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Semantik des Gefühls

20.01.2017

Ein Beitrag zur Philosophie der Subjektivität nebst Hinweisen auf den semantisch begründeten Tier-Mensch-Unterschied

Wir unterscheiden Empfindungen und Gefühle hin Hinsicht auf das Kriterium des intentionalen Gegenstands. Empfindungen wie die Schmerzempfindung kommen ohne intentionalen Gegenstand aus: Das Empfindende ist identisch mit dem Empfundenen. Gefühle, wie das Gefühl der Freude, haben ein spezifisches intentionales Objekt, wie das erfreuliche Ereignis, wenn man einen guten Freund auf der Straße wiedersieht.

Wenn Peter sich freut, weil er seinen Freund Karl auf der Straße erblickt, ist der intentionale Gegenstand der Freude nicht die Person namens Karl, sondern die Tatsache, daß Karl im Sichtfeld Peters über die Straße geht. Wenn Peter sich darauf freut (wir reden auch von Vorfreude), seinen Freund Karl bald wiederzusehen, ist das intentionale Objekt der Vorfreude nicht die Person Karl, sondern die Erwartung Peters, seinen Freund Karl bald wiederzusehen.

Wir analysieren das Gefühl der Vorfreude durch Rückgriff oder semantische Reduktion auf die Erwartung, daß etwas geschieht, was für das Subjekt erfreulich zu sein scheint.

Wenn Peter sich darauf freut, Karl in zwei Wochen wiederzusehen, wäre es sinnwidrig zu fragen, ob er sich während dieser ganzen Zeit im Zustand der Vorfreude befindet, so wie jemand, der sich über das Gebaren seines Gegenübers ärgert, erkennbar zornig ist, indem er für kurze Zeit erregt ist, rot anläuft oder wild gestikuliert. Wir sagen, Vorfreude meint hier den Umstand, daß Peter hin und wieder gerne daran denkt, sich bald mit seinem Freund zu treffen.

Wir unterscheiden Ursachen, Gründe und Anlässe von Gefühlen. So ist der Anlaß des Gefühls der Vorfreude, das Peter verspürt, die Verabredung mit seinem Freund zu einem baldigen Treffen, der Grund des Gefühls ist die Freundschaft, die zwischen Peter und Karl besteht, seine Ursache aber liegt in den neuronalen Prozessen, die sich in Peters Gehirn abspielen, wenn er ein solches Gefühl verspürt.

Ähnlich wie bei Empfindungen, wenn wir anläßlich der Wahrnehmung einer Ampel eine Rotempfindung haben, können wir das phänomenale Gegebensein von Gefühlen meist nur andeutend beschreiben, indem wir die sie begleitenden Verhaltensmuster beschreiben: Weil die Ampel auf Rot springt, bleiben wir stehen; weil unser Freund uns ärgert, laufen wir vor Zorn rot an oder wenden uns entrüstet von ihm ab.

Gefühle sind auf einer weiten Skala von den elementaren Leibgefühlen, wie dem Gefühl körperlicher Schlaffheit und Müdigkeit, über die gleichsam klassischen Emotionen wie Lust und Ekel, Angst und Freude, Zorn und Niedergeschlagenheit bis hin zu reflexiven Formen des Fühlens aufgetragen, wie es der Fall ist, wenn wir ins Theater oder das Konzert gehen und uns darüber ärgern, daß wir uns so schlaff und müde fühlen, also gleichsam ein Gefühl zweiten Grades verspüren.

Wir betrachten folgende Beispielsätze, um anhand ihrer uns der Semantik des Gefühls anzunähern:

1. Mir ist übel.
2. Mich dürstet.
3. Mich ängstet.
4. Mich dünkt …

Wir verwenden die teilweise altertümlichen unpersönlichen Ausdrücke (Impersonalia), um anhand ihrer grammatischen Form auf ihren Sinn, nämlich den Widerfahrnischarakter der hier genannten Erlebnisse, abzuzielen. Wir nennen Widerfahrnis alles Erlebte, das sich uns aufdrängt und oftmals gegen unseren Willen in unser Erleben einfließt. Wenn uns übel wird, sind wir diesem Gefühl ausgeliefert; das Durstempfinden und das Angstgefühl sind Erfahrungen, denen wir nicht ohne weiteres ausweichen können, und wenn uns ein Einfall überkommt oder plötzlich ein Gedanke einleuchtet, sind wir oft sogar über uns selbst überrascht.

