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Semantischer Antinaturalismus III

07.09.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Es gibt keine semantische Brücke zwischen Sinnesdaten, Beobachtungen und Wahrnehmungen sowie den sie zum Ausdruck bringenden Protokoll-, Beobachtungs- und Wahrnehmungssätzen und jenen für unser Alltagsleben entscheidenden Sprachhandlungen, die wir eine Behauptung, eine Frage, eine Aufforderung, ein Versprechen oder eine Entschuldigung nennen.

Wenn ich dir den Weg weise und mit der Hand in die empfohlene Richtung zeige, kann dir die Wahrnehmung meiner ausgestreckten Hand nicht genügen, um zu verstehen, worum es hier geht.

Wenn du meine Geste verstanden hast, kannst du sie in der Form einer Behauptung oder einer Aufforderung wiedergeben, etwa: „Er weist mit der Hand in die Richtung, nach der ich gefragt habe“ oder: „Ich soll in die Richtung gehen, in die er mit der Hand zeigt.“

Wenn du einen alten Bekannten, der auf der unbelebten anderen Straßenseite geht, entdeckst und ihm „Hallo!“ zurufst (sein Name kommt dir im Moment nicht in den Sinn), wird er sich vielleicht nach dir umschauen und zögernd oder verdutzt mit dem Zeigefinger auf seine Brust deuten. Du wirst den Fingerzeig als Frage verstehen und sie etwa so wiedergeben: „Meinst du mich?“

Die Frage ist allerdings in der Wahrnehmung oder Beobachtung dieser Geste nicht enthalten.

Wie könnte man auch eine Frage wahrnehmen oder beobachten?

Gesten, die als Behauptungen, Aufforderungen oder Fragen verstanden werden können, sind keine natürlichen Ereignisse, sondern konventionelle Zeichen, die wir in entsprechende Behauptungs- und Aufforderungsätze oder Fragen übersetzen können.

Die Regeln der Übersetzung sind keine natürlichen Gegebenheiten, sondern konventionelle Festsetzungen.

Du beobachtest, wie ein Kind die heiße Herdplatte mit dem Finger berührt und laut schreiend die Hand zurückzieht und sich zu seiner Mutter flüchtet. Dies gilt uns als elementarer Vorgang des Lernens, den der Tragiker Aischylos in die Worte faßt: πάθει μάθος (pathei mathos), wir lernen durch Leiden.

Der erste Lernschritt läßt sich in der Form des folgenden praktischen Schlusses wiedergeben:

1.1 Wenn ich eine heiße Herdplatte berühre, erfahre ich Schmerzen.
1.2 Ich mag keine Schmerzen haben.
1.3 Dies ist eine heiße Herdplatte.
2 Also berühre ich sie nicht
.

Der zweite Lernschritt bedient sich zusätzlich einer induktiven Verallgemeinerung:

1.1 Alles, was heiß ist, verursacht bei Berührung Schmerzen.
1.2 Ich mag keine Schmerzen haben.
1.3 Dies ist eine heiße Herdplatte.
2 Also berühre ich sie nicht.

Das, was wir in jedem Falle wahrnehmen und beobachten können, steckt in dem Satz 1.3: „Dies ist eine heiße Herdplatte“. Der praktische Schluß inklusive der induktiven Verallgemeinerung fußt auf der in diesem Satz widergegebenen Wahrnehmung, doch weder die Schlußfolgerung noch die induktive Verallgemeinerung lassen sich aus der bloßen Wahrnehmung ableiten.

Das Kind lernt demnach nicht nur durch Konditionierung seines Verhaltens, wenn es aufgrund der einmaligen üblen Erfahrung in Zukunft die heiße Herdplatte in der Küche meidet; es lernt auch mittels Induktion, wenn es nicht nur diese, sondern in Zukunft alle heißen Herdplatten in allen Küchen meidet, und nicht nur alle heißen Herdplatten, sondern alles, was heiß ist.

Der dritte Lernschritt ergibt sich aus der Anwendung einer noch weitergehenden induktiven Verallgemeinerung, die in der Form von Maximen oder Lebensregeln resultiert:

Das Leben ist voller Gefahr.
Man kann sich auch an Menschen die Finger verbrennen.
Sei auf der Hut vor dem Feuer in dir selbst!

