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Am semantischen Nullpunkt

07.06.2019

Vom Duzen und Siezen

Jemandem das Du anbieten, das ist oder war einmal eine hohe Schwelle einer Begegnung, in der, nachdem man sie freudig, dankbar und erhoben genommen hatte, die frühere Anrede in der Höflichkeitsform noch lange nachklang.

Diebe, Halunken, Gauner duzen sich aus Instinkt – Instinkt der Zugehörigkeit, der einander spiegelnden Verworfenheit, der geteilten Gefährdung.

Aber auch die meisten Mitglieder von Vereinen oder Solidargemeinschaften pflegen sich zu duzen – aufgrund der Nähe von Herkunft, Erziehung, religiösem Bekenntnis oder Weltanschauung.

Der Assistenzarzt siezt den Chefarzt, der Chefarzt duzt seinen Kollegen, mit dem er Tennis spielt.

Die über Gruppen, Schichten und Klassen ausgewogen verteilte Form des Siezens und Duzens, wie sie die deutsche Sprache ermöglicht, gehört zu den identitätsstiftenden Distinktionen – wird sie geschleift oder egalitaristisch plattgemacht, ist dies ein Symptom kulturellen Niedergangs.

Die Anredeformen können in rituell und zeremoniell durchformten Kulturen sowohl verbal als auch nonverbal durch einen Fächer von Gesten ausgedrückt werden wie im asiatischen Kulturkreis.

Der Machthaber gibt dem Unterworfenen, dem Gefangenen, dem Lagerhäftling weder die Hand noch läßt er sich von ihm in die Augen schauen – aber er duzt ihn; hier ist das Duzen ein Zeichen der Demütigung und Erniedrigung.

Der dümmlich-beflissene Lehrer und Dozent, der seinen Schülern und Studenten gleich beim ersten Auftritt das Du anbietet – er wähnt, es sei eine Geste der Offenheit und Dialogbereitschaft –, begreift nicht, daß er damit seinem Unterricht den Ernst entzieht und die Autorität der bedeutsamen Mitteilung, so sie denn bedeutsam ist, untergräbt und dabei Gefahr läuft, sich der Lächerlichkeit einer pädagogischen Hanswurstiade preiszugeben.

Der egalitäre Anarchist, eine spirituell meist bösartige Kreatur, duzt einen jeden wie Hinz und Kunz, weil er sich selbst nicht achtet. Der niedere Instinkt oder der Geist des Neides und der Rache verabscheut alles Höhere, Reine, Strahlende, kurz das schöpferische Licht, das seine Häßlichkeit und Gehässigkeit offenbart.

Der Journalist, der Parasit und Zwischenhändler der Zeichen, glaubt sich ebenbürtig und in Augenhöhe mit dem Sprachgenie, das sie einmal geprägt hat, und ruft seinem Denkmal augenzwinkernd ein gönnerhaftes Du zu.

Je weniger Anredemöglichkeiten die Kommunikation eröffnet, umso eintöniger wird sie; daraus folgt naturgemäß der Umkehrschluß: Je mannigfaltiger und diffuser unsere Anredemöglichkeiten, desto komplexer und riskanter wird die Kommunikation.

Indes, die Mannigfaltigkeit und Differenziertheit des sprachlichen Umgangs impliziert nicht eo ipso eine Mannigfaltigkeit und Nuanciertheit des sprachlichen Ausdrucks: Das Duzen der Vagabunden, Huren und Diebe ist ein anderes als das der Kinder, der Jugendlichen oder der Liebespaare, das Siezen zwischen Richter und Staatsanwalt ist ein anderes als das zwischen Richter und Angeklagtem.

Sagen wir es in einer bündig-trockenen Formel: Kommunikativ exponierte sprachliche Kundgaben wie die Gruß-, Höflichkeits- und Anredeformeln sind im Normalfall semantisch überdeterminiert oder mehrfach codiert.