Wir weisen auf das Eigentümliche der elementaren Leibempfindungen Hunger und Durst hin: Sie unterscheiden sich von Gefühlen wie Angst, Zorn und Freude, weil sie kein intentionales Objekt mit sich führen, wie die Angst, die einen im Dunkeln überkommt, der Zorn über einen herablassende Äußerung unseres Freundes oder die Freude, einen geliebten Menschen wiederzusehen; darin ähneln sie den Schmerzempfindungen.

Es ist bezeichnend für unsere elementaren Leibempfindungen Hunger, Durst und Schmerz, daß sie Appellcharakter haben: Sie fordern uns auf, etwas zu tun, um das in ihnen drängende Verlangen zu stillen. Im Gegensatz zu den Gefühlen sind diese biologischen Grundbedürfnisse mit dem rationalen Kreislauf unseres Handelns eng verdrahtet; wir verspüren Durst und gehen zum Kühlschrank, um ihm eine Flasche Wasser zu entnehmen. Hier ist der Gedanke impliziert, daß es im Kühlschrank eine Wasserflasche gibt, mit der wir unseren Durst löschen können. Mit der Stillung des Bedürfnisses aufgrund von rational begründbaren Willkürbewegungen der Gliedmaßen unseres Körpers ist der Handlungskreis geschlossen.

Anders bei den Gefühlen: Wenn wir bei drohender Gefahr von Angst übermannt die Flucht ergreifen oder die Hand schützend vor das Gesicht halten, sind unsere Körperbewegungen keine Willkürbewegungen, sondern unwillkürlichen Reflexe. Wir überlegen nicht lange, was wir angesichts der Gefahr tun können oder sollen, sondern tun, was zu tun wir nicht lassen können.

Wir könnten sagen, Zorn oder Wut hätten manchmal einen ähnlichen Appellcharakter wie die Leibempfindungen Hunger und Durst und forderten uns auf, nach Wegen und Mitteln zu suchen, das mit ihnen aufgekommene Verlangen zu stillen; und in der Tat finden wir genügend Fälle, in denen wir Zorn und Wut als Verlangen nach Rache und Vergeltung interpretieren können, Rache und Vergeltung sind dann die diesen Gefühlen entsprechenden Handlungsweisen, die ebenfalls die Rationalität unserer Willkürbewegungen aufweisen. Doch kann der Zorn auch nur kurz aufwallen und wieder verpuffen.

Wenn uns übel ist oder wir uns schlaff und müde fühlen, ist es nicht ratsam, die gefährliche Bergwanderung zu unternehmen; wenn uns die Gegend nachts unheimlich dünkt und wir Angst bekommen, ist es besser, einen sicheren Ort aufzusuchen; wenn wir uns in der Anwesenheit unseres Freundes in seiner Wohnung wohl, behaglich und sicher fühlen, ist dies ein gutes Motiv, noch ein Weilchen zu bleiben.

Damit weisen wir auf den Erkenntnisgewinn hin, den uns Gefühle einbringen: Sie vermitteln uns Verhaltensdirektiven, wie die Angst einen Fluchtreflex, wenn wir hinter uns einen gefährlichen Knall hören, oder Handlungsoptionen, wie das Wohlgefühl oder das Gefühl der Sicherheit und des Behagens uns die Option, bei unserem Freund zu verweilen, der Option vorziehen läßt, gleich wieder nach Hause zu gehen.

Wenn wir verliebt sind, können wir gleichzeitig traurig sein, weil uns der Gegenstand unserer Neigung zu wenig Beachtung schenkt, ohne daß wir weniger verliebt sind, ja im Gegenteil, die Mißachtung der Geliebten vermag die Leidenschaft zu unserem Bedauern geradezu anzufachen.

