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Schrift und Bild

17.09.2015

Unterscheiden ist gut

Wir tun gut daran, unterschiedlichen sinnlichen und mentalen Wurzeln entstammende Funktionen nicht unbedacht, leichtsinnig oder mutwillig zu kreuzen und zu mischen. Denn auch wenn man Geschriebenes sehend lesen kann, bedeutet dies nicht eo ipso, man könne auch Bilder lesend sehen.

Das Geschriebene ist ja oft oder meist das früher einmal Gesagte und auch später wieder Sagbare, aber das Bild ist nicht immer und auf alle Fälle die Übertragung eines gesagten oder geschriebenen Satzes in das zweidimensionale Medium, dessen bedeutungstragende Faktoren Linien und Farben darstellen.

Einfachste Bilder, die eindeutige Botschaften übermitteln, nennen wir Piktogramme oder Bildzeichen wie die primitiven Gesichter, die man in E-Mails positionieren kann und deren Sinn sich durch das Umkehren des Kreisbogens vom Ausdruck für Freude in den Ausdruck für Kummer in das Gegenteil verwandeln läßt, oder Verkehrszeichen wie das Warnschild für Hochspannung, das auf einem rotgeränderten Dreieck die Zacken eines Blitzes zeigt, oder das Zeichen für die Eignung des angezielten Ortes für Rollstuhlfahrer, der durch ein auf einem Kreisbogen sitzendes Strichmännchen dargestellt wird.

Wenn wir einen Blick auf die Bildzeichen werfen, die Gerd Arntz entwickelt und Otto Neurath angeregt hat und die unter der Standardmarke Isotype (http://www.gerdarntz.org/isotype) kursieren, bemerken wir auf Anhieb, daß die meisten uns nichts sagen und daher ihre Intention, etwas Bestimmtes mitzuteilen, verfehlen, weil sie ohne Kontexthülle daherkommen. Piktogramme aber werden dadurch verständlich, daß ihr Zeichen wie der gezackte Blitz in einen Kontext gehüllt oder in einen Bezugsrahmen gesteckt wird, im Falle des Blitzes das rotgeränderte Warndreieck, das mir mitteilt: „Achtung, in diesem Raum herrscht Hochspannung!“ Positive und negative Weisen der Aufforderung, Warnen und Empfehlen, Verbieten und Gebieten sind basale Kontexte und ihre Symbolisierung durch Farben wie Rot und Blau basale Kontexthüllen.

In Isotype finden wir viele abstrahierte Formzeichen für Objekte. Da ist ein Bildzeichen, das ein Brot darstellt, aber was sollen wir damit anfangen? Wird mit dem Zeichen gesagt, daß hier Brot gebacken wird, daß wir hier mit Brot versorgt werden oder daß wir irgendwo im nordeuropäischen Raum gelandet sind (denn die gezeichnete Form des Brots ist für unsere geographische Zone typisch)? Es findet sich auch ein Bildzeichen für Telefon, aber der abgebildete schwerfällige Apparat mit einem unhandlichen Hörer stammt aus der guten alten Zeit, in der Telefonieren noch eine Art Handwerk war. Daraus ersehen wir, daß Piktogramme veralten können und sich ihr Sinn im Zeitverlauf verbiegen mag: Das Zeichen könnte heute so gelesen werden: „Hier gibt es alten Trödel“ oder „Hier können Sie ihre elektronischen Altwaren entsorgen“, doch selbst zu den heroischen Zeiten eines Otto Neurath war nicht ganz klar, was eigentlich gemeint war: „Hier können Sie telefonieren“ oder: „Hier wird telefoniert, seien Sie deshalb bitte leise!“ Wir finden wahrhaft viele Kuriositäten bei Isotype, aber vielleicht enden all diese pompösen didaktisch-utopischen Vorhaben zur Beglückung der Menschheit im Kuriosen und Skurrilen. Nehmen wir das Bildzeichen einer Sanduhr, wie sie einmal als Eieruhr und dergleichen benutzt wurde. Was soll sie uns wohl sagen: „Wehe Mensch, deine Zeit ist bald abgelaufen“ oder „Kommt Zeit, kommt Rat“ oder „Eile mit Weile“? Wieder sehen wir, daß Bildzeichen ohne Kontexthülle keinen klaren Sinn übermitteln.

