Was seltsam ist
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Seltsam, aufzuwachen und dir zu sagen, daß alles noch da ist, alles an seinem Platz, der Stuhl, die Lampe, das Bild – und du selbst – nein, nicht ganz, etwas geschah in dieser Nacht, doch du kannst dich daran nicht erinnern, als sei es im Traum geschehen, der Traum aber bleibe für immer unzugänglich.
Sehen ist seltsam, nicht dies und das, worauf man starrt oder was man überfliegt, sondern irgendwas; und immer hat es eine beleuchtete, offensichtliche Seite und eine dunkle, verborgene; immer ist es etwas, was ruht oder sich bewegt, unbelebt ist oder belebt, stumm ist oder spricht, immer etwas, was mit anderen Dingen in Verbindung steht, die wiederum mit anderen Dingen in Verbindung stehen.
Ist Sehen (Theorie) eher eine Erfindung der Philosophen, während wir nicht anders können als schauen oder starren, spähen oder lugen, betrachten oder gaffen, Ausschau halten oder vor uns hin stieren, neugierig, gelangweilt, erschrocken, herablassend, beschämt, hochnäsig und auf hundert andere Arten sehen?
Seltsam zu sehen, daß man gesehen wird; ungesehen, versteckt, heimlich anders zu sehen als im Blickfeld der anderen, auf der belebten Straße anders als beim einsamen Gang durch das hohe Schilf des Uferpfads.
Unter dem prüfenden, registrierenden Blick des Arztes das Licht der Welt zu erblicken oder dem liebenden, bejahenden der Mutter. – Ärger als unter dem gleichgültigen Blick des Arztes unter dem verneinenden der Mutter.
Das Urteil im Blick der anderen, das uns ein Leben lang verfolgt. Das wir erst abschütteln, wenn wir Abschied nehmen für immer.
Sich so zu geben, zu bewegen, zu reden, wie man ins Blickfeld der anderen paßt. – Sich eng machen oder bücken, wie beim Eintritt in eine Höhle, einen Unterstand, einen Bunker.
Der schwierige Grat zwischen Höflichkeit, Galanterie und Selbsttäuschung.
Sich unkenntlich machen, maskieren, larvieren, um dem Blick des anderen zu entrinnen. – Bis man sich selber undeutlich, unkenntlich, verabscheuungswürdig vorkommt.
Mehr und mehr übte er sich darin, so zu reden, so zu schreiben, daß er unerkannt blieb, nicht mehr verstanden, mißverstanden wurde.
Sich ins Gestrüpp von Rätseln flüchten und an seinen Stacheln melodramatisch vor sich hin bluten.
Der Handel mit der Sichtbarkeit: ein Kostüm, eine Maske, eine Gestalt anziehen, die zum Image wird, das jeder auf Anhieb erkennt und wiedererkennt.
Die Meinung der anderen anziehen wie die Kleidung, die gerade Mode ist. Und wieder abstreifen müssen, wenn sie aus der Mode kommt; aber sie scheint zur zweiten Haut geworden, und bei allem Zerren und Reißen geht die erste, die echte mit ab.
Die Verlegenheit eines, der in guter Gesellschaft mit einer ärmlichen, zerschlissenen oder fleckigen Jacke auftaucht.
Der mit dem Stigma auf der Stirn bleibt zu Hause.
Der mit dem Stigma des Unglaubens hinsichtlich der fundamentalen Überzeugungen der anderen (Fortschritt, Gerechtigkeit, Demokratie, Diversität, Identitätsauslöschung, Gendersprache).
Sähen wir alles verzerrt, wüßten wir es nicht.
Als wäre erlöst, wer sich im Spiegel nicht mehr erkennt.
Der Überdruß ist die Schwelle, die in das Haus der Stille, der Stille der Resignation oder der Entsagung, führt, der Überdruß an den wieder und wieder gesehenen Bildern, den wieder und wieder gehörten Phrasen, den wieder und wieder erregten und enttäuschten Erwartungen.
Schreiend das Licht der Welt erblicken: sehen ohne zu begreifen.
Wenn Herr Jedermann es nachplappert, muß was dran sein, wenn Herr Niemand es bestreitet, muß es existieren.
Wer zur bösen Tat unfähig ist, kann keine gute tun; wer nicht töten kann, kann nicht zeugen.
