Semantischer Antinaturalismus V
Bemerkungen über basale Annahmen
Wir sehen keine Farbflecken und nicht ihre Umrisse, sondern eine blaue Vase, wir sehen keine Flächen und auch keine Volumina, sondern eine grüne Abfalltonne, wir sehen keine bunten Muster, sondern einen Teppich. Von der Vase sagen wir, sie sei blau und oval, von der Abfalltonne sie sei grün und kastenförmig, vom Teppich, er habe Muster.
Wir sehen, daß die blaue Vase aus Glas besteht, und wissen daher, daß sie zerbrechlich ist, das heißt in Scherben geht, wenn sie zu Boden fällt.
Wenn wir sehen können, daß dies eine blaue Vase ist, impliziert Sehen eine Form des Wissens. Das zeigt sich daran, daß wir uns in der Annahme, die Vase sei blau, irren können, weil sie sich unter optimalen Lichtverhältnissen als grau zu erkennen gibt, oder daß es sich um keine Vase handelt, sondern um ein Trinkgefäß, das man freilich als Blumenvase benutzen kann.
Wir können demnach unter optimalen Bedingungen sehen und wissen, was uns vor Augen steht. Die Annahme, daß es sich bei dem Gegenstand vor uns um ein blaues Gefäß handelt, gilt uns als evident, weil sie keine Annahme darstellt, die wir weiter begründen oder aus als wahr vorausgesetzten weiteren Annahmen ableiten müßten, um sie für wahr zu halten.
Wenn wir sehen können, daß das blaue Gefäß auf dem Tisch aus Glas besteht, wissen wir zugleich, daß es zerbrechlich ist, denn eine wesentliche Eigenschaft von Glas ist eben die, zerbrechlich zu sein. Wir können demnach aufgrund der visuellen Wahrnehmung nicht nur eine Annahme hinsichtlich des Gesehenen machen, die augenscheinlich wahr ist, sondern auch eine Annahme folgern, die sich aus dem Wissen um eine wesentliche Eigenschaft des Gesehenen ergibt.
Und diese Annahme führt uns über den Gesichtskreis des Sichtbaren oder der Gegenwart zu dem, was wir möglicherweise oder in Zukunft sehen können, das heißt zu der Voraussage, daß die Vase zerbrechen wird, falls sie zu Boden fällt.
Wenn wir sehen, daß die Vase zu Boden stürzt, wissen wir, daß sie in viele Scherben zersplittert. Wenn wir die Scherben der Vase auf dem Boden bemerken, wissen wir, daß die Vase vom Tisch gefallen ist.
Und diese Annahme führt uns wiederum aus dem Gesichtskreis des Sichtbaren oder der Gegenwart zu dem, was geschehen ist oder sich in der Vergangenheit vor unseren Augen zugetragen hat, das heißt zu der Erinnerung daran, daß die Vase zu Boden gefallen ist.
Die Scherben am Boden sind ein Indiz oder Zeugnis des kürzlich vorausgegangenen Ereignisses, das wir in dem Satz erfassen: „Gerade eben ist die Vase vom Tisch gefallen.“ Dieser Satz drückt eine Erinnerung an das kürzlich eingetretene Ereignis aus, das wir selbst beobachtet haben. Diese Form der Erinnerung oder Vergegenwärtigung an nahe zurückliegende Ereignisse gilt uns als bewährtes Wissen. Nicht aber, wie wir einschränkend bemerken müssen, die Erinnerung an Ereignisse, deren Augen- und Ohrenzeuge wir selbst nicht waren und für deren Bestätigung wir auf das mehr oder weniger verläßliche Zeugnis anderer angewiesen sind.
Unsere Annahme, daß die Vase eben zu Boden gefallen ist, wird dadurch nicht gewisser, daß andere sie bestätigen können, weil sie ebenfalls Augenzeugen des Ereignisses waren, im Gegensatz zu der Erinnerung daran, vor vier Wochen in dieser oder jener Straße zufällig auf einen alten Bekannten gestoßen zu sein, die durch die Bestätigung des Bekannten einen höheren Grad von Gewißheit erlangt.