Normalfall heißt: Wir leben und reden in Mustern und Schablonen, nur im Ausnahmefall erlauben wir uns eine Zunahme oder Öffnung zum Unerwarteten, Unvorhergesehenen, Unwahrscheinlichen, kurz: eine Zunahme an kommunikativer Kontingenz.

Ein unvorhersehbarer, unerwarteter und abrupter Wechsel vom Siezen zum Duzen und umgekehrt schließt der Normalfall oder das soziale Normmuster aus. Warum? Nun, mit einem Wildwuchs von Irregularität und Spontaneität steigern wir auch den Grad an Unsicherheit und möglicher Verwirrung.

Das Muster oder der Normalfall: Der Lehrer duzt die minderjährigen Schüler, die Kinder siezen den Lehrer. Das Liebespaar duzt sich, würde die Geliebte mitten in der zärtlichen Umarmung den Liebhaber zu siezen beginnen, wäre die Verwirrung und Verunsicherung auf seiner Seite denkbar groß.

Die Klischees, Stereotypen, Formeln der Anrede oder allgemein gesprochen des verbalen Austauschs sehen harmloser aus, als sie in Wahrheit sind: Denn sie vermindern die fühlbare Kontingenz der sozialen Situation. Der Ausdruck für die unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleibende oder ungefühlte und aus dem Bewußtsein ausgeblendete Kontingenz und Unwahrscheinlichkeit eben dieser Situation ist unser Eindruck, es müsse so sein, alles gehe mit rechten Dingen zu oder sei natürlich und selbstverständlich.

Wenn wir zum Vorstellungsgespräch gehen, entsprechen wir im Normalfall der Erwartung des Personalchefs, gesiezt zu werden. Wenn sich aber in der Firma alle duzen, sind wir der Möglichkeit beraubt, das mit der höflichen Anrede verknüpfte Distinktionsmerkmal anzuwenden und uns selbst auf diese Weise zu distinguieren.

Oft verbinden wir das Duzen mit einem bestimmten im täglichen Umgang erwachsenen Vertrauen zwischen den Beteiligten. Doch dies ist nur vordergründig richtig. Denn Vertrauen ist die allgemeine Basis oder das Grundkapital an kommunikativer Zufallsvermeidung und gegenseitiger Verhaltens-, Rollen- und Statusversicherung, von dem wir annehmen oder jedenfalls hoffen, es werde sich in direkter Proportion mit dem Maß der Erfüllung unserer gegenseitigen Erwartungen verzinsen und anwachsen; ohne diese Hoffnung würden wir es erst gar nicht anlegen. Das Duzen dagegen ist eine Sonderform der Verzinsung des Grundkapitals namens Vertrauen, die wir Vertraulichkeit, persönliche Nähe und Intimität nennen.

„Er hat mich nicht gegrüßt!“ – „Die Verkäuferin, sie könnte meine Tochter sein, hat mich einfach geduzt!“ – Mit solchen und anderen geläufigen Irritationen über eine uns zugemutete Verletzung sozialer Gepflogenheiten drücken wir die Erwartung des sprachlichen Musters oder den in uns tief verwurzelten Wunsch nach einer Reibungen, Konflikte und Mißverständnisse dämpfenden sozialen und hierarchischen Ordnung aus.

Die Figuren Kafkas haben eine schmutzig-diffus schillernde Aura, die ihre Zugehörigkeit und ihren Status unklar macht und verwischt, und dies nicht nur anderen, sondern auch sich selbst gegenüber. Die Richter im „Prozeß“ schmökern während der Gerichtsverhandlung in pornographischen Heftchen, die Frauen und Mädchen, auf die sich der Angeklagte einläßt, stehen in einem trüben, intimen, aber nicht harmlosen Verhältnis zum Gericht oder sind Mätressen der Gerichtsdiener oder Richter. Kafka experimentiert hier am narrativen Stoff mit Modellen der Unvertrautheit, die unsere selbstverständlich gewordenen Modelle, Bilder und Erwartungen an glatte und flüssige soziale Interaktionen außer Kurs bringen. Das Grundkapital an Vertrauen ist entweder aufgebraucht oder wie Schnipsel zerrissener Prozeßakten in die labyrinthischen Gänge des Gerichts zerstreut, die Unterschiede zwischen Nähe und Ferne, Vertrauen und Intimität, Antlitz und Maske sind verwischt. Sich auf du und du mit dem Schankmädchen einzulassen, das ein für sie selbst nicht ganz durchschaubarer Teil des Gerichts ist, kann die Identität des Protagonisten schwächen und seine schwankende rechtliche Stellung zum Kippen bringen; mit jeder Vertraulichkeit, jedem Kuß, jeder Umarmung kann er sich tiefer in das urtümlich verschlungene Gestrüpp der Gesetze verstricken.

