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Selbstisch – Über einige Formen der narzißtischen Ich-Störung

25.04.2016

Eine Materialie zur Philosophie der Subjektivität

Dir flog eine kleine Fliege ins Auge. Der nervöse Reiz ist so stark und unabweislich nötigend, daß du gezwungen bist, augenblicks das Störungsfeld zu besichtigen und den Schaden zu beheben.

Wenn du Zahnschmerzen hast, bist du, solange sie anhalten, mit nichts anderem beschäftigt, der Schmerz zieht deine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Alle anderen Reize und Wahrnehmungen, die auf dich einströmen, sind des Guten zuviel, du blendest sie möglichst aus, denn sie aufzufassen und gebührend zu verarbeiten, reicht deine irritierte Aufmerksamkeit nicht aus.

Ich kann dir eine Last abnehmen, die du auf dem Rücken trägst. Die nervöse Irritation, die pathogene Ablenkung der Aufmerksamkeit und den Schmerz kann ich dir nicht abnehmen. Ich kann auch nicht in einem gleichursprünglichen Sinne nachvollziehen, wie es für dich ist, irritiert, abgelenkt und unkonzentriert zu sein oder Schmerzen zu empfinden. Der nervöse Regelkreis der Aufmerksamkeit und Schmerzen sind intrinsische Formen der Subjektivität, die nicht vertreten oder adäquat repräsentiert werden können.

Wir nennen Ich-Störungen pathologisch (in skalierbaren Schweregraden), wenn sie den Betroffenen zeitweise oder auf Dauer der Fähigkeit berauben oder die Fähigkeit einschränken, an den sozialen Lebensgewohnheiten seiner Gemeinschaft teilzunehmen. Wir erfahren von Hermann Hesse, er habe sich geweigert, bei der Beerdigung seiner eigenen Mutter anwesend zu sein; von Goethe, er sei nicht willens und in der Lage gewesen, das schmerzvolle Sterben seiner Frau Christiane in teilnehmender Nähe mit anzusehen und ihr die letzte Ehre des Abschieds auf dem Friedhof in Weimar zu geben (der Leichenzug ging wohl an seinem Fenster im Haus am Frauenplan vorbei, wo er sich verkrochen hatte).

Wir gehen wohl richtigerweise davon aus, daß hartnäckige oder stereotype Formen der Weigerung, dem Leiden und Sterben von nahestehenden Mitmenschen die gebührende Achtung und sozial konventionalisierte Aufmerksamkeit (gefühlshafte Anteilnahme, Trauer und Trauerrituale) zu bezeigen, auf das unbewältigte (und vielleicht nicht völlig bewältigbare) ursprüngliche Trauma, das Wissen um die eigene Versehrbarkeit und den eigenen Tod, verweisen. Formelhaft können wir sagen: Der tieferliegende Grund der Ich-Störungen, nämlich die Bedingung ihrer Möglichkeit, beruht auf der Conditio humana der Verletzbarkeit und Sterblichkeit des Menschen als eines natürlichen Organismus, und zwar in dem Schweregrad, wie der Sinn für die menschliche Fragilität und Hinfälligkeit bei den Betroffenen durch frühe Traumatisierungen in ein Übermaß oder Unmaß der Irritation und Verängstigung gesteigert ist.

Der funktionale Sinn der nervlichen Irritation und des Schmerzempfindens ist es, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um ihre Ursachen zu beseitigen oder zumindest die Intensität des störenden Erlebens zu mildern. So suchst du unter dem Augenlid nach dem Störenfried, der dich belästigt, und fischst die Fliege mittels eines geschickt manövrierten Taschentuchs heraus. Es bleibt dir manchmal keine Wahl, als dir den faulen Zahn als Ursache der Schmerzen durch einen zahnärztlichen Eingriff ziehen zu lassen, was dir für einige Momente noch größere Schmerzen bereiten mag, die ertragen zu müssen die Aussicht auf baldige Schmerzfreiheit entschädigt.

Wir sehen hier den funktionalen Zusammenhang zwischen der erfahrenen Not und dem Erfindungs- und Forschergeist des Menschen, kurz seiner Intelligenz. Denn Not lehrt bekanntlich nicht nur beten, sondern mehr noch denken (während wir sagen sollten, das dankbar empfundene Erlebnis tiefer Beglückung lehre beten im Sinne des Dankens, aber auch dichten im Sinne des Preisens und Rühmens). Die conditio humana im großen Lebenskontext des drohenden Hungers und anderer natürlicher Unbill gibt unserer Aufmerksamkeit den kulturellen Leitfaden an die Hand, durch Einsatz probater Mittel Notlagen zu wenden.

