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Semantischer Antinaturalismus IV

09.09.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Meine Aussage „Dort geht MEIN Freund Peter“ kann nicht die verbale Projektion meiner Wahrnehmung von Peter sein, denn deine Wahrnehmung von Peter resultiert in der Aussage „Dort geht DEIN Freund Peter.“

Hätte ich einen eineiigen Zwillingsbruder, so daß wir annehmen können, daß sich die neuronalen Prozesse in seinem Gehirn aufgrund unserer identischen Genausstattung nur geringfügig, aber nicht strukturell von den neuronalen Prozessen in meinem Gehirn unterscheiden, und wäre mein Bruder anders als ich nicht mit Peter befreundet, dann würde ich im entsprechenden Fall sagen: „Dort geht mein Freund Peter“ und mein Bruder: „Dort geht Peter.“

Die strukturell identische neuronale Verarbeitung der Wahrnehmung desselben Gegenstands hätte demnach bei mir und meinem Zwillingsbruder semantische Antworten zur Folge, die sich strukturell unterscheiden. Denn die Aussage „Dort geht mein Freund Peter“ besteht aus der Konjunktion der beiden Aussagen „Dort geht Peter“ und „Peter ist mein Freund“, während die Aussage meines Zwillingsbruders sich nicht in dieser Weise analysieren läßt.

Es ist bemerkenswert, daß wir Peter SEHEN beziehungsweise PETER sehen und nicht ein Lebewesen, das ein Mensch ist, der Peter heißt.

So sieht das Kind auch, wenn es gern mit dem Nachbarshund namens „Wuffeli“ spielt, kommt er ihm freudig entgegengerannt, nicht ein Tier, das ein Hund ist, der Wuffeli heißt, sondern seinen tierischen Spielkameraden Wuffeli.

Wenn du beobachtest, wie mir mein Freund Peter ein Buch überreicht, kannst du nicht SEHEN, welchen Sinn diese Geste hat: ob Peter mir, je nachdem, wie wir es verabredet hatten, das Buch schenkt oder leiht oder zurückgibt, weil ich es ihm vor zwei Wochen ausgeliehen habe.

Die Gesten sind motorische Bewegungen, die, ob sie ein Schenken, Leihen oder Zurückgeben bedeuten, DENSELBEN neurophysiologischen Input zu ihrer Ausführung erhalten; insofern kann der konventionelle oder zeremoniell geregelte Austausch von bedeutungsvollen oder zeichenhaften Gesten nicht als Funktion oder Wirkung neuronaler Prozesse differenziert dargestellt werden.

Peter könnte mir das Buch aushändigen und damit ein Geschenk machen; das Geschenk könnte aber gleichsam metonymisch als ein Zeichen derart überdeterminiert sein, daß er sich damit auch für sein ungehobeltes Gebaren oder seine schnippischen Bemerkungen bei unserer letzten Begegnung entschuldigen möchte. Die Übergabe des Buches wäre demnach beides: ein reales Schenken und eine zeichenhafte Weise der Entschuldigung.

Neurophysiologisch würden beide durch dasselbe neuronale Muster für den Input der afferenten Nervenbahnen zur Ausführung der motorischen Bewegung dargestellt, doch semantisch ist der Unterschied zwischen Geschenk und Entschuldigung nicht unerheblich. Demnach kann die semantische Überlagerung der Bedeutung bestimmter Gesten neurophysiologisch oder physikalisch nicht differenziert dargestellt werden.

Die Semantik kann nicht in die Algorithmen übersetzt werden, in denen man den Code der Neurophysiologie ausdrücken könnte, denn dieser ist rein syntaktisch gebildet.

Im Indien bedeutet die Geste, den Kopf seitwärts zu schlenkern, die bei uns nur ein Zeichen der Verneinung darstellen kann, das Gegenteil, ein Zeichen der Zustimmung. Wir können jedenfalls davon ausgehen, daß die neuronalen Muster, die den Input beider gestischen Bewegungen bewirken, sehr ähnlich sind, aber die Verwirklichung von gegensinnigen zeichenhaften Bewegungsmustern herbeiführen.

Mag die Wahrnehmung der nassen Straße mich zu dem Gedanken veranlassen, daß es geregnet hat; doch dieselbe Wahrnehmung kann auch den Gedanken herbeiführen, daß es nicht geregnet hat (weil die öffentliche Reinigung reichlich Wasser gesprengt hat).