Wenn ich die abstrakten Zeichen für Mann und Frau nebeneinander sehe, kann ich mir allerlei mehr oder weniger sinnvolle Sachverhalte zusammenstellen, auf die angespielt werden soll: „Die Menschheit ist in zwei natürliche Geschlechter unterteilt“ oder „Männer und Frauen können gemeinsam eintreten/Platz nehmen“ oder „Männer und Frauen stellen sich in zwei Reihen nebeneinander auf“ oder „Hier werden Ehen angebahnt“.

Die Annahme, Sachverhalte oder Tatsachen ließen sich durch schlichte Kombination von Bildzeichen darstellen, ist demnach falsch. Wenn ich die Aussage „Jedes Dreieck hat drei Winkel“ mittels des Bildzeichens eines beliebigen Dreiecks glaubte wiedergeben zu können, läge ich deshalb nicht richtig, weil das Bildzeichen eines beliebigen Dreiecks alles Mögliche und Unmögliche bedeuten kann: „Hier wird Geometrie getrieben“ oder „Ich wollte ein rechtwinkliges Dreieck zeichnen, aber es ist mir mißlungen“ oder „Dieses Dreieck (und nur dieses Dreieck) hat drei Winkel“. Wobei kurioserweise die letzte Aussage nicht falsch ist, denn jedes Bild kann ja als nicht symbolisierend oder nur sich selbst präsentierend aufgefaßt werden, aber dann wäre es kein Zeichen und wir gingen ganz leer aus.

Es sieht demnach so aus, als wäre uns der logisch entscheidende Sprung von der Aussage „Dieses Dreieck hat drei Winkel“ zu der Aussage „Jedes Dreieck hat drei Winkel“ durch eine geeignete Verwendung von Piktogrammen verwehrt. Um zu verstehen, daß mit dem Bildzeichen des Dreiecks nicht nur dieses Dreieck, sondern alle denkbaren, gezeichneten oder nicht gezeichneten Dreiecke gemeint sind, müßten wir eigens ein eigenes Piktogramm hinzufügen, beispielsweise einen kleinen Kreis. Aber um das Bildzeichen des Kreises richtig verstehen zu können, müßten wir schon wissen, was mit den logischen Ausdrücken „alle“ und „jeder“ gemeint ist. Wir drehen uns im Kreise.

Ein Warnschild stellt einen Wasserhahn dar, aus dem Wasser in ein unter ihm stehendes Glas tropft. Das Bildzeichen ist mit einem roten Querbalken versehen. Wir wissen, das soll heißen: „Kein Trinkwasser!“ oder: „Aus diesem Hahn bitte nicht trinken!“ Aber könnte es nicht auch heißen: „Die Zuleitung zu diesem Hahn ist verstopft oder versiegt“ oder: „Aus der Leitung trinken ist ungesund, bevorzuge Quellwasser“? Ein anderes Warnschild zeigt den Schattenriß eines großen Hundes, und auch dieses Bildzeichen wird von einem roten Balken gequert. Wir wissen, es soll heißen: „Hunde (mitbringen) verboten“, aber könnte es nicht auch heißen: „Große Hunde nein, kleine süße Hundchen ja“ oder „Sehen Sie zu, daß Sie nicht auf den Hund kommen“ oder „Ein Hund ist zu wenig, bringen sie mindestens zwei mit“?