Die Macht der Vernichtung und also die Erhabenheit des jüdischen Gottes wurde vom sentimentalen Geschwätz von Mannweibern in Talaren verdrängt; die Höllenfeuer Dantes vom warmen Urin kichernder Chorknaben gelöscht.
Alles, was beginnend mit den Gemetzeln der französischen Revolutionsbataillone und den Schlachten Napoleons an infernalischem Feuer und dämonischer Macht die Kabinettskriege der Preußen oder Habsburger übersteigt, entfesselt titanische Riesen und heilige Monster, die blasse Jünglinge im Futteral des Wohlstands und den Eierlikör der Ode an die Freude süffelnde Feuilletonmädchen nicht zu sehen vermögen, wenn sie vom Völkerrecht oder vom Verhandlungsfrieden schwadronieren.
Uns bleibt nur der Geruch der Erde, der uns einst mit Blumendüften zum Lächeln gebracht und nun im Anhauch fauliger Früchte und trüber Pfützen verläßt. – Das Licht aber, das uns zu Tänzen und Liedern gereizt, ist schon im namenlosen Abgrund erloschen.
Ein höherer Geist als der in den großen Dichtungen des Abendlandes, den liturgischen Gesängen und den Werken eines Mozart, Beethoven, Schubert und Bruckner hat sich uns nicht offenbart. – Von der Offenbarung am Jordan blieb uns einer Taube sanftes Geflatter.
Der Gassenhauer des männlichen und der Sirenengesang des weiblichen Geschlechts.
Erotisch Amusische geben vor, beides singen zu können.
Kastraten schwärmen von Orgien, Umnachtete vom Licht der Aufklärung.
Voltaire sah im Alten Testament den Gott der Vernichtung und des Genozids am Werk; Hamann das schöpferische Licht, von dem die farbigen Schatten der Schriftzeichen zeugen.
Wirkt etwas seltsam auf uns, weil es aus dem Strom des Lebens heraussticht wie etwa die Sieben Jungfrauen genannten Felsen bei Oberwesel, die bei Niedrigwasser nackt aus dem Rheinwasser ragen?
Das Gewohnte kümmert uns nicht, wie der Hammer und das Zeug Heideggers, das glatt in der Hand des Alltags liegt.
Sicher, der mit dem karierten Jackett, die mit dem Tattoo am Hals, der mit den Lacklederschuhen will auffallen; aber seltsam wirkt auf uns der Mann im härenen Gewand, der am Rand der belebten Straße sitzt, ein Lamm auf dem Arm hält und sich für einen Propheten ausgibt.
Seltsam ist der Gedanke des Kindes, daß die Großmutter nicht tot sein kann, weil sie ihm im Traum erschienen ist.
Seltsam ist der philosophische Gedanke, daß an etwas Nichtexistierendes wie Pegasus oder die Menge aller Primzahlen zu denken etwas Paradoxes impliziere.
Seltsam ist das Gefühl, durch den Gedanken an sie werde die Person gleichsam berührt, noch seltsamer, im Gedanken an sie habe uns die Person gleichsam berührt.
Das Paar plant, ein Haus zu bauen; sie sprechen bei jeder Gelegenheit über dieses Haus. Das Haus selbst aber ist weder das Thema ihrer Gespräche, Erwartungen und Träume noch was der Architekt an Skizzen und Plänen auf den Tisch breitet; es ist allererst das Haus, das fertiggebaut vor ihnen steht und über dessen Schwelle sie treten.
Gegenüber dem realen Objekt scheint das irreale oder imaginäre Objekt einer Erwartung, einer Absicht, einer Befürchtung oder Hoffnung ein seltsames Ding.
Doch richtig wäre zu sagen, daß nicht das irreale oder imaginäre Objekt seltsam ist, sondern die Annahme, es handele sich dabei um eine mentale Entität, die dem realen Objekt in jeder Hinsicht außer der Existenz ähnelt. – Doch es ist befremdlich zu sagen, ich beabsichtige morgen meinen Freund zu treffen, der dem imaginären Objekt meiner Absicht ähnlichsieht; denn sähe er ihm nur ähnlich, wäre er es nicht.