Wie könnte der Gedanke, daß p, und der Gedanke, daß nicht p, in demselben neuronalen Muster derselben Wahrnehmung enthalten sein?

Wenn ich erfahre, daß soeben die Stadtreinigung die Straße gewässert hat, weiß ich durch einfache Folgerung, daß meine Annahme, daß es geregnet hat, falsch ist. Folgerungen sind keine Ereignisse wie das Fallen von Tropfen oder das Feuern von Neuronen; demnach kann durch das Feuern von Neuronen keine logische Folgerung dargestellt werden.

Der eine sieht in der Kippfigur der Hasen-Ente einen Hasen, der andere sieht in DERSELBEN Figur und mittels desselben visuellen Typs von Wahrnehmung, also auch aufgrund derselben neuronalen Aktivitätsmuster, eine Ente.

Wir sagen, es gibt grundlegende oder basale Annahmen, die wir keiner weiteren Prüfung unterziehen, um ihre Geltung zu untermauern, sondern hinnehmen. Solche Annahmen, wie die, daß ich einen Körper habe und der Körper von Peter der Körper einer Person ist, unterscheiden sich von gewöhnlichen Annahmen wie die, daß ich kleiner bin als mein Freund Peter oder meine Nachbarin grüne Augen hat, dadurch, daß wir ihre Geltung nicht bezweifeln oder gute Gründe für ihre Korrektur anführen können, wie das Maßnehmen, bei dem sich erweist, daß Peter genauso groß ist wie ich, oder wenn ich bei nächster Gelegenheit meiner Nachbarin tief in die Augen schaue, wobei sich herausstellt, daß sie blau sind.

Für die Annahme, daß der Körper von Peter der Körper einer Person ist und nicht wie der Körper seines Hundes ein Lebewesen, das keine Person ist, können wir keine weitergehenden Gründe der Rechtfertigung finden, denn es könnte eine Welt geben, in der Peter als ein Lebewesen aufgefaßt würde, das keine Person ist. Daher ist unsere Annahme, unsere Mitmenschen seien Personen wie wir selbst, eine basale Annahme.

Grundlegende Begriffe wie „Ich“ und „Welt“ und basale Annahmen wie „Ich habe einen Körper“ unterscheiden sich von allen anderen Begriffe und Annahmen. Wir können sie semantisch hypertroph nennen, denn anders als kontingente Begriffe und Aussagen scheinen sie apriorisch und notwendig zu sein, doch anders als logische Wahrheiten sind sie nicht tautologisch.

Wir können nicht ohne den Preis von Inkonsistenzen oder Paradoxien das Gegenteil basaler Annahmen bilden, indem wir etwa sagen: „Ich existiere nicht“, „Ich habe kein Bewußtsein“, „Ich existiere außerhalb der Welt“ oder „Ich habe keinen Körper.“

Wenn wir glauben, daß p, verhindert uns nichts, unter gegebenen Umständen oder eines Besseren belehrt, zu glauben, daß nicht p. Doch zu glauben, man existiere, impliziert, nicht glauben zu können, daß man nicht existiert. Und zu glauben, einen Körper zu haben, impliziert, nicht glauben zu können, keinen Körper zu haben.

Die Annahme, daß die Erde älter ist als wir selbst, stützen wir auf andere Annahmen, für die wir hinreichende Evidenzen und Belege haben. Die Annahme, daß wir einen Körper haben, stützen wir nicht auf derartige Belege, sondern setzen ihre Wahrheit voraus, wenn wir einen Zusammenstoß mit einem Passanten vermeiden oder einen Schmerz in unserem Fuß lokalisieren. Es erscheint uns unsinnig oder aberwitzig, aus der Tatsache, daß wir einen Zusammenstoß mit einem Passanten vermeiden oder einen Schmerz im Fuß lokalisieren, die Annahme begründen zu wollen, daß wir einen Körper haben.

Die Annahme, einen Körper zu haben, ist semantisch und begrifflich unterschieden von der Annahme, eine Wohnung oder ein Haus zu haben, das wir unser eigen nennen. Es wäre seltsam zu sagen, daß wir unseren Körper bewohnen oder daß wir unseren Körper unser eigen nennen.

Wir nennen ein Buch unser eigen oder unser Eigentum, wenn wir es verleihen oder verschenken können, was wir im wörtlichen Verstande mit unserem Körper nicht tun können. Wir können unseren Körper nicht wie ein Buch auf eine gewisse Zeit verleihen, bis er uns fristgerecht wieder zurückgegeben wird.