Wir bemerken, daß wir nicht nur Schwierigkeiten haben, den logischen Begriff „alle“ oder „jeder“ piktographisch auszudrücken, sondern auch den logischen Begriff „nicht“ oder die Negation. Die Verwendung von Allaussagen und die Verwendung von Negationen sind aber basale logische Operationen, die unser Denken aufbauen.

Uns scheint der Weg vom Bild zum Gedanken beschwerlich, wenn nicht verwehrt. Es scheint, daß wir kein geeigneteres, erprobteres, reichhaltigeres Medium für den Ausdruck unserer Gedanken finden können als die Sprache. Wenn wir demnach mittels Sprache und Schrift unsere Gedanken ziemlich angemessen und adäquat darstellen können, von Bildern aber bei den basalen logischen Operationen der Verallgemeinerung und der Negation mit Informationen unterversorgt werden, müssen wir schließen, daß Bilder bestimmte Gedanken nicht angemessen und adäquat zum Ausdruck bringen können und daher in Bildern zu denken oder in Bildern zu denken wähnen oder mehr in Bildern zu denken zu empfehlen auf einem Mißverständnis der unterschiedlichen Funktionen von Sprache und Schrift auf der einen und von Bildern auf der anderen Seite beruht.

Denken wir an das Brot-Piktogramm bei dem Versuch einer didaktisch werthaltigen Standardisierung von Bildzeichen durch Gerd Arntz und seinen philosophischen Mentor Otto Neurath zurück: Da sehen wir also den Brotlaib und schwanken in den Annahmen folgender Bedeutungen: „Hier wird Brot gebacken“, „Iß mehr Brot!“, „Jeder bringe sein eigenes Brot mit!“ oder „Der Mensch lebt von Brot“, wobei wir als Negation der letzten Aussage gern herausstellen: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein“.

Gingen wir davon aus, daß das Piktogramm die eindeutige Botschaft transportierte: „Hier wird Brot gebacken“, und wir durchschritten die Tür mit besagtem Bildzeichen, fänden in dem Raum dahinter aber nicht eine Backstube, sondern einen fröhlichen Haufen trinkender, deklamierender und leider auch singender Alter Herren einer traditionsreichen Studentenverbindung, schlössen wir zurecht, daß die mit dem Bildzeichen getätigte Aussage nicht wahr, sondern falsch wäre. Oder würden wir unsicher und rätselten herum, ob das Piktogramm des Brotes am Ende eine ganz andere Bedeutung habe und vielleicht das kuriose Emblem dieses Männerbunds sei, nach dem Motto: „Wir backen unser Brot selber“ oder „Wir essen nur selbstgebackenes Brot“?

Da wir offenkundig mittels unserer Piktogramme nur mangelhaft über ihre präzise Bedeutung aufgeklärt werden und oft einen kompetenten Sprecher zu ihrer Ausdeutung zu Rate ziehen müssen wie den Fahrlehrer oder wenn es zu spät ist den Verkehrspolizisten oder Richter am Verkehrsgericht, wenn es um die Bedeutung der Verkehrsschilder geht, sehen wir den Weg vom Bildzeichen zum Gedanken nicht nur wegen der piktographisch schwierigen oder unmöglichen Darstellbarkeit der logischen Ausdrücke für „alle“ und „nicht“, sondern sogar für den dritten und entscheidenden logischen Operator, den logischen Begriff für „wahr“ und „falsch“, verstellt.

Denken wir an übersichtliche Landkarten und Wanderführer, bei denen es sprechende Bildzeichen für Schlösser, Burgen, Ruinen, Kirchen oder Brücken, für Berge, Wald und Äcker gibt, aber auch Zuordnungen von verschieden großen und leeren oder gefüllten Kreisen zur Größe von Ortschaften und Städten, so sehen wir uns auf die Legende verwiesen, um uns über diese Bedeutungen und Zuordnungen ein Licht aufstecken zu lassen. Es mutet augenscheinlich an, daß der größere Kreis für einen größeren Ort steht als der Ort ist, der von einem kleineren Kreis bezeichnet wird, sodaß wir vielleicht durch zwei nebeneinander befindliche Kreise, von denen einer größer als der andere ist, zu der wahren Aussage stimuliert werden: „Der rechts auf der Karte eingetragene Ort ist kleiner als der links eingetragene“.