Die Verwendung der Personalpronomen dient sowohl der Verortung der Teilnehmer in der Topographie der sozialen Interaktion als auch der Selbstvergewisserung. Jemand, der ich sagt, tut dies im Horizont des Topos eines virtuellen „wir“; ebenso vernimmt das Echo eines virtuellen „wir“, wer du sagt. Wir duzen und wir siezen Mitglieder der Eigengruppe („wir“); wir duzen aber nicht ohne weiteres Mitglieder einer Fremdgruppe („sie“).

Das Du und das Sie, das wir in der Anrede gebrauchen, wirft jeweils einen anderen Schatten auf das Ich, das redet; die Form der Anrede strahlt auf den Redenden reflexiv zurück.

Pathologische Ich-Störungen können an der diffusen und konfusen Verwendung der Personalpronomen und Anredeformen ausgemacht werden: ein Tier oder Kleinkind oder das eigene Spiegelbild zu siezen, von sich selbst nur in der dritten Person Einzahl oder Mehrzahl zu sprechen oder von seiner eigenen Frau als „es“ zu reden oder sie in der Pronominalform „wir“ gleichsam nur mitlaufen zu lassen, deutet auf eine Verwischung und Auflösung der Identitätsgrenzen hin.

Hölderlin pflegte sich von den Besuchern im Turmzimmer zu Tübingen mittels Verwendung gesuchter und exquisiter Anredeweisen wie „Euer Durchlaucht“, „Hochwürden“, „Heiliger Vater“, „Ihre Exzellenz“ zu distanzieren – Floskeln, die man als schizophasische Byzantinismen bezeichnen könnte, wenn man bedenkt, daß sie auf höfische Sprachmanierismen zur Ehrbezeigung vor dem Thron wie dem zu Byzanz zurückgehen.

Gewiß hielt sich Hölderlin die Besucher auf diese ausgefallene Art vom Leib („Euer Exzellenz die Hand zu geben oder neben Ihnen, Euer Durchlaucht, Platz zu nehmen, bin ich nicht würdig“); gleichzeitig dienten ihm die exaltierten Höflichkeitsanreden aber auch dazu, seinen eigenen Staus zu erhöhen („Exzellenz würdigt mich einer Visite“).

Die mit den Anredeformen und Personalpronomen semantisch aufgespannte kommunikative Topographie läßt sich von außen betrachtet in ein zweidimensionales kartesisches Koordinatensystem eintragen: Im Nullpunkt steht „ich“, auf der Abszisse und der Ordinate steht in der Nähe zum Nullpunkt „du“ und in weiterer Entfernung „Sie“; in einer anderen Version sehen wir im Nullpunkt „wir“, in der Nähe zum Nullpunkt „ihr“ und in weiterer Entfernung „sie“. – Von innen betrachtet ergibt sich ein kugelförmiges Gebilde mit zwei Schalen, dessen Mittelpunkt mit „ich“ gekennzeichnet ist, und dessen innenliegende Schale mit „du/ihr“, dessen außenliegende mit „sie“ etikettiert ist.