Was mein ist, könnte auch dein sein, doch gilt dies nicht von meinem oder deinem Körper.

Die Rede von meinem oder deinem Körper ist semantisch hypertroph.

Wir sagen nicht „Mein Körper ist gefallen“, sondern „Ich bin gefallen“, wir sagen nicht „Meine Hand hat sich verletzt“, sondern „Ich habe mir die Hand verletzt.“

Ich kann an der Garderobe meinen Mantel mit deinem Mantel verwechseln, aber nicht deinen Körper mit meinem.

Wenn wir erwachen, finden wir nicht unseren Körper wieder, wie wir unseren Mantel nach dem Konzert in der Garderobe wiederfinden. Erwachend erlangen wir mehr oder weniger allmählich das Bewußtsein zurück, indem wir uns der Lage, der Schwere und der Grenzen unseres Körpers bewußt werden.

Unsere Seele ist das Medium unseres Körpers, unser Körper das Medium unserer Seele.

Wenn wir uns in den Finger geschnitten haben, sagen wir nicht, daß unser Finger Schmerzen verspürt, sondern daß wir im Finger Schmerzen verspüren.

Wenn unsere Organe durch neuronale Muster im Gehirn repräsentiert und der Zusammenhang unserer Organe oder unser Körper durch eine Art Hyper-Muster im Gehirn repräsentiert werden, würde uns der Schmerz in einem Organ zu der Aussage veranlassen „Da ist ein Schmerz im Zeigefinger der linken Hand“ oder zu der Aussage „Im Zeigefinger der linken Hand dieses Körpers ist ein Schmerz“, doch nicht notwendigerweise zu der Aussage „Ich empfinde im Zeigefinger meiner linken Hand einen Schmerz.“

Sätze wie „Ich habe einen Körper“ gleichen einer semantischen Wucherung.

Der schizophrene Patient glaubt, er habe den falschen Körper oder er habe einen fremden Körper oder er sei fremd in seinem Körper. Er verstrickt sich in den Zweifel, ob er es ist, dessen Lippen sich bewegen und dessen Mund spricht.

Die Sibylle, die in einer Art Trance nicht eigene Worte, sondern Worte Apolls spricht, glaubte, der Gott habe sich ihres Körpers bemächtigt und ihre Mund spreche die von ihm eingegebenen Worte nach, wie es metaphorisch im Bild ihrer Vergewaltigung durch den Gott ausgedrückt wird.

Ich spüre, mit welchem Gewicht mein Körper auf dem Bett lastet. Doch das heißt mehr als zu wissen, daß mein Körper mit einem bestimmten Gewicht auf dem Bett lastet, wie ein dickes Buch sich aufgrund seines Gewichts in die Matratze eingräbt.

Den eigenen Körper wie etwa seine Schwere zu fühlen ist etwas anderes, als um seinen Körper und sein Gewicht zu wissen.

Das Körpergefühl ist eine Form des Selbstgefühls.

Lebten wir in der Schwerelosigkeit, hätten wir gegenüber unserem jetzigen Zustand ein vermindertes Selbstgefühl.

Die Beschreibung der Welt, die aus der bloßen Beobachtung der Tatsachen resultiert, beispielweise der Tatsachen hinsichtlich unserer Bewegungen und Verrichtungen, bliebe gleich, wenn wir weder über ein Selbstgefühl noch ein Körpergefühl verfügen würden. Es wäre eine Beschreibung aus rein naturalistischer Weltsicht. Folglich kann der Naturalismus kein Weltbild beschreiben, das unsere subjektive Existenz als integralen Bestandteil enthält.

Die naturalistische Weltbeschreibung enthielte alle Aufzeichnungen über die körperliche Beschaffenheit sowie die Bewegungen, Verrichtungen und Tätigkeiten deines Körpers, doch könnte sie dir diese Beschreibungen nicht als Beschreibungen deiner Person zusprechen, auch wenn sie korrekterweise auf dich zuträfen. Eine vollständige Beschreibung enthielte beispielsweise nicht nur die objektive Beschreibung deiner Hand und ihrer Bewegungen, sondern auch die Tatsache, daß es sich um DEINE Hand und DEINE Bewegungen handelt.