Unsere Annahme, daß diese Vase zu Bruch gehen wird, wenn sie zu Boden fällt, ist eine Folgerung aus dem Wissen um die Zerbrechlichkeit von Glas und insofern basal. Wenn wir die Bedingung ihrer Akzeptanz einschränken, indem wir beispielsweise mögliche Fälle von bruchsicherem Glas berücksichtigen, erhalten wir statt der Folgerung aus der wesentlichen Eigenschaft eine induktive Vermutung über die mehr oder weniger hohe Wahrscheinlichkeit darüber, daß die Vase zerbrechen wird oder nicht, und diese Vermutung ist natürlich nicht mehr basal, sondern relativ auf die Varianz solcher Bedingungen, wie der Tatsache, daß die Vase aus bruchsicherem Glas besteht oder daß sie von einem Tisch im Garten auf den weichen Untergrund von Moos fallen wird.
Die unmittelbare Wahrnehmung des gläsernen Behälters als Vase, die Erinnerung an das kürzlich beobachtete Herabfallen der Vase sowie die Voraussage ihres Zerbrechens sind demnach unter definierten optimalen Bedingungen basal und nicht abgeleitet.
Optimale oder geeignete Bedingungen dafür, daß wir aufgrund unserer visuellen Wahrnehmung, unserer Erinnerung und unserer Voraussicht zu gewissen und damit basalen Annahmen über die Gegenwart, die (nahe) Vergangenheit und die (nahe) Zukunft kommen, sind beispielsweise unser Sehvermögen und die gute Sichtbarkeit des Objekts, die Gesundheit oder Funktionstüchtigkeit unseres Kurzzeitgedächtnisses sowie unsere Fähigkeit, logische Folgerungen gemäß gültigen Schlußregeln zu ziehen.
Zu den elementaren Bedingungen unserer Fähigkeit, zu basalen Annahmen zu kommen, gehören die Strukturen von Raum und Zeit, wonach die Vase ein räumliches Objekt ist, das sich in der Zeit verändert, oder das Wirken der Schwerkraft, wonach die Vase in erdnaher Umgebung nicht in der Luft schwebt, sondern auf dem Tisch steht oder zu Boden fällt.
Das Sehvermögen können wir anhand eines Sehtests bestimmen, und dessen Kriterien für ein optimales Sehvermögen sind objektiv gegenüber unseren subjektiven Maßstäben guten und schlechten Sehens. Die Funktionstüchtigkeit des Kurzzeitgedächtnisses ermitteln wir anhand von psychologischen Tests, und deren Maßstäbe von der Korrektheit der Erinnerung sind objektiv gegenüber unseren subjektiven Einschätzungen. Die logische Kompetenz können wir anhand logischer Tests wie der Anwendung der Wahrheitstafeln auf beliebige Aussagevariable prüfen, und die Kriterien der Korrektheit der so ermittelten logischen Schlüsse sind objektiv gegenüber unseren subjektiven Einschätzungen von richtigen und falschen Schlußfolgerungen.
Die visuelle Kompetenz des Farbenblinden können wir nicht zum Maßstab der Fähigkeit machen, die Farbskala im Gesichtsfeld zu bestimmen; die herabgeminderte Gedächtnisleistung des Dementen nicht zum Maßstab für ein gesundes Erinnerungsvermögen und die Ignoranz des Debilen nicht zum Maßstab für die Kompetenz logischer Folgerung.
Die Tatsache, daß wir unsere Objektwahrnehmung und unsere Farbskala auf die Weise bestimmen, wie wir es nun einmal tun, können wir nicht wiederum rechtfertigen und als korrekt in einem absoluten Sinne verstehen; wir können uns ohne Verlust an logischer Kohärenz Lebensformen ausmalen, in denen es diese Form der Objektwahrnehmung und Farbeinteilung nicht gibt.
Wir können anhand unserer Wahrnehmung von Dingen und Ereignissen nicht Annahmen der Art beweisen oder rechtfertigen, daß solche Dinge und Ereignisse in der Außenwelt existieren; denn die basale Annahme, daß die Dinge und Ereignisse unabhängig von unserer Wahrnehmung existieren, ist die Voraussetzung beispielsweise für unsere Annahme, daß wir den Computer am Morgen dort wieder vorfinden, wo wir ihn abends verlassen haben.
Wir können anhand unserer Erinnerung an das beobachtete Herabfallen der Vase nicht die Annahme beweisen oder rechtfertigen, daß es eine Vergangenheit gibt; denn die basale Annahme, daß bestimmte Ereignisse vergehen oder vergangen sind, ist die Voraussetzung beispielsweise für unsere Annahme, daß die Vase soeben vom Tisch gefallen ist.