Diese Maximen entsprechen der „Common sense“-Weltsicht, wie wir sie bei den Weisheitslehrern des Abendlands, von Epikur bis La Rochefoucault, von Seneca bis Chamfort, antreffen. Die „Common sense“-Weltsicht ist eine Verallgemeinerung der Erfahrung des Kinds, das sich die Finger verbrannt hat. Ihre prinzipielle Annahme oder ihr nicht weiter reduzierbares Axiom besagt, das Leben sei der höchste Wert und die letzte Gewißheit.

Doch finden wir auch Maximen und Lebensweisheiten, die einer anderen Quelle und Weltsicht entstammen, die wir die mystische nennen können und bei Dichtern und Dichter-Philosophen wie Goethe, Nietzsche und Hölderlin finden:

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.
Bemesse den Wert des anderen nach dem Grad der Leidenschaft, die er in dir entzündet.
Stürze dich in die Flamme des Ursprungs, willst du verwandelt werden.

Die „Common sense“-Weltsicht gibt uns Hinweise, sich in den Grenzen der Welt, wie sie ist, einzurichten, ohne sich über ihren und den eigenen Wert zu betrügen; die mystische rennt gegen diese Grenzen an, auch wenn dieses Unterfangen aussichtslos scheint.

Maximen sind Aufforderungen, in bestimmter Weise zu handeln oder Handlungen zu unterlassen, wie die Finger von heißen Sachen zu lassen. Die Prinzipien, aus denen sie sich rechtfertigen, wie das Prinzip der Selbsterhaltung in der „Common sense“-Weltsicht und das Prinzip der Transzendenz bei der mystischen Weltsicht, können ihrerseits nicht gerechtfertigt werden, sondern sind ähnlich den Axiomen der euklidischen oder nichteuklidischen Geometrie das Resultat einer Entscheidung oder Festsetzung.

Der Naturalismus oder die Auffassung, daß die Welt aus materiellen Objekten und ihren Relationen besteht und wir selbst einschließlich unserer Gefühle, Motive und Überzeugungen in diese Kategorie gehören, scheint eine innige Verbindung zu der Weltsicht zu haben, in der das Prinzip der Selbsterhaltung das leitende darstellt.

Man kann der naturalistischen Weltsicht versuchen dadurch beizukommen, daß man ihre Begriffsstutzigkeit auf die Schippe nimmt, wenn sie Annahmen über objektive Vorgänge wie die Auslese umweltadaptiver Gene und Verhaltensprogramme mit der abstrusen Metaphysik eines Egoismus auf DNA-Ebene vermengt.

Doch selbst mit Einwänden wie dem moralischen Heroismus jener, die sich den äußersten Gefahren aussetzen oder um der Liebe willen leiden, gerät man in ähnliche Fallstricke wie auf Freuds Sofa, wo demjenigen, der nackt durch die Feuerwand der Entäußerung geschritten ist, die exzentrischen Formen der Hingabe als Formen der Selbstliebe in den Masken des Masochismus enthüllt werden.

Klarer ist es, die naturalistische Position bei ihren eigenen Voraussetzungen zu packen und ad absurdum zu führen, wenn man aufzeigt, daß sie behauptet, was zu behaupten ihre eigene Weltsicht verbietet. Denn die Annahme, daß alle Annahmen Projektionen oder Epiphänomene materieller, das heißt neuronaler Vorgänge sind, impliziert, ihnen das semantische Spezifikum, konzeptuelle Inhalte zu haben, abzusprechen.

Die Verlautbarung eines Satzes als Vorkommnis von artikulierten Lauten zu erklären, deren bezeichnende Kraft für die Erklärung keine Rolle spielen soll, ist naturalistisch und materialistisch konsequent, aber eine akademisch applaudierte Weise, sich selbst ins Bein zu schießen.

Die Aussage, keine Aussage habe einen begrifflich und semantisch autonomen Inhalt, ist eine umständliche Art, sich selbst zu widersprechen oder nichts zu sagen.

