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Seelischer und ästhetischer Ausdruck

08.01.2018

Philosophische Sentenzen und Aphorismen

Gewöhnlich lächelt, wer sich freut, macht ein trauriges Gesicht oder stöhnt, wer traurig ist oder Schmerzen hat. Wir gewahren an jemandes Gesichtsausdruck oder einer lautlichen Äußerung, wie es um ihn bestellt ist. Dies ist die psychologisch primitive oder intuitive Form des Verstehens, die augenscheinlich ohne Sprache und sprachlich artikulierte Äußerung auskommt.

Wir sagen, jemand sei frohgemut, weil er lächelt, er sei betrübt, weil er finster dreinblickt, und er habe Schmerzen, weil er stöhnt. Wir verwenden demnach psychologische Prädikate wie froh, traurig und leidend aufgrund entsprechender Beobachtungen.

Wenn jemand äußert, er sei froh, daß wir zu ihm gefunden haben, oder er sei traurig, weil sein Vater verstorben ist, oder er habe Kopfschmerzen, verstehen wir unmittelbar aufgrund der sprachlichen Mitteilung, wie es um ihn bestellt ist, ohne auf die Beobachtung seines Verhaltens angewiesen zu sein.

Das Verstehen der sprachlichen Äußerung bedarf in vielen Fällen keiner stützenden Verhaltensbeobachtung.

Das Verstehen aufgrund einer sprachlichen Äußerung ist dem Verstehen aufgrund der Beobachtung eines Gesichtsausdrucks, eines Gebarens oder Verhaltens äquivalent.

Wir können uns irren, wenn wir aufgrund der Wahrnehmung eines Lächelns zu der Überzeugung kommen, der Lächelnde sei froh, obwohl er in Wahrheit verlegen ist. So reden wir ja auch von einem verlegenen Lächeln.

Wir können unsere irrtümliche Verwendung eines psychologischen Prädikats korrigieren, wenn wir den Kontext eines physiognomischen Ausdrucks oder Gebarens berücksichtigen. Wir sehen, daß es jemanden peinlich berührt, zu spät zu unserer Verabredung erschienen zu sein. Dann nimmt sein Lächeln eine andere Schattierung oder Färbung an, eben die der Verlegenheit.

Unser Verstehen beruht nicht auf Empathie oder Einfühlung. Denn wir können natürlich den Ausdruck der Freude oder Trauer in jemandes Mimik und Gebaren verstehen, wenn wir selbst traurig oder gut gelaunt sind.

Wir verstehen, wenn einer aufgrund eines Todesfalles sagt, er sei traurig, auch wenn wir seine Trauer nicht teilen oder nachvollziehen können, weil uns der Verstorbene gleichgültig oder gar verhaßt war.

Wenn jemand ständig nervös auf die Uhr schaut oder aus dem Fenster blickt, verstehen wir, daß er gewartet hat, wenn es an der Wohnungstür klingelt und er eilt, dem erwarteten Gast zu öffnen.

Wir verstehen gewisse Gebärden und Verhaltensweisen als Ausdruck des Wartens und der Erwartung. Die Gebärden und Verhaltensweisen sind dabei ein echter Teil des Wartens.

Das Verstehen der sprachlichen Äußerung: „Ich warte auf die Ankunft meines Freundes“ und das Verstehen der Gebärden des Wartenden als Ausdruck des Wartens sind gleichwertig und äquivalent.

Wenn wir sehen, wie jemand hastig, unwirsch und wahllos Blumen in eine Vase steckt, und einen anderen sehen, der die Blumen mit Bedacht, wählerisch und mit gleichsam sehender Hand in der Vase anordnet, sprechen wir von plumpen und tauben Gebärden auf der einen Seite und von feinsinnigen und schönen Gebärden auf der anderen Seite. Wir sprechen dem jeweiligen Verhalten in diesem Falle also keine psychologischen Prädikate zu, sondern einen spezifischen ästhetischen Ausdruckswert.

Dasselbe tun wir, wenn wir das Ergebnis des plumpen und des wohlbedachten Arrangierens der Blumen in Augenschein nehmen. Hier sehen wir ein unordentliches, wildes Gestrüpp, dort eine harmonisch-lichte Anordnung, bei der auf schwer zu bestimmende Weise die Gestalt, der Wuchs und die Farben der ausgewählten Blumen zueinanderpassen.