Wir könnten für den speziellen Anwendungsfall traditionell-aristokratischer oder höfisch-ritueller Gemeinschaften die Höflichkeitsanreden (Sie, Ihr, Euer) auch auf der positiven vertikalen Achse des Koordinatensystems anordnen; die neutral oder pejorativ konnotierten Pronomen wie „du, „er“, „es“ trügen wir dann auf der negativen vertikalen Achse auf.

Es ist augenscheinlich, daß in dieser semantischen Topologie der Nullpunkt, der selbst ja KEINEN ORT hat, sondern von dem aus die semantischen Orte allererst definiert und verteilt werden, primordial oder gleichsam transzendental ist.

Wir bemerken auch, daß jedes vom Nullpunkt des „Ich“ aus angesprochene und angezielte „Du“, „Sie“, „ihr“ und „sie“ seinerseits als virtueller semantischer Nullpunkt zählt: Denn wir reden nur mit Leuten, denen wir zubilligen (oder von denen wir befürchten), daß sie ihrerseits das Wort an uns richten.

Wir konstatieren, daß die Semantik der Anrede durch eine elementare Deixis geordnet ist: Hier jetzt ich/wir – du/ihr (bei mir/mit mir, bei uns/mit uns) – dort jetzt er, sie, es; Sie, sie.

Die Reversibilität der Semantik der Anrede im Nullpunkt der Subjektivität kann mittels der klassischen kartesischen Geometrie nicht mehr abgebildet und illustriert werden; dies gilt a fortiori, wenn wir die vierte Dimension, die Zeit, hinzunehmen. Aber die Zeit oder die Dauer ist das eigentliche Wesen der sozialen Ordnung, die durch die systematische Verwendung der Anredeformen und Personalpronomen nicht für heute, sondern für morgen und übermorgen aufgerichtet worden ist oder sein soll.

Ja, die von der Anrede und den Personalpronomina oder der primären Deixis gestützte Ordnung muß auch retrospektiv gelten, so wenn ich daran denke, daß du gestern hier warst, oder ich mich daran erinnere, daß wir vor einem Jahr dort waren.

Daß wir morgen noch dieselben sind wie heute, das heißt, andere wie gewohnt anreden und von ihnen wie gestern angeredet werden, ist der Grundzins, den das Grundkapital des Vertrauens abwirft, auf das wir durch unsere bisherige Form der Kommunikation eingezahlt haben.

Würde ich eines Morgens erwachen und wäre der Fähigkeit der elementaren semantischen Funktion der Anrede beraubt, könnte ich mich in der semantischen Topologie nicht mehr als Nullpunkt („ich jetzt hier“) identifizieren und wäre gleichsam ein Exilant der sozialen Gemeinschaft – in Wahrheit gehörte ich von Stund an zur exterritorialen Gemeinschaft der Irren.

Die semantische Funktion der Anrede ist mit der Sprache gleichursprünglich, denn sie entspringt aus dem Nullpunkt, an dem „ich“ steht, und verzweigt sich regelrecht, gleichförmig und kontinuierlich zu den Koordinaten und Zweigen, an denen die Anredeformen und Personalpronomen „du“ und „Sie“, „wir“ und „ihr“ hängen.

Freilich, wenn nicht mindestens zwei Linien sich kreuzen, können wir keinen Punkt erzeugen; auf der leeren Fläche oder dem ungefurchten und ungefalteten leeren Blatt finden wir keinen Nullpunkt. – Es gibt keinen vorbestimmten oder natürlichen Ort, an dem der Nullpunkt des „ich“ auftaucht.

Der Nullpunkt der semantischen Funktion ist immer dort, wo die virtuelle Linie des Anredens die virtuelle Linie des Angeredetwerdens kreuzt.

Eine Sprache ohne Anredeformen und eine irgendwie geartete semantische Topologie der Personalpronomen wäre keine Sprache, sondern ein abstraktes Zeichensystem, das allererst mittels Aufpfropfen, Implantation und Anwendung von Anredeformen und Personalpronomen Sprache zu werden verspricht.