Die Gültigkeit logisch korrekter Schlußfolgerungen können wir aus demselben Grund nicht beweisen, aus dem wir sie nicht bezweifeln können, ohne ihre Gültigkeit vorauszusetzen; denn aus der Annahme, daß all unsere logischen Folgerungen fragwürdig sind, folgt die Annahme, daß die Annahme, daß alle unsere logischen Schlußfolgerungen fragwürdig sind, fragwürdig ist.
Nehmen wir an, wir träumen, wenn wir die blaue Vase auf dem Tisch sehen, wir träumen, wenn wir sehen, wie sie hinunterfällt und zu Bruch geht, und wir träumen, wenn wir uns daran zu erinnern glauben, daß die Vase soeben vom Tisch gefallen ist. Wir könnten sagen: Na und? Denn wenn wir unsere Träume sorgfältig protokollieren, sind alle Beschreibungen mit den Beschreibungen identisch, die wir von den Dingen und Ereignissen geben, ohne die Traumhypothese aufzustellen. Sie hat demnach keine Relevanz für das, was wir erfahren, und für das, was wir sind, und kann getrost ohne Verlust an erklärender Kraft gestrichen werden.
Wir können sagen, daß die basalen Annahmen über unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen und Erwartungen eine normative Kraft haben, insofern wir sie als Maßstäbe benutzen, um andere Annahmen des jeweils selben Typs zu bestätigen oder zu korrigieren. So kann die Vase nicht an derselben Stelle rot sein, an der wir einen blauen Farbeindruck haben, sie muß von oben betrachtet kreisförmig erscheinen, wenn sie von vorne betrachtet bauchig aussieht, ihre Scherben können sich nicht in Luft aufgelöst haben, wo wir sie am Boden haben liegen sehen, sie kann nicht zur Decke schweben, wenn wir sie über die Tischkante rücken, und die Gesamtheit ihrer Scherben muß dasselbe Gewicht aufweisen wie in unbeschädigtem Zustand.
Annahmen, die unseren basalen Annahmen widersprechen, halten wir für irrational oder widervernünftig; basale Annahmen, die der Ausdruck unserer kognitiven Fähigkeit sind, unter optimalen Bedingungen Wahrnehmungen, Erinnerungen und Voraussagen zu beschreiben, halten wir für rational oder vernünftig.
Doch ist die Vernunft kein Tischlein-deck-dich, welche die blaue Vase unserer Wahrnehmung auf magische Weise mit den Blumen von Sinn und Bedeutung dekoriert. Vielmehr ist die Vernunft nichts als die alltägliche Rede, mit der wir unsere basalen Annahmen ausdrücken und auf ihre Bedingungen beziehen. Sie schnurrt demnach tautologisch auf den Begriff unserer kognitiven Fähigkeiten zusammen, deren Funktionstüchtigkeit wir voraussetzen, wenn wir uns auf unsere basalen Annahmen verlassen. Dies ist genauso zirkulär, wie wenn wir auf die Frage, woher wir wissen, daß auf dem Tisch eine blaue Vase steht, antworten, daß wir es sehen.
Das ist ein ähnlich ernüchterndes Ergebnis, wie das, was wir aufbieten, um demjenigen Paroli zu bieten, der uns mit Behauptungen kommt wie derjenigen, seine kognitiven Fähigkeiten seien identisch mit neuronalen Vorgängen in seinem Gehirn. Wir können ihn nur darauf hinweisen, daß er es ist, was immer in seinem Gehirn geschieht, wenn er das Ding auf dem Tisch für eine blaue Vase hält, der sagt, dies sei eine Vase und die Vase sei blau.
Die basale Annahme, das Ding dort sei eine blaue Vase, beruht demnach nicht nur auf der Bedingung, daß wir über hinreichende visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten verfügen, sondern darüber hinaus auf der Bedingung, daß wir eine Sprache erlernt haben und verwenden, durch die wir mit der Einteilung des visuellen Farbraums vertraut wurden. Denn wenn uns einer mit der Behauptung überrascht, dies Ding, das wir als blaue Vase sehen, sei in seinen Augen eine grüne Vase, gehen wir davon aus, daß entweder etwas mit seiner Sehfähigkeit nicht in Ordnung ist oder daß er sich einer anderen Sprache bedient als wir.
Wäre derjenige, der dies Ding als grüne Vase bezeichnet, ein eineiiger Zwilling dessen, der sie als blaue Vase bezeichnet, könnten wir die sich in den beiden Äußerungen manifestierende abweichende Semantik nicht durch die neuronalen Vorgänge in beider Gehirn erklären, denn diese wären gleich. Folglich ist sie eine Folge eines unterschiedlichen Sprachgebrauchs, wonach der eine ein anderes Farbvokabular anwendet als der andere.
