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Satz, Anekdote, Plankton

01.04.2018

Anmerkungen zur Philosophie der logischen und ästhetischen Form

Ein Satz ist die Variante aller möglichen Sätze mit derselben logischen oder grammatischen Form.

Man benötigt mehr als einen Satz derselben logischen Form, um diese singuläre Form zu sichten.

Vergleichen wir folgende Sätze:

S1: Die Farbe dieser Rose ist Gelb.
S2: Der Bruder dieses Mannes ist Schriftsteller.

S1 kann ich durch folgenden Satz ersetzen oder in folgenden Satz übersetzen:

S1.1: Diese Rose ist gelb.

Doch S2 kann ich NICHT in einen mit der logischen Form von S1 gleichsinnigen Satz ersetzen; denn dann käme der folgende FALSCHE Satz heraus:

S2.1: Dieser Mann ist Schriftsteller.

Aber laut Aussage ist nicht dieser Mann, sondern sein Bruder Schriftsteller.

Ich muß folglich S2 durch einen Satz derselben logischen Form ersetzen, beispielsweise durch diesen:

S2.2: Dieser Mann hat einen Bruder und dieser Bruder ist Schriftsteller.

Doch auch damit haben wir offenkundig nicht die logisch einwandfreie Variante des Satzes getroffen; denn wir müssen auch ausdrücken, daß der Mann nur einen einzigen Bruder hat, gesetzt, der Satz ist wahr.

Demnach gilt:

S2.3: Dieser Mann hat einen Bruder und kein anderer Mensch ist sein Bruder und dieser Bruder ist Schriftsteller.

Wenn wir die logische Form oder die Struktur mit einer chladnischen Figur vergleichen, deren symmetrische Gestalt durch die Einwirkung eines Magneten auf den lose auf einer Glasfläche aufgetragenen Sand entsteht, und die Sätze mit den Sandkörnern, können wir sagen:

Wir brauchen stets mehrere Sätze, um ihre logische oder grammatische Struktur zu sichten oder sichtbar zu machen.

Natürlich wird der Unterschied der logischen Formen unserer Beispielsätze transparent, wenn wir sie in bewährter Manier in logischer Syntax ausdrücken:

S1: a (P)
S2: a, b (R)

Dabei drückt P das Prädikat (Gelb) aus, das dem Gegenstand a (Rose) zugeschrieben wird, während R die Relation (ist Bruder von) bedeutet, die zwischen den Gegenständen a und b (Mann und Bruder des Mannes) besteht.

Damit wird offenkundig und sichtbar (evident), daß die beiden Sätze S1 und S2 Varianten unterschiedlicher logischer Formen darstellen.

Der Anfang von Sätzen wie S1 stellt die Weichen für ihren Verlauf. Er beruht auf einer Entscheidung, in diesem Falle die Entscheidung für den Ausdruck einer Wahrnehmung, und diese Entscheidung eröffnet eine Kaskade ihr folgender Entscheidungen, wie der Stoß gegen die in Reih und Glied aufgestellten Dominosteine die Kaskade ihres kontinuierlichen Fallens bewirkt. Wenn ich von der Farbe eines wahrgenommenen Gegenstandes wie dieser Rose ausgehe, bin ich semantisch auf eine Weise gebunden, daß ich von keinen anderen Eigenschaften reden oder keine anderen Prädikate verwenden kann als eben Farbeigenschaften und Farbprädikate.

Satz 2 schränkt mich semantisch auf die Erfüllung des Relationsausdrucks „der Bruder von“ in dem Sinne ein, daß ich nur Eigenschaften von Menschen wie „Schriftsteller“, nicht von anderen Spezies wie „Wiederkäuer“ prädizieren kann.

Demnach ist die Kaskade der semantischen Entscheidungen zur Bildung eines wohlgeformten Satzes eine Funktion seiner logischen oder grammatischen Form.

Betrachten wir folgende Sätze:

S3.1: Caesar überschritt den Rubikon.
S3.2: Octavian war der Adoptivsohn Caesars.
S4.1: Die Rose ist die Schwester der Lilie.
S4.2: Die Lilie ist die Tochter des Lichts.

Offensichtlich sind die Sätze S3.1 und S3.2 Sätze aus einem historischen Bericht über das Leben und Wirken Caesars und des Kaisers Augustus. Dagegen sind die Sätze S4.1 und S4.2 Sätze der Dichtung.

Uns treten die vergangenen Ereignisse nicht ohne weiteres oder unmittelbar, sondern nur in Form von Sätzen über diese Ereignisse entgegen. Grammatisches Kennzeichen für solche Sätze ist die Vergangenheitsform des Verbs. Logisches oder strukturelles Kennzeichen für solche Sätze ist die Verwendung von Eigennamen historischer Personen und die mögliche Datierung der dargestellten Ereignisse durch die Anreicherung der Sätze mittels Indices für den Ort und Zeitpunkt der genannten Ereignisse.

Wir gewinnen demnach anhand der Analyse von Sätzen wie S3 einen Begriff von derjenigen literarischen Form, in der sie verständlich und interpretierbar sind: der literarischen Form oder Gattung des historischen Berichts.