Können wir das gleichsam transzendentale Apriori der Möglichkeit der Anwendung von Anredeformen und Personalpronomen für eine Sprache erklären und begründen, das heißt aus Gründen ableiten, die nicht ihrerseits Anredeformen und Personalpronomen enthalten oder voraussetzen? NEIN. Denn um dies zu tun, müßten ICH oder DU, WIR oder IHR den Versuch einer Erklärung und Begründung unternehmen, ohne von mir oder dir, euch oder ihnen reden zu können.

Wir können diesen Sachverhalt aus so ausdrücken: Sprache setzt einen Ort voraus, von dem aus gesprochen wird, und einen davon verschiedenen und jeweils unterschiedlich entfernten Ort, zu dem hin gesprochen wird. Die Orte der Sprache aber sind nicht wie Orte einer Landschaft und können nicht wie diese auf einer Karte oder einem konzeptuellen Plan identifiziert und markiert werden; die hier gemeinten Begriffe von Nähe und Ferne gleichen in keiner Weise den in Zentimetern und Metern abmeßbaren Entfernungen zwischen geographischen Orten oder geometrischen Punkten.

Das Du kann eine intime Nähe ausdrücken, obwohl der mit Du Angesprochene sehr weit entfernt oder schon verstorben ist. Die mit Sie oder Ihr angeredeten Personen können sich im selben Zimmer aufhalten, aber semantisch (gedanklich, gefühlsmäßig oder sozial) von dem sie so Anredenden sehr weit entfernt sein.

Die aus dem semantischen Nullpunkt der Sprache entspringende Ordnung der Rede können wir mit dem künstlerischen Vorgang des freien (also nicht abbildenden) Zeichnens und Malens vergleichen: Der erste spontan gesetzte Strich auf dem leeren Blatt schränkt die prinzipiell unendlichen Möglichkeiten der Linienführung und des Farbauftrags insofern ein, als sich bezogen auf die erste zeichnerische Setzung eine Einteilung der Fläche in ein Links und Rechts, Oben und Unten ergibt. Die nächste Zeichen- und Malhandlung kann als Antwort, Reaktion oder Infragestellung der ersten Setzung verstanden werden: Hier ergibt sich vielleicht einer weitere Ausdrucksdimension, das Spiel zwischen Vorder- und Hintergrund. Akzeptiert der Künstler diese dimensionale Möglichkeit, kann er sie weiter mittels der Ausformung von plastischem Relief und einem Dialog zwischen Licht und Schatten erweitern und vertiefen. Es kann sich folgende Alternative ergeben: Alle durch permanent sich vollziehenden Ausschluß nicht verwirklichter Möglichkeiten offen gebliebenen Möglichkeiten auszuschöpfen; so erzeugt der Künstler den Eindruck der Geschlossenheit, künstlerischer Notwendigkeit und Vollendung; oder er kann den Ausschluß weiterer Möglichkeiten irgendwo willkürlich oder intuitiv abbrechen und beispielsweise durch geschickt angeordnete leere Flächen den Eindruck erwecken, als schwebe über dem Ganzen eine Wolke von unartikulierter Fülle oder ein Nimbus des Ungesagten.

Der Prozess der kreativen Hervorbringung beginnt spontan und setzt einen nicht weiter begründbaren Ausgangs- und Nullpunkt, von dem aus er sich im günstigsten Falle auf nicht vorhersehbare Weise durch Formen der Selbstorganisation, Selbstbeobachtung und Selbstkorrektur fortpflanzt und ausdehnt.

So ist es, wenn wir fremd in eine fremde Stadt ziehen: Durch die Art und Weise unserer Selbstdarstellung setzen wir unseren semantischen Ort, von dem uns Nähe und Ferne zugemessen werden sollen; so lassen wir von einer Freizeitgruppe die Vertraulichkeit des Duzens zu, in einer anderen wahren wir die Distanz mittels Siezen. Freilich, den semantischen Nullpunkt, von dem aus wir Nähe und Ferne überhaupt bemessen können, bringen wir immer schon mit, ihm können wir nicht entfliehen, weder auf Reisen noch durch Auswanderung oder den Übergang in eine fremde Sprache.