Der Naturalismus ist ein Selbstmißverständnis, insofern er seine grundlegende Annahme als Theorie über die materielle Natur des Lebens versteht. Doch ebensowenig wie die grundlegende Annahme der Psychoanalyse, das Bewußtsein sei ein Epiphänomen des Unbewußten, ein Teil der Theorie, sondern ein metaphysisches Axiom ist, das in die Erklärungen des Traums oder der Fehlleistungen eingeht, ist die naturalistische Grundannahme von der semantischen Irrealität der Sprache eine Theorie, sondern eine metaphysisches Axiom, das in die Erklärungen der sprachlichen Verständigung beispielsweise durch sogenannte verhaltenssteuernde Meme eingeht.

Begriffe wie „egoistische Gene“ oder „Meme“ sind moderne pseudowissenschaftliche Varianten von Begriffen wie „Äther“ oder „Phlogiston“.

Metaphysische Annahmen wie die Annahme, das Wesen des Lebens bestehe im Streben nach Selbsterhaltung, oder die Annahme, Bewußtsein und Sprache seien Epiphänomene einer materiellen Substanz, nämlich der neuronalen Prozesse des Gehirns oder der Strukturen des Unbewußten, beanspruchen, wahr zu sei. Aber sie können nicht wahr sein in dem Sinne wie schlichte empirische Annahmen wahr oder falsch sind, weil sie All-Aussagen über eine nicht spezifizierte Menge von Elementen darstellen. Solche Aussagen sind nur scheinbar gehaltvoll, in Wahrheit aber verkappte Definitionen des verwendeten Begriffs, ähnlich der Definition „Junggesellen sind unverheiratete Männer“, die zwar immer wahr, empirisch aber ohne Gehalt ist.

Die grundlegenden Annahmen des Naturalismus beanspruchen, nicht nur wahr zu sein, sondern auch nicht falsch sein zu können. Daher müssen sie Tautologien sein, denn nur Tautologien sind immer wahr. Sie haben allerdings den einen Nachteil, daß sie nichts Gehaltvolles und Sinnvolles über die Welt aussagen.

Der Mensch wird nicht nur durch Erfahrung klug, sondern auch durch Nachdenken. Nachdenken gleicht einem systematischen Spiel mit Gedanken. Der Gedanke an das zu vermeidende Leiden ist eine Spielkarte. Doch dann finden wir in dem Gedanken, daß der Verzicht und das freiwillige Opfer einen autonomen ethischen Wert haben, eine andere Spielkarte, mit der wir die erste ausstechen können.

Das Kind wird dazu erzogen, dem älteren Menschen den Vortritt zu lassen oder in der vollbesetzten Bahn aufzustehen, um der gebrechlichen alten Dame seinen Sitzplatz anzubieten. Wenn es dies tut, um die tadelnden Blicke oder beschämenden Bemerkungen zu vermeiden, die es von Seiten der Anwesenden treffen könnten, wenn es seiner Bequemlichkeit nachgäbe und nicht aufstünde, ist noch immer die erste Spielkarte im Spiel, Leiden zu vermeiden, denn auch emotionaler Stress wie Scham ist eine Form von Leiden.

Wir könnten demnach sagen: Wenn das Kind, ohne den befürchteten Tadel oder die soziale Scham vermeiden zu wollen, der alten Dame seinen Sitzplatz anbietet, hat es gleichsam die neue Spielkarte erworben.

Der Naturalismus ist nicht nur mit dem scheinbaren Prinzip der Selbsterhaltung im Bunde, sondern auch mit der eudämonistischen Ethik, wonach alle Formen des Verzichts verkappte Formen der Selbstbefriedigung sind. Wenn das Kind seinen komfortablen Sitzplatz zugunsten der gebrechlichen alten Dame räumt, dann nur, weil es gemäß dieser Lesart durch ein kompensierendes Gefühl wie den Stolz auf die vollbrachte Heldentat entschädigt wird. Demnach täte das Kind nicht, was es tut, vernähme es gleichsam nicht den stummen Applaus und die stummen Lobeshymnen der Umwelt.

Wir sehen den autonomen ethischen Wert des Verzichts, des Opfers und der Hinnahme von Leiden im Lichte dessen, was das Kind für gut hält, erst erfüllt, wenn es trotz einer drohenden Gefahr, ob in physischer oder moralischer Gestalt, tut, was es für gut hält. Es trägt am Sabbat seine Kippa, auch wenn es den tadelnden Blicken oder höhnischen Zurufen einer feindlichen Umwelt ausgesetzt ist. Es ergreift Partei für seinen stotternden oder hinkenden Freund vor der Menge pöbelnder Rowdies, obwohl es deren Gewalt physisch nicht gewachsen ist.

