Semantik des ästhetischen Eindrucks (Teil III)
Entwurf einer empirischen Ästhetik auf semantischer Grundlage
Der Ausgangspunkt unserer semantischen Betrachtung sei folgender Satz:
1.1 Den 20. Jänner ging er durchs Gebirg.
Wir lesen den Satz und können ihn, so wir des Deutschen mächtig sind, unmittelbar verstehen. Denn die Bedeutung eines Satzes ist die Resultante der Bedeutungen der in ihm verwendeten Wörter. Doch ist ebenso evident, daß wir ohne einen gewissen epistemischen Hintergrund nicht wirklich erfassen können, was mit dem Satz gemeint ist.
Dem epistemischen Hintergrund entnehmen wir die Information, daß sich das Personalpronomen durch einen Eigennamen ersetzen läßt; dann erhalten wir den Satz:
1.2 Den 20. Jänner ging Lenz durch das Gebirg.
Wenn mit dem Namen Bezug genommen wird auf eine historische Person, nämlich den Schriftsteller der Goethezeit Jakob Michael Reinhold Lenz, können wir dessen Biographie entnehmen, daß Lenz nach Ausbruch seiner seelischen Erkrankung am 20. Januar 1778 von Winterthur aus dem Haus von Christoph Kaufmann durch das in den Vogesen gelegene Steintal in Richtung des elsässischen Waldersbach aufbrach, wo er Obhut bei dem Pfarrer Johann Friedrich Oberlin fand. Wir können demnach mithilfe des neu gewonnenen Hintergrundwissens unseren Ausgangssatz vervollständigen:
1.3 Am 20. Januar 1778 ging der Schriftsteller Lenz durch das Steintal in den Vogesen Richtung Waldersbach.
Dieser Satz könnte in folgenden Dokumenten aufzufinden sein:
– im Tagebuch des Pfarrers Oberlin
– in den Annalen der Stadt Winterthur
– in einer Notiz einer Winterthurer Zeitung
– in einem Brief von Christoph Kaufmann an Georg Schlosser in Emmendingen (den Gatten der kurz zuvor verstorbenen Schwester Goethes Cornelia)
– in einer historiographischen Biographie des Schriftstellers Lenz
Aufzeichnungen wie Tagebücher, Annalen, Chroniken einer Gemeinde, eines Vereins, einer Stadt, Berichte in Zeitungen, Briefe und historiographische Biographien erachten wir für historische Dokumente; wir finden sie meist mit anderen Dokumenten wie Geburts-, Tauf-, Heirats- und Sterbeurkunden, aber auch Kauf-, Miet- und Pachtverträgen, Grundbucheinträgen, Testamenten oder anderen dieser Art in historischen Archiven. Diese sind die Fundgrube der Historiker, die sich der Aufarbeitung und Rekonstruktion historischer Ereignisse anhand der Daten und Fakten bemühen, die ihnen die genannten Archivalien zur Verfügung stellen.
Läsen wir den Satz 1.3 als Historiker und stünden vor der Aufgabe, ihn auf seine historische Stimmigkeit und Korrektheit zu prüfen, begäben wir uns möglichst bald zu den genannten Archivalien oder ließen uns beglaubigte Kopien von ihnen zukommen, um zu eruieren, ob wir den Satz oder einen mit derselben Bedeutung im Tagebuch des Pfarrers Oberlin oder in einem Brief von der Hand des Schwagers Goethes wiederfinden. Dabei beachten wir die methodische Regel, daß wir auf mindestens zwei voneinander unabhängige Quellen urkundlicher Zeugenschaft zurückgreifen müssen, die selbst als zuverlässig und unvoreingenommen eingestuft werden, um ein historisches Datum zu bestätigen.