Wir unterscheiden ein natürliches Ausdrucksgebaren von den Konventionen, mit denen wir unsere Gefühle zum Ausdruck bringen; der Verlust eines geliebten Menschen oder nahen Angehörigen macht uns traurig, wir können unserer Trauer konventionell Ausdruck verleihen, indem wir für eine bestimmte Zeit dunkle Kleidung oder eine schwarze Armbinde tragen; wenn wir im Trauerfall den Besuch von lauten Vergnügungsstätten meiden, gehört dies zum natürlichen Ausdrucksgebaren der Trauer, wenn wir zum Ausdruck unseres Gefühls lieber das Requiem von Mozart oder die Johannespassion von Bach als melancholische Chansons hören mögen, gehört dies zu den Formen des konventionellen Ausdrucksgebarens, mit denen wir unser Gefühl kultivieren.

Bei komplexen Gefühlen wie der Trauer können wir uns täuschen, indem wir Anlaß und Grund des Trauergefühls verwechseln: Wir nehmen den Tod unseres Freundes zum Anlaß, uns zurückzuziehen, laute und fröhliche Geselligkeit zu meiden und in der Stille uns der Verzagtheit und Melancholie hinzugeben; der eigentliche Grund für unser Gefühl und unser Gebaren aber könnte nicht der Tod des Freundes sein, sondern eine depressive Verstimmung, die wir schon lange aus ganz anderen Gründen in uns tragen und der wir jetzt intensiven Ausdruck verleihen, ohne uns dieses Hintergrundes bewußt zu sein. Daraus schließen wir, daß es Gründe für unsere Gefühle geben mag, die uns verborgen sind, oder daß wir uns in den Annahmen über die Gründe für unsere Gefühle irren können.

Eifersucht und Neid sind komplexe Gefühle oder Affekte, bei denen ein Grundgefühl wie Zorn oder Angst von anderen Motiven überlagert wird: Der Mann ist eifersüchtig auf die Geliebte, weil ihr Kokettieren und Liebäugeln mit anderen Männern seinen Zorn erweckt, und weil er anderen ihre Zuwendung und Zuneigung mißgönnt und streitig macht, aus Angst, an Selbstachtung einzubüßen, wenn ihm die Aufmerksamkeit der Geliebten durch einen Rivalen gleichsam gestohlen wird; der Mann neidet einem anderen Mann die Gunst, die ihm seine Geliebte bezeigt, wenn er den Rivalen dafür haßt und zugleich von Angst getrieben ist, der Konkurrent könnte ihn bei seiner Geliebten durch Eigenschaften und Vorzüge ausstechen, die ihm selbst abgehen.

Wir unterscheiden Gefühle und Haltungen oder Einstellungen, die mit bestimmten Gefühlen natürlicherweise verknüpft sind; so ist die erotische Faszination ein Gefühl, aber die Liebe ist kein bloßes Gefühl, sondern eine Haltung, die mit unterschiedlichen Gefühlen wie der Sorge und Angst um den Geliebten, dem Zorn über sein Fehlverhalten oder der Freude an seinem Wohlergehen verbunden sein kann. Die erotische Faszination geht meist in die Liebe ein oder wird in sie eingebettet oder eingeschmolzen; nichts hindert aber, daß die Liebe fortbesteht, wenn sich die erotische Faszination verflüchtigt hat.

Scham und Stolz oder Selbstachtung sind Haltungen und Einstellungen, in denen wir das Bild, das wir von uns haben möchten, an dem Bild messen, das wir im geselligen Umgang abgeben oder abzugeben glauben.

Wenn wir glauben, dem Bild, das wir von uns selbst haben, in der Realität auf Dauer ganz und gar nicht zu genügen, sind wir schamhaft: Diese Haltung kann sich mit verschiedenen Gefühlen verknüpfen, wie dem Gefühl der Verlegenheit, wenn wir vor anderen reden sollen, oder dem Gefühl der Beklommenheit, wenn wir über die Straße gehen und wähnen, von den Passanten scharf beobachtet oder kritisch gemustert zu werden.

