als würde die Welt in Dämmerung und Schatten versinken, wenn sie ihre Augen abwenden.

Der physiologische Ursprung der Dummheit zeigt sich in der Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit über ein gewisses Niveau anzuheben oder sie im erforderlichen Maße aufrechtzuerhalten. Wenn uns also das Verhalten anderer unhöflich dünkt, weil sie uns zu wenig Aufmerksamkeit schenken, sollten wir ihnen in vielen Fällen nicht grollen, sondern sie bedauern.

Dagegen ist die Bosheit und das Verbrechen mit einer eigentümlichen Intelligenz und Schläue gepaart, wie sie sich in der erhöhten Aufmerksamkeit des asozialen Schädlings für die ungeschützten Stellen seiner Mitmenschen zeigt, für das in der Tasche glänzende Smartphone, das offenstehende Fenster und die angelehnte Tür oder die Geh- und Sehschwäche einer Greisin.

Techniken, die Aufmerksamkeit zu wecken, zu erhöhen, zu binden: das Repertoire an eingeschliffenen Gesten und eingeübten Intonationen des Rhetors, der Wechsel und die Variationen der Vortragsweisen, Akzente, Tonarten und der Instrumentierung in der Musik, visuelle Kontraste und sexuelle Anspielungen in der Werbung; auch Wappen, Embleme, Logos zeigen bisweilen raffinierte Techniken der Weckung und Steigerung der Aufmerksamkeit.

Horaz ist der Dichter, der mittels der poetischen Technik weit versetzter Bezugswörter die längsten, geschweiftesten Bögen an Aufmerksamkeit spannt und einfordert.

Störungen, Unterbrechungen, Unfälle und Katastrophen bleiben aufgrund der ihnen gewidmeten erhöhten Aufmerksamkeit länger im Gedächtnis haften, während normale Abläufe oft unterschwellig verlaufen, ohne ins Bewußtsein zu dringen. Deshalb fehlen in den Annalen der Geschichte langatmige Schilderungen glücklicher Momente oder friedlicher Zeitläufte.

Die kollektive Identität einer Gruppe definiert sich durch die Art und Intensität, mit der sie ihre Aufmerksamkeit auf die Siege oder Niederlagen ihrer Geschichte verteilt.

Die größte Aufmerksamkeit verlangt uns der Schmerz ab, den wir aufgrund einer Verletzung oder eines Verlusts erleiden. Fließen die Quellen des Glücks zu dürftig oder versiegen ganz und können sie den Schmerz nicht lindern, schwelt er als Gedächtniswunde am längsten fort.

Die Neigung, sich leicht von billigen Reizen ablenken zu lassen, halten wir für eine Charakterschwäche.

Aufmerksamkeit, die in Hingabe umschlägt, wenn wir in den Wogen der Symphonien Bruckners oder Mahlers versinken.

Zu reges Aufmerken empfinden wir leicht als Lauern und Ausspähen, es erweckt unser Mißtrauen.

Dagegen wächst unser Vertrauen oder keimt unsere Zuneigung, wenn wir in der Gegenwart eines anderen uns gleichsam halbwach unseren Gedanken und Empfindungen überlassen können.

Grammatisch betrachtet ist ein Satz wie „Seine Aufmerksamkeit für ihr Verhalten war groß“ eine Transformation des zugrundeliegenden Satzes „Er beobachtete sie sehr aufmerksam“, was uns darauf hinweist, daß Aufmerksamkeit ein Modus der Wahrnehmung ist, ähnlich sehen wir es an der Verwendung der Adverbien „genau“ und „oberflächlich“ in den Sätzen „Er hörte genau zu“ und „Sie sah nur oberflächlich hin.“ Aufmerksamkeit ist also eine Art und Weise, etwas zu sehen, zu hören, zu ertasten, zu schmecken. Die Kurzform „Der Schüler war unaufmerksam“ stünde demnach für die Vollform „Der Schüler hörte nicht aufmerksam zu.“

Doch können wir davon sprechen, daß einer seine Aufmerksamkeit auf ein Geschehen lenkt, und meinen damit, daß er sich des Geschehens in diesem Moment allererst bewußt wird. Bewußtsein aber impliziert, des Sachverhaltes innezuwerden, auf den wir zielen, wenn wir davon sprechen, daß einer sich eines Geschehens bewußt wird, nämlich: „Er nahm wahr, daß p (und dies aufmerksam)“, wobei wir mit der Klammer den Ausdruck abtrennen, der ein Anhängsel der Grundstruktur des Satzes darstellt. Aufmerksamkeit ist demnach der Modus eines Aktes (wie des Wahrnehmungsaktes) und kein eigenständiger Akt.

Wahrnehmungen, die wir in Sätzen über das Vorliegen eines Sachverhaltes darstellen können, werden wir nur einem Bewußtsein zuschreiben, das eine intentionale Struktur hat, die von eben solchen Sätzen abgebildet wird.