Um den Satz an verschiedenen anderslautenden Sätzen mit derselben Bedeutung oder synonymen und bedeutungsgleichen Sätzen identifizieren zu können, müssen wir ihn paraphrasieren, etwa:
1.4 (20. Januar 1778) Lenz geht Richtung Waldersbach
Wenn es uns gelingt, diejenigen Sätze, die unseren Ausgangssatz enthalten, so zu paraphrasieren, daß ihre Kernaussage erhalten bleibt, auch wenn dabei unwesentliche Informationen oder bloßer stilistischer Zierrat verlorengehen, können sie uns dabei helfen, den Satz zu verifizieren. Würden aber die zu Rate gezogenen Vergleichs- und Belegsätze beispielsweise im Datum abweichen, müßten wir die Korrektheit des Ausgangssatzes in Frage stellen oder verwerfen. Denn es ist augenscheinlich, daß es uns als Historiker bei dem Satz wesentlich auf die Korrektheit des genannten Datums und die Korrektheit der genannten Lokalitäten ankommt, denn es macht einen Unterschied ums Ganze, wenn das genannte Datum falsch wäre oder Lenz nicht durch die Vogesen, sondern die Alpen gegangen wäre; ums Ganze meint: Dann wäre unser Ausgangssatz unwahr.
Wir bemerken, daß Sätze der genannten Art deskriptive Aussagen darstellen, die nur sinnvoll sind, wenn sie beanspruchen, wahr zu sein, das heißt im Falle historischer Aussagen, deren Inhalt der Vergangenheit angehört, wenn sie die von ihnen gemeinten Sachverhalte so darstellen, wie sie gewesen sind. Deskriptive Aussagen solcher Art sind der Grundbestand der Historiographie oder Geschichtsschreibung.
Um in einer historiographisch bedeutsamen Aussage festzustellen, daß der Dichter Lenz am 20. Januar 1778 durch die Vogesen wanderte, würden nähere Angaben über seinen Gemütszustand oder die Art, wie er die Umgebung wahrnahm, wie sie sich in den Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin oder in Briefen von Zeitgenossen finden könnten, dem scharfen Messer unserer Paraphrase als überflüssiger stilistischer Zierrat oder Dekor zum Opfer fallen.
In Wahrheit ist der Satz „Den 20. Jänner ging er durchs Gebirg“ der erste Satz der Novelle „Lenz“ von Georg Büchner.
Wir wissen oder es ist Teil unseres epistemischen Hintergrunds zu wissen, daß eine Novelle eine literarische Gattung darstellt, in der ein bedeutsames oder schwerwiegendes Ereignis wie ein Unfall, eine merkwürdige Begegnung oder eine erschütternde Erfahrung den Ausgangspunkt für die meist verdichtete, bündige Schilderung der Reaktionen der beteiligten Protagonisten auf dieses Widerfahrnis darstellt. Ob das herausragende Ereignis wie in der Novelle Goethes fiktiv oder wie in etlichen Novellen Kleists einen realen Hintergrund besitzt, spielt für die literarische Form keine wesentliche Rolle.
Die gilt auch für die Novelle „Lenz“ von Georg Büchner; auch wenn wir wissen, daß der Dichter zu ihrer Ausarbeitung sich der historiographisch bedeutsamen und relevanten Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin bedient hat, lesen wir den angeführten Satz „Den 20. Jänner ging er durchs Gebirg“ nicht als Historiker oder historisch interessierte Laien. Ja selbst, wenn der Satz nicht korrekt wäre und Lenz an einem anderen Datum, selbst wenn er nicht in den Vogesen, sondern in Wahrheit in den Alpen gewandert wäre, trübte dies nicht unseren Blick auf die Novelle.
Der literarische Satz oder der Satz der Novelle Büchners:
Den 20. Jänner ging er durchs Gebirg
macht auf uns einen durch und durch anderen Eindruck als der historiographisch bedeutsame deskriptive Satz:
Am 20. Januar 1778 ging der Schriftsteller Lenz durch die Vogesen Richtung Waldersbach.
Um welchen semantischen Unterschied der Bedeutung und Beleuchtung geht es? Nun, der Satz der Novelle macht auf uns einen eigentümlichen ästhetischen Eindruck, der dem deskriptiven Satz vollständig abgeht – auch wenn er denselben Wortlaut hätte.
Wir wollen diesen Unterschied zunächst an der unterschiedlichen grammatischen Rolle des in beiden Sätzen verwendeten Präteritums erhellen: Der Satz des Historikers hebt mit der Verwendung der Vergangenheitsform auf die Tatsache ab, daß das erwähnte Ereignis sich wahrheitsgemäß in der Vergangenheit abgespielt hat.