Wenn wir glauben, dem Bild, das wir von uns selbst haben, in der Realität ganz und gar zu genügen, treten wir selbstsicher auf und geraten nicht in Verlegenheit, wenn wir vor anderen reden sollen, und wähnen nicht, die Passanten auf der Straße würden uns mißtrauisch beäugen und kritisch mustern.

Wo nehmen wir das Selbstbild her, das unsere Scham oder unseren Stolz begründet? Es ist das Bild der Liebe oder des Mangels an Liebe, mit dem uns die Mutter von Kindesbeinen an betrachtet hat.

Gefühlskrank nennen wir jemanden, bei dem eine Dimension des Gefühls alle anderen Dimensionen überlagert und dominiert oder bei dem eine Gefühlsdimension unzulänglich ausgeprägt ist oder vollends fehlt: So finden wir die Übersteigerung des Angstgefühls beim Paranoiker, den Mangel des Mitgefühls beim asozialen Verbrecher.

Die Grundlage allen Fühlens ist das Selbstgefühl: Keine Freude ohne jemanden, der sich freut, keine Angst ohne jemanden, der sich ängstet. Anders gesagt: Die Grundlage des Fühlens und aller spezifischen Gefühle ist die Subjektivität des Bewußtseins.

Wenn wir den Roboter mit Algorithmen füttern, die ihm das Ikon eines lächelnden Gesichts auf den Bildschirm zaubern, wenn wir einen Gruß in sein Mikro sprechen, so ist das auftauchende Lachgesicht kein natürliches Ausdrucksgebaren, denn dem Roboter fehlt die Grundlage des Fühlens und aller spezifischen Gefühle, die Subjektivität des Bewußtseins.

Wir haben bemerkt, daß die charakteristische Eigenschaft menschlicher Gefühle eine semantische Eigenschaft darstellt, nämlich, eine intentionale Struktur zu haben: Peter freut sich aufgrund der Tatsache, daß er seinen alten Freund bald sehen wird; der Grund seiner Freude ist kein Objekt in der Welt, sondern ein möglicher Sachverhalt, gleichsam die Mitte zwischen der Welt und Peters Bewußtsein. Deshalb sind wir in der Lage, den semantischen Gehalt unserer Gefühle sprachlich auszudrücken.

Steht das Zeichen G für den Ausdruck eines Gefühls und das Zeichen p für einen möglichen Sachverhalt, wird die Semantik des Gefühls so geschrieben:

G (p)

An der schlichten Formel gewahren wir auch die Möglichkeiten ihrer Variation, wenn wir mehrere verschiedene Gefühle einem Sachverhalt zuordnen oder ein Gefühl mehreren verschiedenen Sachverhalten oder mehrere verschiedene Gefühle mehreren verschiedenen Sachverhalten:

G1, G2, G3 (p)
G1 (p1, p2, p3)
G1, G2, G3 (p1, p2, p3)

Wir können auch dem Umstand semantisch gerecht werden, daß uns Gefühle zu eigen sind, die ihrerseits Gefühle zum intentionalen Gegenstand haben, wie im Falle, daß wir uns schämen, weil wir verlegen sind, wenn wir vor anderen reden sollen:

G1 ((G2) p))

Auch diese weniger schlichte Formel können wir in der gewohnten Weise variieren, beispielsweise:

G1 ((G2,G3) p))

Die Semantik dieses reflexiven Gefühls zeigt sich zum Beispiel, wenn wir uns schämen, zufrieden und stolz auf eine Leistung zu verweisen, die wir nur mit Mühe und Not und nicht ohne Hilfe eines sachkundigen Freundes hinbekommen haben.