Nach naturalistischer Weltsicht kann die Passion Christi kein freiwilliges Opfer für die sündige Menschheit gewesen sein, weil es nach dieser Auffassung keinen freien Willen geben kann und sowohl der Begriff des Opfers als auch der Begriff der Sünde Ausdruck eines neurotisch erkrankten Willens zur Selbsterhaltung oder Masken des Masochismus darstellen.

Zu behaupten, es gebe keinen freien Willen, impliziert die Aussage, daß auch diese Behauptung kein Ausdruck des freien Willens und nicht das Ergebnis einer durch innere oder äußere Zwänge nicht limitierten autonomen Gedankenführung sein kann.

Der Naturalismus ist eine geistige Barriere oder ein semantischer Nebel, der uns die Einsicht in den Status grundlegender Begriffe und Annahmen versperrt. So gilt dem Naturalismus der Satz „Jedes Ereignis hat eine Ursache“ als eine grundlegende theoretische Annahme. Doch hat diese Annahme nicht den epistemischen Status einer kontingenten Aussage wie die Aussage „Wenn es regnet, wird die Straße naß“, sondern ist ein Schein-Satz, der mit dem Nimbus des Notwendigen daherkommt, wie wir ihn logischen Tautologien zusprechen. Er kann daher ähnlich wie die Behauptung, es gebe eine Außenwelt, nicht bewiesen werden.

Wir können nachweisen, daß es draußen regnet, doch die Behauptung, daß sich Ereignisse wie der Regen in der Außenwelt abspielen, ist sinnlos und entzieht sich einer kausalen Erklärung.

Der Satz „Der Regen spielt sich in der Außenwelt ab“ besagt nur scheinbar mehr als der Satz „Draußen regnet es“. Er hat eine semantisch hypertrophe Form, könnte man sagen, ähnlich wie der Satz: „Ich weiß, daß ich Schmerzen habe“ gemäß Wittgenstein nicht den Status einer kontingenten Aussage über einen mentalen Zustand hat, den ich mit Gründen bezweifeln könnte. Deshalb sagt er nicht mehr und kann nicht mehr sagen als der Satz „Ich habe Schmerzen.“

Grundlegende Begriffe wie „Ich“ und „Welt“ oder Sätze wie „Alles hat eine Ursache“ und „Es gibt eine Außenwelt“ sind gleichsam logische Schatullen oder Etuis, die von anderer Beschaffenheit und Struktur sind, als das, was sich in ihnen befindet oder was wir in sie hineinlegen.

Zu fragen und zu untersuchen, warum die Straße naß geworden ist und den Regen als Ursache anzugeben, heißt das Schema solcher Fragen und Untersuchungen zu verwenden, das wir selbst nicht befragen und untersuchen, das wir nicht begründen oder rechtfertigen können, sondern entweder anwenden oder nicht anwenden. Denn die Aussagen, die wir mittels Anwendung des Schemas begründen, können selbst kein Grund für seine Anwendung sein.

Ein solches Schema und viele andere dieser Art hält die Sprache für uns bereit. Doch können wir uns Sprachen ausdenken, deren Ausdrucksarmut das Fragen und Forschen nach dem Ursache-Wirkung-Schema nicht erlauben würde.

Die falsche Annahme, daß 2 + 7 = 11, oder die wahre Annahme, daß 2 und 7 nicht 11 ergeben, können keine Inhalte neuronaler Ereignisse im Sinne der naturalistischen Grundüberzeugung von der Reduktion aller geistigen Prozesse auf physikalische Prozesse sein. Denn zum einen haben physikalische Vorgänge keinen konzeptuellen Inhalt und zum anderen können neuronale Ereignisse keine Fehler machen, sondern nur versagen, und sie können keine Wahrheiten ausdrücken, sondern nur funktionieren oder nicht funktionieren.

Die grundlegenden Annahmen des Naturalismus sind nicht falsch, sondern inkonsistent.

 

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