Im schizophrenen Weltbild hat sich das Selbstgefühl mehr oder weniger gravierend vom Körpergefühl abgelöst. In der paranoiden Variante dieses Weltbilds verschwimmen die Grenzen des Körpergefühls auf derart dramatische Weise, daß der Patient Personen oder andere Lebewesen der Umwelt in die porösen Grenzen seines Körpergefühls aufnimmt. Die Angst, von fremden Agenten aus dem Fernseher oder dem Computer heimgesucht oder von Mikroben und Parasiten zerfressen oder vergiftet zu werden, ist ein typischer Ausdruck der schizophrenen Diffusion des Körpergefühls und des Zerfalls des Selbstgefühls.

Die Diffusion des Körpergefühls kann als Zerfall des Selbstgefühls und vice versa beschrieben werden.

Wenn man vor dem Spiegel steht und mit dem Zeigefinger auf sein Spiegelbild deutet, zeigt man nicht auf sich selbst. Man muß die Zeigerichtung umkehren.

Ähnlich ist es mit dem Kranken und der Verschiebung und Abweichung zwischen seinem Körpergefühl und seinem Selbstgefühl. Er muß die Richtung seines Fühlens umkehren.

Wir können das Richtungsgefühl weder gewaltsam umbiegen noch aufgrund von Argumenten beeinflussen, wie ja der Paranoiker noch so geduldig vorgetragene Gründe für die Harmlosigkeit der Personen, von denen er sich verfolgt fühlt, mit dem Hinweis beiseitewischt, daß derjenige, der sie vorbringt, ihre verborgene Gefährlichkeit nicht bemerkt, von ihnen hinters Licht geführt oder bestochen worden ist.

Man kann dem Kind, das vergebens versucht, den rechten Handschuh über die linke Hand und den linken Handschuh über die rechte Hand zu stülpen, zeigen, wie es umgekehrt funktioniert.

In einer rein objektiv-naturalistischen Beschreibung können wir deiktische Ausdrücke wie „hier“ und „dort“, „links von diesem Baum“ und „rechts von jenem Turm“ sowie zeitliche Indikatoren wie „soeben“, „gleich darauf“ oder „bald“ nicht unterbringen, weil in ihr der Ort des Subjekts oder der Person fehlt.

Notwendige oder apriorische Zusammenhänge in der logischen Abfolge von Sätzen wie der Bejahung einer Aussage aufgrund ihrer doppelten Verneinung oder die Plausibilität und der induktive Wert einer Vermutung aufgrund des Überblicks über eine Reihe von regelmäßig eingetroffenen Ereignissen können in der objektiv determinierten Abfolge neuronaler Ereignisse nicht ausgedrückt werden. Die begriffslogische Folge von Sätzen kann nicht durch eine neurologische Abfolge von Ereignissen dargestellt werden.

Unsere alltäglichen Bewegungen, Verrichtungen und Tätigkeiten sind Resultate eines harmonischen Gleichgewichts von Leibempfindung und Selbstgefühl. Wir stülpen die Handschuhe über die Hände und fühlen, daß sie passen. Sehend und hörend finden wir unseren Weg durch das Gewühl der Menge. Wir bleiben bei Rot stehen und gehen bei Grün weiter.

Diese Bewegungen, Verrichtungen und Tätigkeiten könnten in einer naturalistischen Weltbeschreibung als Bewegungen von Robotern ohne Leibempfindung und Selbstgefühl dargestellt oder simuliert werden.

Den Hilferuf der alten Dame, der in der Einkaufspassage die Geldbörse gestohlen wird, verstehen die Passanten als Aufforderung, ihr zu Hilfe zu eilen und den flüchtenden Räuber zu verfolgen und zu stellen. Der Hilferuf, geäußert von einem Schauspieler auf der Theaterbühne, wird von den Zuschauern nicht als Aufforderung verstanden, auf die Bühne zu stürmen und ihm zu Hilfe zu eilen. Der erste Hilferuf ist die nichtfiktive Sprachhandlung einer Aufforderung, während der Kontext des zweiten Hilferufs die Bedingung einer echten Aufforderung nicht erfüllt, sondern diese wie die Erwähnung eines sprachlichen Ausdrucks im Gegensatz zu seiner direkten Äußerung in Anführungszeichen, wir können sagen, in die Anführungszeichen der Fiktion, setzt.

Die Passanten eilen zu Hilfe, WEIL die überfallene Dame um Hilfe gerufen hat, die Zuschauer eilen nicht zu Hilfe, OBWOHL der Mensch auf der Bühne um Hilfe gerufen hat. Semantische und logisch-grammatische Unterschiede dieser Art fallen gleichsam durch die zu weit oder grob gestrickten Maschen einer naturalistischen Weltbeschreibung.

 

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