Wir bemerken die semantische Leistung des historischen Präteritums an der grammatischen Möglichkeit, konditionale oder irreale Bedingungssätze zu bilden, die die Bedingung der möglichen Erfahrung oder die Wahrheitsbedingung deskriptiver Sätze explizit machen:
Wärest du am 20. Januar 1778 im Steintal in den Vogesen Richtung Waldersbach unterwegs gewesen, wärest du dem Dichter Lenz begegnet.
Deskriptive Sätze, die mit dem Präteritum des historischen Berichts gebildet sind, enthalten die Bedingung ihrer Wahrheit insofern, als sie die mögliche Erfahrung des in ihnen Gemeinten implizieren; wenn aber die Möglichkeit ihrer Verifikation semantisch in diesen Sätzen enthalten ist, so auch die Möglichkeit ihrer Falsifikation; denn gälte:
Wärest du am 20. Januar 1778 im Steintal in den Vogesen Richtung Waldersbach unterwegs gewesen und hättest du dort den Dichter Lenz nicht angetroffen, wäre der Satz, der behauptet, Lenz sei zu diesem Zeitpunkt eben dort unterwegs gewesen, falsch.
Dagegen ist das literarische Präteritum, wie wir es nicht nur in der Novelle und im Roman, sondern auch im Gedicht und im Märchen finden, kein Tempus der Vergangenheit, sondern im Gegenteil ein Tempus einer reinen, irrealen Gegenwart, und zwar der Gegenwart im Modus der symbolischen Vergegenwärtigung. Mit anderen Worten: Wir können aus Sätzen einer Novelle, eines Romans oder eines Gedichts keine konditionalen oder irrealen Bedingungssätze ableiten, die uns ihre Wahrheitsbedingung angeben. Damit bezeichnen wir den semantischen Unterschied zwischen fiktiven und nichtfiktiven Aussagen, zwischen Dichtung und historischem oder deskriptivem Bericht.
Verdeutlichen wir den semantischen Unterschied in der grammatischen Verwendung der historischen Vergangenheitsform und des narrativen oder poetischen Präteritums anhand der literarischen Gattung, deren Ton durch eben die Verwendung der poetischen Vergangenheitsform geprägt oder konstituiert ist: der Märchenton, der uns unmittelbar in dem „Es war einmal“ anspricht. Das „Es war einmal“ des Märchens führt uns in eine zeitliche Dimension, die anders als die Singularität der historischen Ereignisse, von denen uns die deskriptiven Sätze berichten, auf ein Geschehen verweist, das sich in einer irrealen Welt immer wieder ereignet und wiederholt: Hänsel und Gretel, die Kinder des Märchens, gehen immer wieder durch den Märchenwald, nämlich sooft wir das Märchen lesen; ähnlich geht Lenz immer wieder durch die Vogesen, sooft wir die Novelle von Georg Büchner lesen.
Das poetische Präteritum oder das „Es war einmal“ des Märchens enthält keine grammatische Anweisung, wie wir die Möglichkeit der Erfahrung dessen, was die mit ihm gebildeten dichterischen Sätze aussagen, verifizieren oder falsifizieren können; denn es ist genauso unsinnig, die Bedingung der Möglichkeit zu formulieren, die Kinder des Märchens, Hänsel und Gretel, da und dort im Märchenwald anzutreffen, wenn wir nur da und dort in diesem Wald gewesen wären, wie es unsinnig ist, die Bedingung der Möglichkeit, dem Lenz der Novelle zu begegnen, mit der Bedingung der Möglichkeit zu identifizieren und zu verwechseln, die angibt, daß wir den historischen Lenz am 20. Januar 1778 im Steintal in den Vogesen in Richtung Waldersbach hätten wandern sehen können.
Der semantische Unterschied deskriptiver und dichterischer Sätze zeigt sich auch an ihrem unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Verhältnis zur Kausalität: Das Nacheinander und das Bedingungsgefüge des historischen Berichts beruhen auf der fundamentalen Annahme, daß die berichteten Ereignisse aufgrund der Wirksamkeit kausaler Ereignisfolgen miteinander zusammenhängen und aufeinander folgen: Aufgrund des seelischen Zusammenbruchs oder des Ausbruchs einer Psychose macht sich der historische Lenz auf Anraten seines Gastfreundes auf den Weg, um bei dem als Pädagogen und Psychologen einschlägig erfahrenen und geschätzten Pfarrer Oberlin im Steintal in den Vogesen Obhut und Hilfe zu finden.