Satz 3.1 „Caesar überschritt den Rubikon“ gibt uns gleichsam die mikrologische Essenz dieser Form, die wir auch als Anekdote bezeichnen können. Die Anekdote übermittelt uns als Keimzelle des historischen Berichts die Einheit einer abgeschlossenen Handlung, denn Caesar hat gewiß zunächst beabsichtigt und war im Begriff, den Rubikon zu überschreiten, sodann überschritt er ihn mit seinen Legionen, und nachdem er mit ihnen am anderen Ufer angelangt war, hatte er den Fluß überschritten. Es ist dieser vollendete Handlungsbogen, den wir mit dem Begriff der Handlung erfassen, und von dem uns die Anekdote des historischen Berichts zumindest solch einen relevanten Ausschnitt zeigen muß, daß wir in der Lage sind, den Rest kohärent gedanklich auszufüllen.

Ähnlich wie mit der Vielzahl von Sandkörnern bei den chladnischen Figuren benötigen wir stets mehrere Anekdoten, um jene literarische oder narrative Struktur sichtbar zu machen und zu erfüllen, deren funktionelle Bestandteile sie sind. So ist der Bericht über Caesars Überschreiten des Rubikon neben vielen anderen Berichten und Anekdoten ein Bestandteil der literarischen Form der Viten oder Lebensbeschreibungen, wie sie uns von den antiken Geschichtsschreibern Sueton, Plutarch und Cassius Dio überkommen sind.

Eine zeitgenössische und innovative narrative Form mit der epischen Keimzelle der Anekdote hat der Autor der berühmten „Deutschen Chronik“, Walter Kempowski, in seinen großangelegten Annalen der Jahre vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, dem „Echolot“, entwickelt. Hier dienen die Anekdoten nicht wie in der klassischen Historiographie als Mosaiksteine, um zuletzt das vollständige Bild einer geschichtlichen Vita wie der Caesars oder der des Augustus freizulegen, sondern als fragmentarische Protokolle eines kollektiven Erinnerns. Im Unterschied zur klassischen Biographie der historischen Einzelpersönlichkeit, bei der die Anekdote selbst transparent und verständlich wird aufgrund des Lichts, das die narrative Gesamtform auf sie wirft, gilt für die anekdotenhaften Lebensfragmente im „Echolot“ von Kempowski folgender Satz von Conrad Ferdinand Meyer, auf den der Autor selbst in seinen Tagebüchern aufmerksam macht:

Eine Weile gleitet das Leben vorbei als unverständliches Murmeln.

In der gleichsam polyphonen Zeitchronik des „Echolots“ scheint sich der historische Sinn und die historische Erkenntnis auf lange Bahnen von einen dichterischen Fluidum zu nähren, das Walter Kempowski „Plankton“ nennt. Plankton ist die flüchtige Substanz der Erinnerung, die im Meer des kollektiven Gedächtnisses lose herumwirbelt, bald von unsichtbaren Strömungen getrieben, bald an Korallen, Schwämmen oder verrotteten Schiffswracks angelagert.

Gewiß bedarf es des Autors als eines Sammlers und Archivars, der das frei flottierende oder unter der Oberfläche des Tagesbewußtseins versteckte und gleichsam lauernde oder vor sich hindämmernde Plankton aufspürt, herausfischt und sinnfällig nach ästhetischen Formwerten wie Kontrasten und Ergänzungen, fugalen Engführungen und mnemotechnisch gekrümmten Linien kompositorisch anordnet.

Plankton in diesem Sinne ist der eidetische Schaum und Algenschlamm, der im Zwielicht des Halbbewußten dämmert. Man fischt ihn kaum oder selten aus den eitlen Selbstaussagen im Scheinwerferlicht der Interviews mit Zeitzeugen, die meist vor das klare Zeugnis die trübe Linse einer unwillkürlichen Selbststilisierung schieben, sprich moralische Betroffenheit, dünkelhafte Schuldbekenntnisse oder auf Aufmerksamkeitsgewinn schielender Wunden- und Trauma-Exhibitionismus. Eher noch gelangen wir in die Tiefseegründe, wo das eidetische Plankton herumschwimmt, mittels poetischer Verfahren wie der freien Assoziation oder der somnambulen Meditation.

Es mag zuletzt neben aller Bewunderung und Hochachtung vor der gewaltigen Lebensleistung Kempowskis im Archivieren, Collagieren und seriellen Komponieren der Lebenszeugnis-Bruchstücke des „Echolots“ ein leises Bedenken uns anwehen, wenn wir feststellen, daß hier vielfach oder zumeist nicht auf seine narrative Dichte hin ausgesiebtes eidetisches Plankton, sondern ungefilterter Tang- und Algenschaum zutagetritt.

Betrachten wir zu guter Letzt die ästhetische Form des dichterischen Satzes anhand unserer Beispielsätze:

S4.1: Die Rose ist die Schwester der Lilie.
S4.2: Die Lilie ist die Tochter des Lichts.