Die seltsame (weil nicht erklärbare) Tatsache des semantischen Nullpunkts verleiht uns die Aura der Notwendigkeit oder anders gewendet den Schatten des Schicksals, den wir nicht abschütteln können; der permanente Ausschluß virtueller Möglichkeiten, zu dem uns die Wahl unserer Entscheidungen oder die Zufallsbahnungen unseres Lebensweges nötigen, vereinseitigt und umgrenzt uns mehr und mehr mit dem wachsenden Ring der Kontingenz, bis dieser schließlich am Ende unseres Lebenswegs uns ganz umschließt.

Um zu verstehen, was der Philosoph meint, wenn er sagt, das Tier verende, nur der Mensch sterbe, können wir uns des semantisch-topologischen Modells der Kugelschalen bedienen: Sterben heißt, semantisch betrachtet, daß die vom Nullpunkt ausgehenden Koordinaten und Abzweigungen der Anredemöglichkeiten mehr und mehr eingezogen werden oder die Kugel schrumpft, bis sie schließlich in den semantischen Nullpunkt hineinstürzt.

Sowohl Beliebigkeit oder Willkür als auch Monotonie und Starrsinn in der Zuweisung der Anredeformen beschränken und verengen unseren Lebensrhythmus: Wer wahllos siezt oder duzt, verwirrt die Kommunikation und wird selbst daran konfus; wer sich und alle und jeden mit dem sentimentalen Fraternisierungsgestus des Duzens egalisiert, wird manchen vor den Kopf stoßen und bei manchen Ressentiments wecken.

Der semantische Nullpunkt ist auch insofern der Nullpunkt der Existenz, als wir immer wieder versuchen, durch Erinnerungsarbeit die kontingenten Abzweigungen auf unserem Lebensweg nachträglich in ein sinnvoll vernetztes Gewebe einzutragen. Konversionen religiöser und anderer Natur zeigen dies auf oft extreme oder extravagante Weise: Man denke an die Bekenntnisse des Augustinus oder die fruchtbaren Neugewichtungen belastender und traumatischer Ereignisse der Vergangenheit bei verschiedenen Verfahren der Psychotherapie. Man könnte Freuds Maxime „Wo Es war, soll Ich werden“ semantisch-existentiell neu formulieren: Ich übernehme das, was mir als Schicksal zugemutet wurde, als eigene Möglichkeit des Daseins. Raskolnikoff, der Mörder in Dostojewskis Roman Schuld und Sühne, bekennt sich zu seinem Verbrechen und kann sich der Liebe Sonjas öffnen.

Die christliche Theologie deutet die Sünde als geistigen Tod und die Wirkung der Gnade als Wiedergeburt: Der Tod ist wie das Verstummen vor der Zeit, und Gnade wirkt in einer Möglichkeit der Anrede Gottes als des gütigen Vaters oder als des Christus, der sich des verlorenen Kindes annimmt. Die christliche Anrede Gottes, und das zeichnet sie wie das Herrengebet zeigt vor anderen religiösen Anreden aus, ist ein kindlich gesprochenes Du, das sich wohl in die Höhe richtet, aber dank der Nähe des Trösters Geist sich nicht ekstatisch verrenken muß und der Güte und Geneigtheit des Angeredeten gewiß sein kann. – Wir können auch diese Form der außerordentlichen religiösen Anrede semantisch-existentiell deuten: Der Beter findet sich auf den semantischen Nullpunkt der Existenz zurückgesetzt, denn alle ihm bislang möglichen Wege der menschlichen Anrede haben versagt und sind ihm in einer unerhörten Not abgeschnitten, aber er entrinnt dem geistigen Tod gleichsam unter dem schmalen Lichtstrahl, der ihm aus der winzigen Öffnung in der äußersten Höhe der schon auf ihn niederbrechenden semantischen Kugel entgegenspricht.

 

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