Wir formulieren dies auch so: Weil der Dichter Lenz eine schwere seelische Krise erlitt, schickte ihn sein Gastfreund am 20. Januar 1778 nach Waldersbach zu dem Pfarrer Oberlin. Aufgrund der Kausalität der geschilderten Ereignisse ist die Angabe des Datums wesentlich: Denn Lenz hatte vor dem 20. Januar 1178 den Ausbruch der Krankheit erlebt, der allererst den Grund für die nachfolgenden Geschehnisse darstellt.
Wir bemerken aber, daß bei Büchner vom Ausbruch der Krankheit als des kausalen Faktors der geschilderten Ereignisse nicht die Rede ist; vielmehr zeigt die Novelle alles aus der Sicht des erkrankten und seelisch schwer erschütterten Protagonisten. Insofern wirkt die halbe Datumsangabe, die wir im ersten Satz der Novelle antreffen, gleichsam wie eine nicht entfernte Eierschale, die Büchner von der Lektüre des historischen Berichts des Pfarrers Oberlin über die damaligen Ereignisse haften geblieben ist.
In historischen Berichten finden wir den Bezug auf objektiv-ursächliche Ereignisse wie den Ausbruch der Krankheit des Dichters Lenz im Bericht des Pfarrers Oberlin und den Bezug auf subjektive Gründe oder Absichten zu Handlungen, wie die Absicht des Gastfreundes Kaufmann, Lenz in die Obhut des Pfarrers zu schicken. Ursächliche Ereignisse und Handlungsgründe sind in Berichten, die das historische Präteritum verwenden, eng verzahnt: Aufgrund des Ausbruchs der Psychose entwickelte der Gastfreund die Absicht, Lenz zu Oberlin zu entsenden. Erst geschieht das eine, dann erfolgt das andere. In dieser Verknüpfung ersehen wir den allgemeinen Sinnzusammenhang, in dem wir leben und den wir mittels Verwendung deskriptiver Aussagen erfassen können.
In der Dichtung ist dieser Sinnzusammenhang gelockert und im Extremfalle aufgehoben. Zwar ist im Märchen von Hänsel und Gretel vage von einer Hungersnot als ursächlichem Ereignis die Rede, doch erfassen wir richtig das Motiv der Absicht, die Kinder im Wald auszusetzen, in der Bosheit ihrer Stiefmutter. Darüber hinaus scheint die kausale Ordnung der Sinnzusammenhänge des gewöhnlichen Lebens und Erlebens aus den Fugen: Tiere sprechen oder geben den Kindern Zeichen und die Hexe, die Hänsel und Gretel schlachten und essen will, scheint nichts als das symbolische Komplement der Stiefmutter zu sein, die die Kinder zur Vernichtung in den Wald geschickt hat.
Durch Verwendung des poetischen Präteritums werden aus deskriptiven Sätzen über die Realität dichterische Sätze über eine fiktive Welt, die kausale Ordnung aber verwandelt sich in eine symbolische Ordnung, deren Zusammenhang mit der realen Welt, in der Krankheiten Handlungen begründen, gelockert ist, wenn nur noch die aus der Krankheit entspringenden Handlungen und Gedanken des Protagonisten in einer Art unvermittelten Diktats des subjektiven Bewußtseins beschrieben werden. Solche beschreibenden Sätze, wie sie Büchner in seiner Novelle hinsetzt, scheinen unmittelbar evident, sie fordern anders als beschreibende Sätze eines historischen Berichts den Leser nicht dazu auf, sie auf Gründe und ursächliche Zusammenhänge zu befragen.