Intelligenz ist wie wir sehen kein abstraktes Vermögen eines beliebigen Verfahrens, sondern die Fähigkeit, besonnen, klug und angemessen zu handeln. Handeln aber ist der Humus des menschlichen Lebens und aller Geschichte, nämlich die Leistung, den eigenen Körper im Bewegungs- und Spielraum der Umwelt sinnvoll in Aktion zu setzen, zu gehen und zu laufen, zu warten und zu beobachten, zu greifen und zu bewegen, aber auch Materialien in sinnvoller Weise zu zerlegen und für den Werkzeuggebrauch neu zusammenzusetzen.

Wir bemerken, daß die menschliche Aufmerksamkeit und Intelligenz an Willensfunktionen gebunden sind, nämlich die natürlichen Impulse zu handeln. Daher ist die Rede von einem unbewußten Willen, wie wir sie bei Schopenhauer und leider auch in seiner Nachfolge bei Freud finden, insofern sinnwidrig, als Wollen bedeutsam nur sein kein auf dem Hintergrund der mehr oder weniger intelligenzbegabten Willkürbewegungen, die wir mit unseren Gliedmaßen ausführen.

Nach diesem Exkurs kommen wir also zu der Schlußfolgerung, daß Ich-Störungen Beeinträchtigungen des Willens zu intelligentem Handeln darstellen oder zumindest implizieren.

Das wollen wir beispielhaft erläutern. Ein verbreitetes, einigermaßen harmloses psychisches Zeichen für eine narzißtische Ich-Störung sind sentimentale Selbstverhaftungen wie Wehleidigkeit und Selbstmitleid. Der Wehleidige zieht sich oft schon bei geringfügigen Anlässen und Ereignissen, die sein übermäßiges oder übergroßes Selbstbild ein wenig in den Schatten stellen, in seine vier Wände zurück und glänzt bei den anderen durch Abwesenheit, weil er beispielsweise versehentlich nicht wie die anderen Gäste mit einer Einladungskarte bedacht, sondern in der Eile nur telefonisch unterrichtet wurde. So befriedigt er ein kleines Rachegelüst, wenn er die Freunde seine fehlende Gegenwart schmerzhaft spüren zu lassen gedenkt (wenn auch in Wahrheit die Tatsache, daß er der Einladung zur Geburtstagsfeier nicht gefolgt ist, bei den Anwesenden nur ein kurzes Kopfschütteln hervorrufen mag). Andererseits suhlt er sich aber auch in Selbstmitleid, sich solcherart von der Gesellschaft ausgestoßen fühlen zu können.

Der triviale Umstand, daß sich der Wehleidige durch geringfügige Anlässe zurückgesetzt oder gekränkt fühlt, weist auf eine Lähmung seines Willens zur angemessenen Interaktion hin; aber auch auf eine tiefer gehende Kränkung, die ihm in früher Kindheit durch Vater oder Mutter widerfahren sein mag und die ihm die falsche Lektion gelehrt hat, das erlittene Hemmnis nicht aktiv durch Handeln wettzumachen, sondern die Kränkung durch passive Formen des Gekränktseins und Den-Gekränkten-Spielens, des Krankseins oder Den-Kranken-Spielens zu kompensieren. Es ist in derlei Fällen zu vermuten, daß das wehleidige Kind schließlich die Aufmerksamkeit der sensiblen Mutter hat auf sich ziehen können; wir sprechen sinnigerweise von Krankheitsgewinn.

Wenn wir die Urform der Ich-Störung einerseits mit dem Wissen um die Versehrbarkeit und sterbliche Hinfälligkeit der Menschenwesen in Verbindung setzen und andererseits mit der Funktion des Willens als Urform des intelligenten Handelns, können wir unsere Schlußfolgerung sentenzenhaft auch so ausdrücken: Das vom Wissen um den Tod gekränkte und den Tod nicht wahrhaben wollende Ich will nicht sein, wie alle anderen sind. Alle anderen sind verletzbar und müssen sterben. Das kranke Ich dünkt sich unverletzbar und unsterblich. Da ihm aber das Wissen um seinen Tod nicht völlig verschlossen bleibt, wälzt es sich gleichsam ein Leben lang auf dem Pfuhl dieses Selbstwiderspruchs.