Die Gegenstände unserer Erinnerung können keine Bilder oder Vorstellungen dessen sein, woran wir uns erinnern; denn ich erinnere mich nicht an das Bild meiner Großmutter, das mir etwa zeigt, wie sie Klavier spielt, sondern an meine Klavier spielende Großmutter. – Was sollte die Vorstellung der Melodie sein, die meine Großmutter auf dem Klavier klimperte?
Wäre der Freund, den ich morgen zu treffen erwarte, mir als imaginäres Bild in meiner Erwartung gegenwärtig, könnte er anders aussehen, als das Erwartungsbild ihn zeigt, und ich ihn verfehlen.
Seltsam ist aber die Erwartung, daß ich morgen meinen Freund an der verabredeten Stelle NICHT antreffen werde, nicht nur wegen seiner bekannten Unzuverlässigkeit. – Doch seltsam nur, wenn wir meinen, das Wort Freund bedeute die Gegenwart dessen, den ich Freund nenne.
Es gibt nichts, was dem Wort Pegasus korrespondiert; aber deshalb wird das Wort Pegasus nicht bedeutungslos. Also ist die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, ob Worte oder Sätze, nichts, was ihnen korrespondiert.
Die Aussage „Es regnet“ verliert angesichts der Tatsache, daß es nicht regnet, nicht ihre Bedeutung, sondern nur den Status einer wahren Aussage, den sie hätte, würde es regnen.
Die wahre Aussage „Es regnet nicht“ kann kein Bild des nicht vorhandenen Regens sein oder enthalten.
Die Bedeutung der Aussage „Die Kerze ist erloschen“ ist nicht der Schatten der Bedeutung der Aussage „Die Kerze brennt.“
Die Verse Hölderlins von den längst erloschenen Opferfeuern der griechischen Tempel sind nicht ihre Schattenbilder.
Die Bedeutung von Aussagen und ihren Negationen ist weder der Glanz ihrer Anwesenheit noch der Schatten ihrer Abwesenheit.
Die Aussage „Die Kerze ist erloschen“ impliziert nicht, daß sie in unserer Vorstellung oder in einem imaginären Bild noch ein wenig geflackert hat.
Wenn ich von mir sage, ich sei gestern im Park gewesen, kann ich nicht ein imaginäres Bild dessen meinen, der nun redet; ich könnte sonst nie herausfinden, ob das eine dem anderen ähnlich sieht oder korrespondiert.
Seltsam ist, daß uns die Gestalten der Vergangenheit, uns selbst eingeschlossen, wie Schatten am Eingang zur Unterwelt erscheinen, denen Odysseus oder Äneas gleichsam vom Blut der Gegenwart zu kosten geben muß, auf daß sie lebendig werden und sprechen.
Der nicht vorhandene Regen kann nicht die Bedeutung der Aussage „Es regnet nicht“ sein, ebensowenig das Schattenbild des Regens, das die Aussage „Ich fürchte, es gibt Regen“ begleitet.
Das Zeichen, das den Fluchtweg anzeigt, verstehen, heißt ihn im Notfalle gehen, nicht das Zeichen interpretieren.
Die Aufforderung, dem Gastgeber die Flasche weiterzureichen, verstehen, heißt, es zu tun, nicht sie zu interpretieren. – Wir greifen auf Interpretationen nur zurück, wenn er uns in einer uns fremden Sprache aufgefordert haben sollte oder uns der Aufforderung verweigern, weil wir etwa seine Autorität als angemaßt betrachten.
Der Bewußtseinsstrom oder unser Vorstellungsleben mag oder mag nicht unser Sprechen begleiten, aber er ist kein Grund für das sprachliche Verständnis.
Was uns seltsam am Reden und Denken anmutet, mag durch genauere Betrachtung des Sprachgebrauchs immerhin aufgeklärt werden können; einer bringt dir trotz seiner ausdrücklichen Zusage das geliehene Buch nicht zurück. Vielleicht verwechselt er, was wir Zusage und Versprechen nennen, mit dem, was wir mit Vermutung und Voraussage meinen; er sah wohl voraus, wie er dir das Buch zurückbrachte, doch leider kam es dann anders.
Die Seltsamkeiten, die mit unserer nackten Existenz auf dieser Erde und der Existenz des Weltalls verbunden sind, können wir sie durch Sprachkritik auflösen?
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