Die Evidenz und unwirkliche Klarheit, mit denen sich uns die Sätze fiktiver Texte aufzudrängen pflegen, ist der ästhetische Eindruck, den sie auf uns machen; er hängt gleichsam in der irrealen Luft oder Atmosphäre, in die sie wie in der Novelle Büchners getaucht sind. Dagegen gleichen deskriptive Sätze der gewöhnlichen Art eher den mehr oder weniger sicheren Bahnen und Pfaden, die wir abschreiten, um der Gegenstände und Sachverhalte, von denen sie sprechen, durch mögliche Wahrnehmungen uns zu vergewissern.
Lenz geht durch das Gebirge, sagt uns die Novelle, aber wir wissen, es handelt sich um einen Pseudo-Bericht, eine fiktive Transformation oder Verzerrung eines echten historischen Berichts: Wir wissen mit dem ersten Satz der Novelle, daß es sich nicht um jenen Lenz handelt, der einmal an einem bestimmten Tag durch ein bestimmtes Gebirge ging, sondern um einen imaginären Lenz, der in der irrealen Welt der Dichtung immer und immer wieder durch ein irreales, symbolisches oder abstraktes Gebirge geht.
Wenn es in Goethes Gedicht „Gefunden“ heißt:
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
so will der Dichter nicht wie ein Tagebuchschreiber, ein Annalist oder Chronist darüber berichten, welche Aktivitäten er gestern oder vorgestern unternommen hat: Vielmehr fordert uns die erste Zeile auf, in die scheinbar vergangene, in Wahrheit aber im Gedicht anwesende Gegenwart des nur in ihm gegebenen Gehens und Sehens und Fühlens symbolisch einzutreten und mit dem Gedicht zu gehen, zu sehen und zu fühlen, auch oder gerade, wenn es sich dabei um ein unwirkliches oder imaginäres Tun handelt.
Der ästhetische Eindruck der symbolischen Vergegenwärtigung schiebt alle Fragen nach dem Wann und Wie und Warum beiseite, Fragen, die der historische Bericht unwillkürlich und zwingend aufzuwerfen pflegt: In welchem bestimmten Wald, an welchem Datum und aus welchem Anlaß der Dichter dort ging, ist uns ebenso gleichgültig, wie uns das, was ihm dabei widerfährt höchst bedeutsam ist, denn das Gedicht ist die lichte Schneise, in der wir sehen, was das Gedicht uns sehen läßt. Hätte der Dichter die präsentische Form des Verbs gewählt, verflüchtigte sich der ästhetische Eindruck des historisch Unwirklichen, aber symbolisch höchst Wirksamen augenblicks.
So steht es semantisch auch um den ästhetischen Eindruck, den der erste Satz der Novelle von Büchner auf uns macht: Den 20. Jänner ging er durchs Gebirg – schon gehen wir mit, könnten wir sagen, schon spannt sich unsere Erwartung auf das, was die literarische Figur für uns sichtbar und fühlbar werden läßt. Die Fragen, die derselbe Satz in einem historischen Bericht unwillkürlich und zwingend aufwürfe, ob es denn wirklich der 20. Januar gewesen, daß der Dichter Lenz durch das Gebirge ging, ob dies Gebirge die Vogesen waren oder nicht, sind für uns als Leser der Novelle ohne jeden Belang.
Wir können den Unterschied der historischen oder deskriptiven und der literarischen oder dichterischen Sätze auch im Unterschied der Aufmerksamkeit beleuchten, mit der wir den von ihnen gemeinten Bedeutungen begegnen: Die Bedeutung des deskriptiven Satzes erfahren wir gleichsam wie die Information eines Wegweisers, dem zu folgen oder nicht zu folgen unserer freien Wahl und Willkür anheimgestellt bleibt; dagegen lenkt uns die Bedeutung der dichterischen Sätze auf seelische oder subjektive Eindrücke, denen wir, wenn wir wirklich lesen oder den Text lesend oder im Text lesend mitgehen, nicht ohne weiteres willkürlich und nach Gutdünken ausweichen können; wir sagen, wir sind aufgrund des ästhetischen Eindrucks in das Gesagte involviert, einbezogen, verwickelt.