Kann sich der Hund Wuschel darauf freuen, daß sein Herrchen Peter heute Abend aus dem Büro nach Hause kommt und ihm ein Leckerli mitbringt? Der Hund freut sich tierisch, wenn Peter die Tür aufschließt; aber Wuschel kann sich zu komplexen Gefühlen wie der Vorfreude oder Haltungen und Einstellungen wie Scham, Stolz oder Liebe, die immer mit spezifischen Gefühlen verknüpft sind, nicht verstehen.

Der Hund kann verlegen sein, wenn er das Spielzeug, das er seinem Herrchen freudig zu überbringen pflegt, nicht auf Anhieb findet; aber Wuschel schämt sich nicht, weil er glaubt, dem Idealbild, das sich sein Herrchen von seiner Hundenatur gemacht hat, in Wirklichkeit nicht zu entsprechen.

Wir werden auch nicht sagen, Wuschel habe sein Herrchen nicht nur gern, sondern sei mit ihm in der Einstellung verbunden, die wir Liebe nennen, denn er scheint nicht in der Lage zu sein, sich um Peter zu sorgen und zu ängstigen, wenn dieser traurig dreinblickt und zu den üblichen Spielen und Späßen nicht aufgelegt ist; das Tier ist vielmehr einfach enttäuscht, daß sein Spielkamarad sich so mißgelaunt und verdrießlich zurückhält.

Können wir überhaupt sagen, der Hund freue sich, wenn sein Herrchen nach Hause kommt, in dem Sinne, wie wir uns freuen, wenn uns unser Freund besucht? Wenn wir den Tier-Mensch-Unterschied auf die semantische Grundlage und Struktur menschlichen Fühlens beziehen, erkennen wir einen nicht nur graduellen Unterschied, weil etwa Wuschel das Zeitbewußtsein abginge, um Vorfreude über die abendliche Heimkehr Peters zu fühlen, sondern einen prinzipiellen Unterschied, weil der Hund nicht jene Subjektivität des Bewußtseins hat, die uns mit intentionalen Gegenständen von Gedanken und Gefühlen versieht. Denn Wuschels Freude ist die Wirkung der Ursache, daß seine neuronalen Prozesse vom charakteristischen Ganggeräusch und dem Geruch seines Herrchens stimuliert werden; die Emotion des Tiers hat aber nicht einen semantischen Gehalt in der Annahme, daß sein Herrchen nach Hause kommt.

Wir können den Tier-Mensch-Unterschied auch so umschreiben: Im Gegensatz zum Tier existieren wir als die Subjektivität des Bewußtseins, die sich jederzeit und allenthalben in der semantischen Struktur von Glaubens- oder Behauptungssätzen ausspricht. Die gilt auch für Gefühle, denn wir sind nicht bloß kausal veranlaßt, traurig oder froh zu sein, sondern aufgrund eines wirklichen oder möglichen Sachverhalts, den wie gezeigt der zugehörige Satz G (p) ausdrückt.

Wir sind demnach mit dem Tier auf der Basis unserer Empfindungen eher verwandt als auf der Basis unserer Gefühle, denn Empfindungen wie die Schmerzempfindung haben offenkundig nicht die Semantik der Intentionalität.

Besonders deutlich zeigt sich dieser semantische Sachverhalt in der Grammatik vieler Sätze, mit denen wir unsere Gefühle beschreiben:

1.1 Ich fühle mich traurig.
1.2 Ich freue mich.
1.3 Ich ärgere mich.

2.1 Ich ärgere mich, daß ich verlegen bin.
2.2 Hoffentlich werde ich nicht verlegen, wenn ich ihr begegne.

In den unter 1 formulierten Sätzen finden wir die wohlbekannte reflexive Satzform, in der sich die Subjektivität des Bewußtseins einfach darstellt; in den unter 2 formulierten Sätzen finden wir zweierlei, was für die Semantik des Gefühls erheblich ist: den Rückbezug des Personalpronomens der 1. Person des Nebensatzes auf das Subjekt des Hauptsatzes und den uns schon bekannten Ausdruck von Gefühlen zweiten Grades oder die ihm entsprechende semantische Hierarchie. Das sehen wir deutlich, wenn wir 2.2 umformen:

2.3 Ich hoffe, daß ich nicht verlegen werde.

Wir lassen hier offen, ob wir mentale Begriffe wie „hoffen“ und „erwarten“ vollständig mit der Semantik des Gefühls analysieren können oder nicht. Jedenfalls ist es nicht unplausibel, Zweifel anzumelden, ob wir Peters Hund Wuschel die Überzeugung unterstellen können, die wir in dem Satz ausdrücken, daß das Tier erwarte, sein Herrchen komme heute Abend zurück, oder daß es hoffe, nicht wieder verlegen zu werden, wenn es vergeblich sein Spielzeug sucht, um es ihm zu apportieren.

Ein semantisch wesentlicher Tier-Mensch-Unterschied auf der Ebene der Gefühle scheint im erwähnten Unterschied von Ursache und Grund zu liegen: Tiere scheinen keine Gründe für ihre Gefühle zu haben, sondern unmittelbar von den neuronalen Ursachen ihrer Gefühle gesteuert zu werden, weshalb sie sich in Gefühlsdingen nicht selbst täuschen können, während Menschen oft durch Irrtümer hinsichtlich der Gründe für ihre Gefühle in die Irre gehen. So hoffte der Lyderkönig Krösus, wie der Historiker Herodot berichtet, im delphischen Seherspruch der Pythia, daß er ein großes Reich zerstören werde, wenn er auf seinem Kriegszug den Grenzfluß Halys gegen Persien hin überschreite, mit diesem Reich sei das Perserreich gemeint; aber er täuschte sich in seiner Hoffnung und Erwartung, denn bekanntlich war es in Wirklichkeit sein eigenes Reich. Krösus vergaß gleichsam, angesichts der Prophezeiung statt freudiger Erwartung das Gefühl der Furcht in sich zu erwecken. Das zeugt von seiner Hybris, seiner Selbstüberhebung und Selbstüberschätzung, Fehlhaltungen und Perversionen der rechten Haltung der Selbstachtung.

Im Gegensatz zu Empfindungen und elementaren Emotionen, die uns unmittelbar vor Gefahren warnen oder in Richtung des Lebensförderlichen und Fruchtbringenden lenken, sind komplexe Gefühle und Haltungen auf gefühlshafter Grundlage wie Liebe, Scham und Selbstachtung demnach offen für eine kritische Prüfung auf ihre Angemessenheit zur jeweiligen Situation durch die Urteilskraft: Ist der Gegenstand meiner Liebe all jener Sorgen und Bemühungen wert, die ich ihm opfere? Beruht meine Scham auf echten Idealen, denen nicht gerecht geworden zu sein mein Gefühl der Unzulänglichkeit rechtfertigt? Ist meine Selbstachtung Ergebnis echter Leistungserfüllung und wahrhaft errungener moralischer Siege?

Gefühle offenbaren uns die wesentlichen Tatsachen des Lebens in ihrer Bedeutsamkeit für das Leben: Lust und Freude geben uns allererst den Geschmack für die Dinge, die uns zuträglich und förderlich sind, Ekel und Angst warnen uns vor den Dingen, die uns nicht bekömmlich und schädlich sind; Mut und Zorn sind elementare Antriebe, das zu vollbringen, was uns gedeihlich und lebensdienlich dünkt, und die Hindernisse und Hemmnisse einzureißen und abzuwehren, die uns Steine in den Weg legen.

Aber wir gehen noch weiter, wenn wir sagen, daß wir unser Gefühlsleben im besten Falle durchsichtig und kostbar machen, wenn wir es den höherstufigen und höherwertigen Einstellungen und Haltungen der Liebe und der Selbstachtung dienstbar machen: wenn wir uns Sorgen und Ängste machen um das, was wir lieben, wenn wir den Gegenstand unserer Liebe mittels der elementaren Antriebe von Mut und Zorn in Schutz nehmen, und wenn wir unsere Selbstachtung steigern, indem wir Opfer und Taten zugunsten dessen vollbringen, was wir lieben und verehren.

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