Doch wird uns diese Aussage nur auf Grund der Tatsache suggeriert, daß sich die beiden Kreise auf einer topographisch ziemlich genauen Karte finden und die Legende uns auf die Bedeutung der Größenzuordnungen der Kreise hinweist. Zwei verschieden große Kreise auf einem leeren Blatt bedeuten dagegen gar nichts oder alles Mögliche, sodaß wir noch so lange auf sie starren können, ohne zu einer wahren Aussage vorstoßen zu können.

Müssen wir aus der Erörterung über die unterschiedliche Fruchtbarkeit der Medien Sprache oder Schrift und Bild zur Darstellung von Gedanken folgern, daß sich die Sprache, weil sie sich als logisch mächtiger als das Bild erwiesen hat, demnach das einzige Medium des Gedankens darstellt? Nein. Die Sprache eignet sich zum Ausdruck des Gedankens, weil ihre grundlegende Einheit der Satz ist und der Satz einen Sachverhalt abbilden kann, dessen Bestehen wir bejahen oder verneinen können und den wir zurecht bejahen, wenn er besteht, und zu Unrecht bejahen, wenn er nicht besteht, dessen Negation wir zurecht verneinen, wenn er besteht, und dessen Negation wir zu Unrecht bejahen, wenn er besteht.

Wenn wir einen Sachverhalt durch andere Medien als die Sprache auf konventionell festgelegte Weise bejahen oder verneinen können, tut dies unserer Wahrheitsfindung nicht den mindesten Abbruch. Bedeutet uns Nicken „Ja“, so hast du korrekt genickt, wenn ich dich gefragt habe, ob du mit mir einen Spaziergang machst und dann mit mir aus der Tür gehst, um den Park anzusteuern. Wenn du dagegen auf meine Frage hin ein Bild mit dem Bildzeichen einer dichten Baumgruppe oder eines Blumenbeetes hochhältst, weiß ich nicht genau, meinst du: „Ich will lieber in den Wald als in den Park gehen“ oder: „Ich muß vorher noch die Blumen im Vorgarten gießen“.

Wir könnten versucht sein, den Gebrauch von Bildzeichen nach dem Modell der Verwendung von Sprechakten zu klassifizieren und zu beschreiben, sahen wir doch, daß Bildzeichen und Piktogramme ähnliche Funktionen übernehmen können wie die sprachlichen Funktionen der Mitteilung, der Aufforderung, der Warnung, des Verbots und der Empfehlung. Wir bemühen uns aber zu zeigen, daß uns diese Analogie auf die falsche Fährte lockt. Können wir etwa die elementare Sprachhandlung des Fragens mittels Bildzeichen wiedergeben?

Das Bild eines großen Hundes teilt uns weder mit, daß hier Tiere dieser Art herumlaufen, noch fordert es uns auf, Tiere dieser Art mitzubringen, noch warnt es uns unmittelbar vor der Anwesenheit solcher Tiere, es spricht weder ein Verbot aus, solche Tiere hierhin mitzubringen, noch empfiehlt es ein solches Verhalten. Schon gar nicht kann das Bild die Frage artikulieren, ob Tiere solcher Art sich hier aufhalten.

Um Bilder solchen sprachlichen Funktionen zu unterwerfen, müssen sie in Kontexte eingebettet werden, die nicht anders als sprachlich zu bestimmen sind. Sollen wir etwa mit dem Hundebild eine Frage aufwerfen, indem wir neben den Schattenriß des Tiers ein Fragezeichen malen? Aber das Fragezeichen ist ein Sprach- und Schriftzeichen sui generis. Dasselbe gilt für die anderen Funktionen. So warnen wir vor dem Hund, wenn sein Bild in einer rotgeränderten Warntafel erscheint. Die Farbe Rot haben wir zuvor gleichsam in einer Legende der Verwendung von Farben als Warnfarbe festgelegt. Eindeutig wird die Botschaft auch dem Farbenblinden, wenn sie von der bekannten Wendung „Cave canem“ begleitet ist.