Daraus folgt, daß der semantische Gehalt solcher Wahrnehmungssätze keine eindeutige Funktion derjenigen neuronalen Vorgänge ist, die der Wahrnehmung zugrundeliegen.
In einer Kultur, in der keine Gefäße aus Glas gefertigt würden, um sie mit Blumen zu schmücken, verfügten wir über kein sprachliches Weltbild, das uns aufgrund der Wahrnehmung dieses blauen Dings zu der Annahme veranlassen würde, dort stehe eine blaue Vase auf dem Tisch. Demnach ist diese Annahme basal in Bezug auf das sprachliche Weltbild unserer Kultur.
Das kann nicht heißen, daß die Existenz blauer Vasen eine interne Relation zu einer Bedeutung hat, die es nur in unserem kulturellen Weltbild gibt.
Wenn der Angehörige einer fremden Kultur sagt, was er vor sich sieht, wo wir eine blaue Vase sehen, sei das Bild einer Gottheit, könnten wir keine prinzipiellen Einwände erheben, denn wir wissen nichts von seiner Mythologie.
Wenn allerdings dieselbe Person sagt, dies Ding sei bloß ein profaner Gebrauchsgegenstand und dies Ding sei das Bild einer Gottheit, hätten wir Zweifel an der Kohärenz dieser Aussagen.
Sagt jemand, dadurch, daß die Vase vom Tisch gefallen und zu Bruch gegangen ist, sei ein Sakrileg geschehen, das gesühnt werden müsse, würden wir ihn im Rahmen unserer basalen Annahmen und unseres sprachlichen Weltbilds vielleicht für verrückt halten. Aber wir könnten nicht sagen, seine Annahme sei falsch.
Würden wir zugestehen, daß der neuronale Vorgang, der unserer visuellen Wahrnehmung der blauen Vase zugrundeliegt, fähig wäre, einen mentalen Inhalt, nämlich ein Bild oder eine Vorstellung des Dings, das wir Vase nennen, zu generieren, könnten wir nicht wissen, ob dieser Inhalt mit dem semantischen Gehalt der Äußerung, dies sei eine blaue Vase, identisch ist. Denn um zu wissen, daß ein mentales Bild eine blaue Vase repräsentiert, müssen wir mehr haben als dieses Bild, und zwar den referentiellen Bezug des Bilds auf das, was es darstellt.
Wir nehmen kein Bild und auch keine sensorischen Daten wahr, wenn wir eine blaue Vase sehen, sondern eine blaue Vase.
Nehmen wir an, wir sehen nur, was uns die neuronalen Vorgänge im Gehirn als sensorischen Output zur Verfügung stellen, müssten wir annehmen, unsere Sinneseindrücke seien Wirkungen von Ursachen, von denen wir nicht wissen können, was sie an sich in der sogenannten Außenwelt sind.
Doch wenn wir den Mythos der mentalen Bilder aufgeben, kommen wir dahin, schlicht zu sagen, daß wir die Dinge sehen, wie sie sind.
Der schlaue, mit einem raffinierten visuellen System ausstaffierte Roboter, der angesichts der blauen Vase den Satz ausspuckt, dort stehe eine blaue Vase, kann weder verstehen noch wissen, was er meint, auch wenn sein Statement richtig ist. Denn der von ihm generierte Satz ist die Wirkung einer kausal hervorgerufenen Mustererkennung, doch sollte sie gestört worden sein und er gibt den Satz aus, daß dort eine rote Vase stehe, käme er nicht darauf, daß er sich geirrt hat, wenn er beim nächsten Versuch den richtigen Satz zum Besten gibt.
Naturalismus ist das Esperanto der Natur, von dem er annimmt, es sei die adamitische Ursprache.
Wir können über dasselbe Ding in der Sprache der Physik, der Religion oder der Dichtung sprechen. Keine Sprache ist die Originalsprache und keine läßt sich vollständig und ohne Sinnverlust in die andere übersetzen.
Doch das heißt nicht, daß die physikalische Beschreibung der Vase, ihr ritueller Gebrauch zum Schmuck des Altars oder ihre metaphorische Deutung als Gefäß vergänglicher Schönheit sich jeweils auf ein anderes Ding als die blaue Vase beziehen, die wir vor uns sehen.
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