Narzißtisch gestörten Charakteren begegnen wir öfters unter Künstlern. Warum? Weil der Kult um das Werk und die Aureole seiner Unsterblichkeit oder zumindest seiner Einzigartigkeit, die Künstler und Werk vom Publikum und von ihnen selbst gern umgelegt wird, den Narziß in seinem Ich-Wahn und Ego-Dünkel bestärken. Wenn er schon sterben muß, so nicht sein Name und sein Werk. Und wenn Atome seiner Seele auf magische Weise in seinem Werk enthalten sind, dann lebt er mit ihm fort. Solange sein Name genannt, sein Werk gelesen oder zitiert wird, ist er nicht ganz tot. Wenn er aber zu Lebzeiten immer weniger genannt, immer weniger gehört und gelesen, kaum noch zitiert wird, glaubt er sich schon ante mortem tot oder scheintot.

Warum unter Künstlern, warum nicht unter Wissenschaftlern? Nicht ausschließlich wegen einer spezifisch geformten und geneigten Intelligenz, sondern deshalb, weil Wissenschaftler der seriösen Art in einem permanenten disziplinären und interdisziplinären Austausch ihre methodisch begründeten Forschungsergebnisse einander zur Begutachtung vorlegen und dabei das Ziel der Objektivierung und Fundierung ihrer Arbeiten auch unter Inkaufnahme kritischer Einwürfe der geschätzten Kollegen nicht aus dem Auge verlieren. Der narzißtische Künstler scheut nicht nur Kritik, sondern weist sie als in Hinsicht auf seine Ausnahmestellung als Person und künstlerisches Genie ungeziemend, ja ehrabschneidend und rufmörderisch mit aller Schärfe zurück. Dieser pathologische Befund ist mittlerweile zum Standard und unter dem schillernden Begriff der künstlerischen Freiheit zum Aushängeschild der Kunstproduktion und Kunstpräsentation geworden, das keinen zurückweist, auch wenn er mangelndes Talent durch Frechheit, Schamlosigkeit und Chuzpe auszugleichen wähnt. Es verhält sich hier analog zum Mißbrauch des Begriffs der freien Meinungsäußerung, die dem vulgären Geschmack denselben Rang einräumt wie dem sublimen und die Hervorbringungen würdeloser Satiriker und Gossen-Poeten mit demselben Namen benennt wie die Verse Goethes und Hölderlins. Es ist dabei erhellend zu bemerken, daß in Zeiten, die das glänzende Schaffen der Goethe, Schiller, Hölderlin und Kleist, ja noch eines Trakl und Rilke gesehen, nicht nur eine mehr oder weniger strenge Zensur die Produktiven sinnigerweise vor dem erstbesten Auswurf der sich kratzenden, sich scheuernden oder sich erbrechenden Seele bewahrte, sondern unser narzißtisch gekränkter Künstler die wenigsten Chancen gehabt hätte, eine Bühne oder ein Lesepublikum zu ergattern – unter anderem sorgten die anerkannte Autorität und kritische Stimme der Großen ihres Handwerks und der gebildete Geschmack des Publikums dafür, daß geistige Leere sich nicht hinter Geschrei und obszönen Gesten verstecken konnte.

Man könnte sagen, der Narziß hat ein falsches Selbstbild aufgebaut, das dem einer ägyptischen Mumie nicht unähnlich ist. Nur ist er bei lebendigem Leibe mumifiziert und im Zeitlichen dem glänzenden Schein der Ewigkeit gestorben. Der Selbstverliebte aus tiefer Kränkung klebt am Spiegelbild eines geschönten, verklärten Selbstbildes, dessen Reflexe er auch in den Augen der Mitmenschen sucht, und wehe, er findet sie dort nicht oder sie verschließen die Augen vor ihm: Sein Groll ist ihnen sicher.

Tätigkeit war das Remedium, das sich der lyrisch-stiller Betrachtung so sehr hingegebene Goethe verordnete. Tätig zu sein und sinnvolles Tun und Vollbringen, wie klein es auch beginne, bedarf indes der Einfügung der ichlichen Bestrebungen in eine übergeordnete, zweckhafte Struktur, ob wir nun ein Mahl zubereiten oder die Wohnung fegen und aufräumen, mit Kindern spielen oder mit Freunden uns unterreden. Das Rezept und die reinliche Ordnung, das Spiel und die Form des Dialogs geben hierfür die Strukturen vor, in die wir uns gern einfügen. So finden wir Erfüllung unserer selbst im Dienst an einem uns aufnehmenden größeren Ganzen.

Die narzißtische Störung zeigt sich in der trotzigen und rebellischen Weigerung, sich einem höheren Zweck unterzuordnen, der narzißtische Charakter ist der Urtypus des Rebellen, der jede Form der Dienstbarkeit und der Demut als Einschränkung und Kränkung seiner Selbstherrlichkeit entrüstet von sich weist.