Ließen wir die Verwendung des Fragezeichens zur Unterwerfung des Bildzeichens unter die Frageform zu, könnten wir diese noch immer nicht spezifizieren, wie wir es durch mündlich oder schriftlich formulierte Fragen ohne weiteres tun können. Fragt das mit Fragezeichen versehene Bild des Hundes: „Bin ich ein Hund?“ oder: „Bin ich nicht ein schöner Hund? oder: „Willst du mit mir Gassi gehen?“ oder auch: „Was soll das Hundeleben?“ Wir können diese Reihe ad libitum ausziehen, ohne auf einen grünen Zweig zu kommen.

Wenn das Fragezeichen mit einem Kreis oder einer Blase umrandet und durch einen Pfeil auf den Kopf des Hundes ausgerichtet wäre, wären wir in einem speziellen Genre der Verwendung von Piktogrammen gelandet, dem Comic. Hier wird das Bild sprechend oder lebendig (Animation) infolge seiner seriellen Positionierung in den Ablauf einer Geschichte oder eines Plots, wie es schon Wilhelm Busch ingeniös und amüsant vorgemacht hat. Wenn das Hundebild mit der Sprechblase des Fragezeichens in einer narrative Reihe auftaucht, in der auch eine Katze ihr Unwesen treibt, weil die Story den komisch-metaphysischen Konflikt zwischen Katzen und Hunden ausschlachtet, und die Katze von dem Hund dabei beobachtet wird, wie sie ihrem minutiösen und pingeligen Reinigungsritual nachgeht, verstehen wir die Reaktion des Hundes etwa so: „Was um Himmels willen soll das Getue?“ Wenn uns aber das Bild mit Hund und Sprechblase eines Fragezeichens isoliert vorgesetzt wird, was soll es uns dann zu verstehen geben? Etwa: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten?“ oder: „Sie nennen mich Hund, aber bin ich vielleicht die Wiedergeburt Buddhas?“ Wir sehen: Selbst comicartig mit Sprechblasen versehene Bildzeichen erschließen uns ihren Sinn nur in einem narrativen Kontext.

Wir finden bei Isotype auch Serien von Bildzeichen wie die Schattenrisse von Kuh, Schwein, Huhn, Schaf und Pferd, die offensichtlich keinen narrativen Kontext haben, sondern eine Art von Klassifikation suggerieren möchten. Aber welche? Sollen wir uns sagen: Hier geht es um typische Vertreter der Klasse der Tiere? Oder konstatieren: Das sind augenscheinlich typische Vertreter der Klasse von Tieren, wie sie auf einem durchschnittlichen europäischen Bauernhof anzutreffen sind? Durch reine Betrachtung der Serie von Piktogrammen können wir dies nicht entscheiden. Doch werden wir anhand solcher Versuche visueller Klassifikationsmuster auf das begriffliche Problem der Klassifikation überhaupt gestoßen: Wenn wir eine Serie von Piktogrammen vorgesetzt bekommen, die aus den Schattenrissen eines Herings, einer Sardine, eines Hais und eines Walfischs besteht, werden wir piktographisch in die Irre geführt: Die Ähnlichkeit der Tiere, die uns die Serie naheliegt, weil sie alle Meeresbewohner sind, trügt. Denn wir wissen, daß Wale keine Fische sind. Wir sehen: Anhand von Bildzeichen können wir keine leistungsstarken Klassifikationssysteme aufbauen.