Das dichterisch Gesagte macht uns nicht mit möglichen seltsamen oder erregenden Wahrnehmungen bekannt, wie es historische Berichte zu tun pflegen, wenn wir mit den Augen des Annalisten scheinbar Hannibal vor den Toren Roms oder Alexander angesichts des brennenden Persepolis gewahren. Die Dichtung macht uns aufgrund des ihr eigentümlichen ästhetischen Eindrucks vielmehr mit uns selbst bekannt, mit Möglichkeiten des Sehens und Fühlens, die wir ohne sie nicht gefunden hätten, an Orten, die es außerhalb der Dichtung nicht gibt:
Den 20. Jänner ging er durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte.
Der Anfang von Büchners Novelle könnte den schiefen Eindruck erwecken, als handele es sich um eine Naturbeschreibung – doch schon der Ausdruck „alles so dicht“ weist uns auf die symbolische Irrealität einer inneren Landschaft, ein ästhetischer Eindruck, der durch den verblüffenden oder schockierenden Wunsch, auf dem Kopf zu gehen, vertieft wird.
Wir sahen, es ist die semantische Leistung des literarischen Präteritums und des ästhetischen Eindrucks, den es evoziert, unser Bewußtsein in eine symbolische Irrealität, wir könnten auch sagen, eine sprachliche Traumwirklichkeit, zu lenken, zu entführen oder zu verwandeln, in der wir das real nicht Sichtbare sehen, das real Ungreifbare fühlen. Und wie im Traum sind unsere Willkür- oder Willensimpulse eigentümlich gelähmt, und dennoch gehen wir mit Goethes Ich oder mit Büchners Lenz durch den Wald und das Gebirge.
Goethe, der Dichter der Dichtung, weist uns den Weg; denn sein Doppelgänger „Ich“ macht in dem angeführten Gedicht die Erfahrung, die Blume, auf die er trifft und die ihm mit Sternen-Augen entgegenleuchtet, nicht brechen zu wollen, sondern mit den Wurzeln auszugraben, um sie in seinem Garten, jenem stillen Ort, der in Wahrheit der innere, unsichtbare Ort des Gedichtes ist, wieder einzupflanzen, damit sie umso geschützter neu blühe und gedeihe:
Gefunden
Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.
Ich wollt es brechen,
Da sagt es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?
Ich grub’s mit allen
Den Würzlein aus.
Zum Garten trug ich’s
Am hübschen Haus.
Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.
Nun, lesen wir das scheinbar naive oder sentimentale Gedicht als ein Gedicht über das Wesen der Dichtung, entnehmen wir ihm auch die entscheidende Aussage über das Wesen des ästhetischen Eindrucks: Er nimmt uns gleichsam mit an einen irrealen Ort, die innere Stille des Gedichts, an dem wir ein zweites inneres Blühen finden, imaginieren, erahnen könnten, ein Blühen, das nicht einmal uns gelten mag, Blühen, das nicht einmal wir selbst erleben, das sogar einem bestimmt sein könnte, der uns aus der Ferne nahe ist.
Der ästhetische Eindruck ist, wie uns das Gedicht Goethes zeigt, ein Eindruck, den wir bekommen, wenn wir finden, was wir nicht gesucht haben. Denn der Eindruck, den wir haben, wenn wir finden, was wir gesucht haben, ist kein ästhetischer Eindruck, sondern ein Sinneseindruck oder eine Wahrnehmung.
Deshalb sind die Bedeutungen der dichterischen Sätze nicht die Bedeutungen von scheinbaren oder imaginären Wahrnehmungen; denn die Rose des Gedichtes duftet nicht, und Goethes leuchtende Blume blüht gleichsam im Dunkel oder der Irrealität der Dichtung.
Wir haben damit auch ein Unterscheidungsmerkmal gewonnen, das uns unechte Kunst oder Kitsch von wahrer Dichtung abheben läßt: Kitsch erkennen wir am schiefen ästhetischen Eindruck, der uns suggeriert, wir hätten die Rose des Gedichts gerochen oder wären von ihrem Duft wie benommen oder es leuchteten irgendwo im Außen des Gedichts Blumen wie Augen, die zu sehen das Surrogat der Dichtung überflüssig machte – semantisch nüchtern gesagt: wenn Sätze der Dichtung so tun wie deskriptive Sätze, als seien sie Sätze über wirkliche oder mögliche Wahrnehmungen.
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