Augenscheinlich sind diese Sätze FALSCH, wenn wir für wahr befinden, was uns das biologisch oder überhaupt das wissenschaftlich fundierte oder empirische Wissen an die Hand gibt. Denn eine Übertragung des in der menschlichen Lebensform begründeten Relationsbegriffs der familiären Verwandtschaft auf nicht menschliche Lebensformen wie die der Blumen oder auf unbelebte natürliche Phänomene wie das Licht ergibt gemäß dem genannten Kriterium des Wissens keinen evidenten Sinn. Deshalb flüchten wir uns gern zur weihevollen Umbenennung solch einer Übertragung als Metapher.

Uns fällt zunächst auf, daß dichterische Sätze der aufgeführten Art keine Bestandteile von Anekdoten sein können. Sie enthalten weder Eigennamen von Personen noch können sie mittels Verwendung von Indices für Ort und Zeit angereichert und einem vertieften Verständnis erschlossen werden.

Auch wenn dichterische Sätze Eigennamen und Daten für Ort und Zeit der in ihnen evozierten Ereignisse enthalten, wie beispielsweise Sätze der Gedichte Goethes oder Celans, sträuben wir uns mit Grund und Instinkt, sie als Bruchstücke historischer Berichte aufzufassen. Denn obwohl Goethe seine Dichtungen als Fragmente einer großen Konfession bezeichnet oder betrachtet haben mag, so verkörpern sie doch keine Berichte und Zeugnisse der Art, wie sie die klassischen Viten der genannten antiken Historiker enthalten.

Sodann wollen wir dichterische Sätze als Varianten einer ästhetischen Form auffassen, insofern sie durch beliebig viele gleichsinnige Sätze ersetzt werden können, die eine solche Form auszufüllen vermögen.

Der dichterische Satz „Die Lilie ist die Tochter des Lichts“ könnte durch den Anruf oder die Invokation „O Lilie, Tochter des Lichts“ ersetzt werden, und dann umgäbe uns die eigentümliche Atmosphäre einer rilkeschen Elegie oder eines Marienhymnus. Wir gewinnen somit durch unser Verfahren der sinngemäßen Variation die ästhetische Form, der wir die Sätze einzuordnen willens sind, in diesem Falle also die Form der Elegie oder des Hymnus.

Die ästhetische Form verbinden mit der logischen Form des Satzes die Möglichkeit seiner Variation durch alle sinnfälligen Sätze, die der gleichen Form angehören, und der Ausschluß aller Sätze, die aus dem kontextuellen Rahmen dieser ästhetischen oder dichterischen Form fallen.

Einen Satz wie „Hier wendet sich der Gast mit Grausen“ aus Schillers Gedicht „Der Ring des Polykrates“ umhüllt die gleichsam duftlos-strenge und kristalline Atmosphäre der ästhetischen Form der Ballade. Dagegen sind die folgenden Sätze, der „Nänie“ Schillers entnommen, in den wehmütig-weichen Duft der ästhetischen Form der nachantiken oder modernen Elegie getaucht:

Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,

Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.

Gewiß können wir die ästhetische Form leicht von außen identifizieren, wenn wir um Sinn und Funktion des elegischen Versmaßes, des Distichons, wissen. Doch erfahren können wir das Elegische oder die elegische Atmosphäre dieser von Schiller virtuos gemeisterten Form nur, wenn unser Atem gleichsam den wehmütigen Duft der Verse aufnimmt oder wir die leichte Beklemmung, die jeweils im zweiten Vers des Distichons infolge des Aufeinanderprallens der Akzente in der mittigen Zäsur eintritt, nachfühlen oder rhythmisch nachatmen.

Bei Rilke finden wir eine atmosphärische Mischung der elegischen und hymnischen Form, so in der zweiten Duineser Elegie, wo der klagende Ton unmittelbar nach einer hymnischen Evokation des angelischen Daseins einsetzt:

Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung,
Höhenzüge, morgenrötliche Grate
aller Erschaffung, – Pollen der blühenden Gottheit,
Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne,
Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte
stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich, einzeln,
Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit
wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz.

Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach wir
atmen uns aus und dahin; von Holzglut zu Holzglut
geben wir schwächern Geruch.

Wir wollen es wagen und der Vermutung Ausdruck geben, daß auch die eidetischen Erinnerungsspuren, die wir in den visionären Anrufungen der Engel in Rilkes Dichtung gewahren, Plankton im Gezeitenstrom der großen See eines kollektiven Gedächtnisses darstellen, in diesem Falle des Überlieferungsstromes der abendländischen Dichtung und Visionsliteratur von den biblischen Propheten über die hymnische Dichtung der Alten Kirche bis zu den irisierenden Lichtauren der Symbolisten.

Gewiß bedarf es des Spürsinns, des Feingefühls und der historisch singulären Fern- und Gipfelsicht eines lyrischen Autors wie Rilkes, der seine Netze auswirft und seine Reusen mit jenen Bildern des eidetischen Gedächtnisses füllt, um sie einer bestimmten ästhetischen Form wie der elegischen oder hymnischen mit der Sorgfalt und schöpferischen Demut des Chronisten und Annalisten der Jahreszeiten seiner Seele und der Seele seines Volkes einzuschreiben.

 

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