Sollen wir also nicht sagen, daß der Adler aus großer Höhe seine Aufmerksamkeit auf den Lauf eines Hasen oder der Hund auf das Herannahen seines Herrchens lenkt? Nicht, wenn wir den Begriff so verwenden wie in der Satzform: „Er nahm wahr, daß p (und dies aufmerksam).“

Wenn wir jemanden auf das Vorliegen einer Tatsache aufmerksam machen wollen, können wir dies mithilfe einer Zeigegeste andeuten, aber nicht sagen. Wir zeigen wohl auf unseren gemeinsamen Freund Peter, nicht aber auf die Tatsache, die wir meinen und in dem Satz ausdrücken: „Da kommt Peter.“

Wenn ich sehe, daß Peter über die Straße geht, ist meine Wahrnehmung korrekt und der Satz „Ich sehe, daß Peter über die Straße geht“ an Ort und Stelle ausgesprochen wahr. Er bleibt wahr, wenn er wahr ist, unabhängig davon, ob ich sehr aufmerksam das Geschehen verfolge (und auch sehe, daß Peter eine blaue Jacke und schwarze Schuhe sowie eine Einkaufstüte trägt) oder nicht (und nur Peter erkenne, wie er über die Straße geht). Das Wahrnehmungsprädikat ergänzende und modifizierende Adverbien haben demnach keinen Einfluß auf die Semantik der Wahrheit.

Das macht sie verwandt mit den ästhetischen Prädikaten wie „elegant“, „leichtfüßig“ oder „komisch“, mit denen wir der zugrundeliegenden Wahrnehmung des Gebarens einer Person ein konventionelles ästhetisches Etikett verpassen.

So wird der Satz, der unsere Wahrnehmung beschreibt, daß Peter schnell über die Straße geht, in seinem Wahrheitswert nicht berührt, wenn wir die adverbielle Bestimmung „schnell“ streichen. Dagegen wird der Satz „Der Schüler war unaufmerksam“ unvollständig und ungrammatisch, wenn wir das Prädikat streichen; wir bemerken, daß es sich bei dem Satz in Wahrheit um eine Kurzform handelt, die vervollständigt zwei Sätze oder die Verknüpfung zweier Sätze ergibt, nämlich: „Der Schüler hörte zu und dies tat er unaufmerksam.“ Wir können daraus wiederum einen einzigen Satz machen: „Der Schüler hörte unaufmerksam zu.“ Und aus DIESEM Satz können wir die adverbielle Bestimmung „unaufmerksam“ problemlos tilgen, ohne daß sich der Wahrheitswert des Satzes ändert.

Wir können unsere Achtung oder Mißachtung zum Ausdruck bringen, indem wir jemandem unsere Aufmerksamkeit zuwenden oder entziehen. Wenn wir jemanden, mit dem wir bis vor kurzem freundschaftlich verbunden waren, aufgrund eines Verhaltens, das wir als Verrat an unserer Freundschaft auffassen, ignorieren oder schneiden oder verächtlich an ihm vorbeischauen, drücken wir unsere Mißachtung oder unsere Verachtung aus.

Wenn wir jemandem unsere Aufmerksamkeit entziehen, um unsere Mißachtung auszudrücken, ist unsere Art des Wahrnehmens oder Nicht-Wahrnehmens keine rein sensorische Leistung oder das Versagen einer sensorischen Leistung, sondern wir lassen diese in eine konventionelle Rolle schlüpfen – denn durch Entzug von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit pflegen wir nun einmal unsere Mißachtung kundzutun.

Die soziale Zuteilung von Aufmerksamkeit ist demnach keine Funktion der Wahrnehmung, sondern ein durch Konventionen und Gewohnheiten geregeltes Spiel mit den Mitteln der Wahrnehmung, in dem wir immer sowohl Mitspieler als auch Spielfiguren sind. Wir können diesem Spiel nicht ausweichen, sondern sind lebenslänglich dazu verurteilt, es mitzuspielen.

Pathologien im Streben nach erhöhter Aufmerksamkeit finden wir reichlich in Biographien von Künstlern, Verbrechern und Psychopathen, bei denen es bisweilen exzessive und paradoxe Formen der Ruhmsucht annimmt. Hermostratos steckte den berühmten Artemistempel in Ephesos in Brand, um seinen Namen zu verewigen, was ihm augenscheinlich gelungen ist; Dichter und Denker oder „Dichter“ und „Denker“ befleißigen sich einer hermetischen, unverständlichen, mit Paradoxien gespickten Diktion, um sich ins Gespräch und Gerede zu bringen; schließlich drücken auch gewisse neurotische und mediale Formen des Voyeurismus ein krankhaftes oder zwanghaftes Streben nach erhöhter Aufmerksamkeit aus. Es gibt genügend Beispiele, die zeigen, daß Mord und Totschlag, Terror und Horror im Zeichen der Erhöhung der Aufmerksamkeit für eine Gruppe oder eine kollektive Identität verübt werden.

Es gibt Leute, Eintagsfliegen des Ruhms oder zerlaufende Fratzen medialen Rumors, die wie trotzige Kinder immer das Gegenteil dessen sagen und verkünden, was die eine oder andere ehrwürdige Autorität des Geistes gestern oder vorgestern gesagt hat; dann wieder gibt es welche, die genau das sagen und verkünden, was ein Salonlöwe papiernen Gebrülls gestern oder vorgestern gesagt und verkündet hat, aber nunmehr lispelnd oder schluchzend; andere wieder lassen Blut aus der mit einem Rasiermesser coram publico aufgeschlitzten Schläfe auf das vor ihnen liegende Blatt rinnen, um ihren Worten eine Intensität und Wucht zu verleihen, die sie nicht haben, die sie nicht verdienen.

Schließlich bemerken wir das unheimliche oder fatale Faktum, daß unsere Aufmerksamkeit von dem erregt, absorbiert und gleichsam fanatisiert werden kann, was wir den Segens- oder Unglücksstern des Augenblicks nennen können: im rechten Moment auf etwas aufmerksam zu werden oder gemacht zu werden, was einen nicht mehr losläßt, ob zum Guten oder zum Verhängnis.

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