Kommen wir nochmals zum Fall Hermann Hesse zurück, der in vielen literarischen Gestalten die Situation des gekränkten Kinds und des unverstandenen Künstlergenies, aber auch die stille und erhabene Gegenwelt einer menschliches Maß übersteigenden, großen Natur auf der einen und die grelle, orgiastisch aufzuckende Welt des trotzigen oder verzweifelten Rebellen gegen die harte, dem Mammon huldigende Welt der Väter auf der anderen Seite dargestellt hat. Hesse reicherte unser Bild der narzißtisch gekränkten Persönlichkeit mit seiner Biographie und seinen literarischen Gestalten um zwei wichtige Motive an: die Ambivalenz des Wunsches, verstanden und anerkannt zu werden und doch als ewiges Rätsel herumzugeistern, und den für den Ich-Verstörten so elementaren Impuls zum Selbstmord oder zu Suizidgedanken.

Den Ich-Kranken verlangt es nach nichts mehr, als vom Applaus umbrandet und von allen und am meisten den größten Autoritäten gehört und hofiert zu werden. Oft setzt er als Künstler seine ganze Energie, seine Liebes- und Lebenschancen, ja seine Gesundheit aufs Spiel, um dieses Ziel durch obsessive Vollbringung seines Werkes zu erreichen. Doch wird er gelobt, klingt der Applaus in seinem Ohr, mag er für einen Augenblick am Rand der Bühne aufblühen und strahlen, im nächsten schaut er betreten und verlegen zur Seite, denn keine Anerkennung dringt wirklich ganz in das Dunkel seiner gekränkten Seele, eine jede muß er sich letztlich versagen, weil sein Selbstgefühl wie ein Vogel auf dem schwankenden Blatt der Teichrose zittert. Nur die fühlen wir er selbst, nur die am Dasein leiden, dunkel und heillos wie er selbst, könnten ihn verstehen. Aber da er sich als einzigartig und singulär betrachtet, hüllt er sich in das hochmütige Schweigen des von Huldigungen zugleich Geehrten und Mißverstandenen.

Hesse hat wie kaum ein Künstler vor ihm und nach ihm die Welt der Väter als Hölle des rohen Egoismus und des unzarten Umgangs mit den Mitmenschen dämonisiert und verketzert, wie der berühmte Brief an den Vater bezeugt. Darin fand er ein schrilles Echo in der aufbegehrenden Jugend zunächst der USA, dann halb Europas. Nun ist der Vater immer darin mächtiger als der Sohn, als er ihn und nicht dieser jenen gezeugt hat. Das ist eine für den gewöhnlichen Erdling seltsame Kränkung, aber sie motiviert den narzißtisch geprägten Haß des Späteren auf den Früheren.

Der Ich-Kranke ist der typische Selbstmörder. Hesse hat einen mißglückten Suizid überlebt, seine persönlichen Zeugnisse und die Reflexionen seiner Protagonisten drehen sich oft um das freiwillige Ende. Warum fühlt sich der Kranke hienieden aufs elementarste unwohl und unbehaust? Nun, weil sich die Welt nicht um ihn dreht, nicht seine Welt ist, ja im Letzten sein Leben nicht einmal ganz ihm zu eigen sein kann, wird es doch heimgesucht von so vielen Leben, die ihm vorausgingen, von so vielen Sprachen und Zeugnissen mitgesprochen und mitgelesen, die er nicht selbst erschaffen und gestaltet hat. Er ist unter den Wellen des unendlichen Ozeans eine unter unzähligen. Dieser Gedanke ist ihm unerträglich, er möchte als einzelne Welle lieber untergehen, wenn er nicht das ganze Meer sein kann.

Wir sahen, wie deine ganze Aufmerksamkeit von der kleinen Fliege in Beschlag genommen wird, die dir ins Auge flog. Der Kranke, den wir hier in einigen Zügen porträtiert haben und der als Anlage und Schatten in uns allen umgeht, ist gleichsam besessen von dem Fremdkörper, der seine Seele befallen hat, und alles unbeholfene Kratzen und Scheuern bringt ihn nicht heraus. Was ist dieser Fremdkörper? Es ist der Atem Gottes, der ihm den tiefsten Grund des Lebens der Seele eingab, ohne den er ins Nichts versänke, aus dem jener ihn berief. Vor dieser fremden Macht und Herrlichkeit kann das starre und steife Selbst des seelisch Kranken das Knie nicht beugen.

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