Nicht anders steht es um allegorische Bilder wie die Bilder mächtiger, ranghoher Raubtiere wie des Löwen oder Adlers zur Kennzeichnung kriegerischer Höchstform und königlicher Macht. Sie sind eine Ableitung sprachlich und meist auch schriftlich artikulierter Erzählungen von der Exzellenz des Kriegers und Herrschers in einer Kultur, in der diese Attribute geschätzt werden. In der jüdischen und christlichen Ikonographie finden wir beides: den Löwen als Herrentier der davidischen Königsherrschaft und als Allegorie der bestialischen Nachtseite der Natur, die durch die Heilkräfte des Messias befriedet und den Lämmern unterworfen werden wird. Wir müssen die Geschichten aus den Königsbüchern oder den Propheten des Alten Testaments und die Gleichnisse Jesu gehört oder gelesen haben, um die Eindeutigkeit der Verwendung dieser Bildzeichen zu sichern.

Du könntest einwenden, daß wir mit dem Piktogramm oder Bildzeichen dieselbe Wurzel für beide Medien, Schrift wie Bild, in Händen halten, sind die ersten Schriftzeichen doch vorwiegend bildliche Abbreviaturen für Gegenstände und Begriffe wie das berüchtigte Strichmännchen für den Gegenstand und Begriff „Mensch“. Allerdings erreichen wir sehr bald im Begriff die Grenze des Bilds. Jedenfalls können wir uns mit den bildlosen Zeichen für bedeutungstragende Laute unserer abstrakten Lautschrift von den Grenzen des Abbilds lösen und zu beliebigen Benennungen und Aussagen aufschwingen.

Durch kleine Suffixe und Präfixe kann der Römer die Stellung des Worts im Funktionsgefüge des Satzes eindeutig bestimmen, was bei Verwendung bildlicher Elemente leicht ins Dickicht der Unübersichtlichkeit führt. Wenn es heißt: Saulus Petrum persecutus est (Saulus hat Petrus verfolgt), ist es ein Unterschied ums Ganze zu der Aussage: Saulum Petrus persecutus est (Petrus hat Saulus verfolgt). Wie ersichtlich, läßt sich der Bedeutungsunterschied im Deutschen nur durch die veränderte Wortstellung sichtbar machen, ein Rest von Ambiguität ist dadurch in etlichen Fällen in Kauf zu nehmen, wie wenn wir fragen: „Hat Petrus Saulus verfolgt?“, was wir nur eindeutig machen können, wenn wir umständlich den Artikel beifügen: „Hat den Petrus Saulus verfolgt?“

Weil anders als das Bild dem Abgebildeten das Wort seiner Bedeutung nicht ähnelt, vermögen wir allem und jedem eine Bedeutung zu verleihen und uns über alles und jedes zu verständigen, während die Grenzen des Abbildbaren schnell erreicht sind, wie wir in den Fällen der Allaussage, der Negation und der Wahrheitsfunktion bereits gesehen haben. Wie wollen wir die Negation verbildlichen? Wenn wir das Bildzeichen durchstreichen, haben wir noch immer keine bestimmte Bedeutung gewonnen: Stünde neben dem Piktogramm des Strichmännchens das durchgestrichene Bildzeichen für Vogel, könnten wir lesen: „Der Mensch ist kein Vogel“, während vielleicht gemeint ist: „Der Mensch kann nicht fliegen“. Es wird kein Zufall sein, daß sich die Entstehung der Logik der Verwendung einer Lautschrift verdankt, dem Altgriechischen.

Es ist ein Unterschied ums Ganze: etwas sehen und einen Seheindruck haben oder ein Bild sehen und ein Zeichen verstehen. Wenn wir mit Freunden beisammensitzen und deinen Geburtstag feiern, siehst du mich und die anderen, wie wir plaudern oder Kuchen essen. Wenn wir später beisammensitzen und uns Fotos der Geburtstagsfeier anschauen, siehst du nicht nur mich und die Freunde, wie sie plaudern und Kuchen essen, sondern darüber hinaus gibt dir die Bezeichnungsfunktion des Bildes zu verstehen, daß es sich um ein vergangenes Ereignis handelt, welches durch das Bilddokument bezeugt oder in Erinnerung gerufen wird.