Wir sprechen von gewissen ästhetischen Anmutungsqualitäten, die sich unserer Wahrnehmung von Gesten, Bewegungen, Umgebungen und Arrangements scheinbar unwillkürlich aufdrängen.

Wir müssen die ästhetischen Ausdruckswerte in der alltäglichen Wahrnehmung und ihrer umgangssprachlichen Verwendung eingeübt und erprobt haben, um sie in der verfeinerten und sublimen Gestalt des Kunstwerkes wiedererkennen und genießen zu können.

Es ist bemerkenswert, daß wir dazu neigen, aufgrund der Wahrnehmung ästhetischer Ausdruckswerte und Anmutungsqualitäten am Gebaren und Verhalten einer Person dieser spezifische psychologische Eigenschaften zuzusprechen. So sprechen wir angesichts des wahllosen und häßlichen Blumenarrangements von einem Grobian oder einem tumben Menschen. Wie umgekehrt angesichts des harmonischen und wohlgeordneten Arrangements von einem feinsinnigen und geistreichen Menschen.

Indes kann jemand, wie wir sagen, zwei linke Hände haben oder ungeschickt sein, und ihm mag es trotz guten Willens nicht gelingen, die Blumen in der gewünschten schönen Anordnung zu arrangieren. Doch auch dies vermögen wir zu sehen, und wir werten das Ergebnis seiner Bemühungen nicht nach dem vorderhand enttäuschenden Eindruck oder nach einem idealen Bild harmonischer Anordnung, sondern gleichsam nach dem Ton oder der Aura, die das unvollkommene Bild uns einflößt.

Eine Stimme kann brüchig, schwach und müde sein, dennoch vermögen wir ihr eine gewisse Sanftheit und Schönheit des Ausdrucks anzuhören.

Wir erblicken die gleichsam ungeborene schöne Gestalt im Ungestalten.

Wenn wir dem ästhetischen Ausdruck in Gedichten Goethes oder Rilkes nachhören und nachsinnen, gelangen wir zu einem imponderablen Etwas zwischen den Worten und Zeilen, einem Etwas, das sich nicht unmittelbar aussprechen läßt, das uns dafür aber umso stärker betört und ergreift und unser Dasein gleichsam einhüllt wie der Duft die Blume oder der feuchte Glanz den Blick.

Wir verspüren dies Unwägbare auch an dem abgebrochenen Gedanken oder dem stockenden Wort, das an einen unwegsamen Ort oder in eine Aporie geraten zu sein scheint. Doch finden wir uns dabei bisweilen wie auf dem einsamen Pfad wieder, der auf einer Anhöhe abbricht, die uns unverhofft eine weite Aussicht eröffnet.

Keine Geste, kein Ausdruck enthält uns ganz.

Jeder Tag scheint unwiederbringlich in Nacht zu münden, am Saum der Nacht glimmt es wie frischer Schnee.

Es ist rührend zu sehen, wir kindlich-töricht der alte Goethe mit dem vollkommensten Juwel seines Schaffens, der Marienbader Elegie, umging, indem er das kalligraphische Manuskript in eine kostbare Schale edler Stoffe einhüllte, als wollte er es vor dem zersetzenden Regen der Zeit bergen.

Die Geste und der Ausdruck, in dem wir uns ganz zu fassen, ganz zu geben vermeinen, sind ebenso flüchtig wie ein letztes Adieu.

Abschiedsgruß, der wie eine Flocke vom Wind davongetragen wird.

Auch wenn sich die Flocke an der Wimper einer Schönen verfängt, sie schmilzt bald dahin.

Indes ist das Unwägbare, das uns erregt und das wir schätzen, nicht dem feingeschliffenen Diamanten und dauerhaften Juwel vergleichbar, so märchenhaft sie ins Zwielicht des Daseins funkeln mögen, sondern dem Duft, der flüchtig uns aus dem Sommer der Erinnerung anweht, dem Klang, der während wir einschlafen an der Blütenspitze des ersten Traums herabtropft.

Jede Geste, jedes Wort, in denen wir uns ganz zu fassen, ganz zu geben vermeinen, sind eine Abschiedsgeste, ein Adieu.

 

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