Wenn wir damals noch über keine Digitalkamera verfügten, können wir ohne uns auf unser schwaches Gedächtnis stützen zu müssen nur dann das Bilddokument zeitlich korrekt einordnen, wenn das Datum seiner Herstellung korrekt von dem Fotografen auf die Rückseite aufgedruckt worden ist. Ohne diesen schriftlichen Bezug tappen wir letztlich im Dunkeln und können nur rätseln, handelt es sich um dieses Jahr oder um jenes Jahr, auch wenn natürlich gewisse Fakten den Zeithorizont abstecken, wie das Faktum des altersgemäßen Aussehens oder des Aufenthalts dieses oder jenes Freundes im Ausland, sodaß er der Feier in diesen Jahren nicht beiwohnen konnte.

Haben wir ein digitalisiertes Foto vor Augen, genügt uns meist die automatische Zeiterfassung seiner Entstehung. In kritischen Fällen müssen wir den Verdacht von Manipulation und Fälschung ausschließen oder bestätigen, wenn wie beispielsweise feststellen, daß sich die abgebildete Person zu dieser Zeit nicht am Entstehungsort des Bildes hat aufhalten können, da ihr Aufenthalt an einem anderen Ort durch dritte Zeugen bestätigt ist.

Die Sprache des Alltags verführt uns dazu, Metaphern aus den stammfremden Bereichen des Sehens im Sinne der primären visuellen Wahrnehmung und des Sehens von Bildzeichen zu vermengen. So verwenden wir gern Redewendungen wie „Ich kann mir davon kein Bild machen“ oder „Er war ein Bild von einem Mann“ oder „Sie hätte mich darüber ins Bild setzen können“ oder auch „Es war, als wäre mir das Erinnerungsbild verblaßt“ und stehen bisweilen nicht an, solche metaphorischen Verwendungen für bare Münze zu nehmen. Dies betrifft vor allem das Gedächtnis, für das schon Augustinus die Metapher einer Vorratskammer von Bildern ausgeschlachtet hat. Heute wollen uns scheinbar philosophierende Neurowissenschaftler diese Metapher mittels bildgebender Verfahren in die Nervenbahnen schreiben. Freilich können Erinnerungen keine Bilder des Erinnerten sein, sonst kämen wir nie dazu, uns an etwas zu erinnern, weil wir das Erinnerungsbild zur Ermittlung seines mimetischen Werts mit dem Erinnerten vergleichen müßten, doch dieses haben wir ja nur wieder als Erinnerungsbild; so verlieren wir uns im Schlendrian des circulus vitiosus.

Wir können sagen, daß einer der Ursprünge mythischer Weltbetrachtung sich einer solchen Vermengung von Sehbild und Bildzeichen verdankt oder eine solche Vermengung regelrecht ausbeutet. So reden die antiken Völker von Blitz und Donner als Zeichen des Willens der höchsten Gottheit und die Hebräer von der Wolke als Zeichen der Einwohnung des göttlichen Geistes bei der Wüstenwanderung des Exodus. Doch auch diese gleichsam natürlichen Bildzeichen erhalten ihre Anmutungsqualität und daher den ihnen gebührende Aufmerksamkeitswert als zu deutende und deutbare visuelle Phänomene durch das Wort, sei es die mythische Erzählung vom Göttervater Zeus, sei es die biblische Erzählung vom Wirken Gottes am auserwählten Volk. Der Mythos im eigentlichen Sinne ist also in der Sprache niedergelegt und dient den Bildzeichen gleichsam wie die Legende der typographischen Karten der Verständlichkeit ihrer Piktogramme.

Leider haben Philosophen, die sich für Diener und Propagandisten einer wissenschaftlichen Weltanschauung oder anderer ideologischer Ungetüme wie des physikalistischen Materialismus ausgaben, an dieser mythopoetischen Vermengung weitergestrickt, indem sie versuchten, die visuellen Wahrnehmung nach dem Muster der Wahrnehmung von Bildzeichen oder Bildern zu modellieren. Als sähen wir nicht Freund Karl zur Tür eintreten, sondern ein Phänomen, das wir auf seine eigentlich wirklichen Gehalte wie Moleküle oder die von ihm abgestrahlten Photonen zu reduzieren hätten, um es angemessen zu deuten, als sähen wir nicht die Katze sich im Rasen tummeln, sondern nähmen auf unsere Netzhaut projizierte Bilder wahr und könnten die Grenze zu dem, was gewöhnliche Leute die Realität nennen, nicht zu überspringen wagen.

Aber die unsere Bildwahrnehmung auszeichnende Leistung besteht einfach darin, ein visuelles Phänomen als Bild zu positionieren. Meist geschieht dies durch die Bestimmung der Künstlichkeit von Bildern und Bildzeichen wie Gemälden oder Piktogrammen und ihrer kulturellen Funktionen im lokalen Kontext, sei es einer Ausstellung, sei es im Straßenverkehr. Wenn wir weder den Kontextrahmen noch die Bildfunktion verstehen, nehmen wir uns vorgesetzte Bilder als solche nicht wahr.

Bei der Untersuchung des Gewichts, mit dem wir Bilder und schriftliche Zeugnisse auf die Waagschalen der Wahrheitsprobe verteilen, schwebt die Schale mit den Bildern immer höher als die Schale mit den Schriften, die wir leichter mittels philologisch-kritischer Methoden auf Befunde zu Zeit und Ort sezieren können.

Demgemäß zeigt uns bei den meisten Bilddokumenten erst die Schrift die historische Wahrheit über das Bild. Wenn wir Bildnisse des vergöttlichen Augustus vor Augen haben, wissen wir aufgrund der Schriftquellen der Annalen und der römischen Historiker über die Apotheose des Herrschers, daß sie nach seinem Tode entstanden sein müssen. Wenn wir in der christlichen Ikonographie neben den Darstellungen Christi als Weltenherrschers in kosmischer Aura mehr und mehr Bilder des Gekreuzigten finden, erschließen wir daraus einen Zeithorizont nach dem Konzil von Nikäa, das die Wesensgleichheit der göttlichen und menschlichen Natur Christi dogmatisiert hat. Wir bedürfen der schriftlichen Konzilsquellen, um den Wandel im Bildthema nachvollziehen zu können.

Wir stellen fest: Wenn wir durch den Alltag wandeln, sehen wir, was wir sehen, doch sehen wir keine Bilder, außer wir stoßen auf sie oder sie werden uns gezeigt – dann haben sie sich als Bilder und Bildzeichen ausgewiesen und präsentiert, jeweils mit ihrem eigentümlichen Präsentationsmodus oder ihrer Bezeichnungsanmutung. So ist es um Verkehrsschilder und Piktogramme auf Türen und anderen Gegenständen bestellt. Sicher sagen wir von einer Landschaft, sie mute uns malerisch an: Dann haben wir in effigie das Sehbild in ein Bildzeichen verwandelt.

Wenn du ein noch so konventionelles Gemälde der Golgathasituation anschaust, siehst du nichts als eine schaurige Hinrichtung mit ergriffenen Zuschauern, wenn du vom Symbol des Kreuzes, der Messianität Christi, der Vor- und Nachgeschichte, Eucharistie und Auferstehung, nichts weißt. Aber von der Wahrheit dieses Bildes, die sich erschließen mag, wenn du um all dies weißt, können wir philosophisch nur schweigen, denn sie ist höher als alle Vernunft.

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