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Sätze über sich

02.09.2017

Sentenzen und Aphorismen zur Philosophie der Subjektivität

Das Ich ist kein Objekt wie das Objekt der Wissenschaften, das wir mittels Meßsystemen in Koordinaten eintragen, sezieren, chemisch analysieren oder präparieren können.

Aber kann ich mich nicht beobachten? Nicht mich als Weltpunkt betrachten, dessen topographische Koordinaten mit den Koordinaten meines Körpers übereinstimmen?

Auf deine Frage: „Wo steckst du denn?“ rufe ich hinter dem Vorhang: „Hier bin ich!“

Doch war ich hinter dem Vorhang nicht versteckt wie eine Tasche, die man dort vergessen hat.

Ich kann mich nicht in der Weise beobachten, wie Pawlow seine Hunde beobachtet hat. Er wußte, sie würden Speichel absondern, wenn die Glocke ertönt. Ich kann nicht voraussehen, ob ich trotz Hungers den bestellten Kuchen im Café gleich vertilgen werde. Würde ein Freund neben mir Platz nehmen und mir mitteilen, soeben sei sein Vater verstorben, würde ich den Kuchen sacht zurückschieben.

Wir haben von allem und jedem eine Vorstellung oder einen Begriff, der uns erlaubt, das Gemeinte einzuordnen, wie mir der Begriff eines Tieres erlaubt, es in einem Begriffsbaum zwischen nicht empfindungsfähigen Pflanzen und vernunftbegabten Lebewesen einzuordnen. Einen derartigen Begriff von mir selbst habe ich nicht und vermag ihn nicht zu bilden.

Ich kann mich nicht erfinden, denn infolge all meiner Handlungen verändert sich zwar mein Leben, doch werde ich kein prinzipiell anderer.

Auch bin ich nicht die Folge eines logischen oder das Gewebe eines biologischen Musters. Denn die Prämissen eines logischen Schlusses, die Aussagen über mich enthalten, schließen zumindest alle Sätze über physische Tatsachen wie den Aufbau und die Struktur der Materie ein und sind daher überabzählbar unendlich. Ich sähe daher den Wald vor lauter Bäumen nicht. Während eine neue Information aufgrund beispielsweise einer DNA-Analyse, die nachweist, daß der Mann meiner Mutter nicht mein leiblicher Vater ist, mich ziemlich beindrucken, aber nicht wesentlich verändern würde.

Hölderlin blieb auch in der sogenannten geistigen Umnachtung oder Psychose er selbst. Beispielsweise nahm er es übel, wenn man von ihm verlangte, seine neuen Gedichte mit seinem richtigen Namen zu unterzeichnen, er wollte vielmehr einen fremden Namen wie „Scardanelli“ daruntersetzen. Also wußte er, daß dies nicht sein eigentlicher Name war.

Der psychotische Hölderlin verbarg sich in rituell erstarrten Formeln und Gesten wie den Anreden „Durchlaucht, Majestät, heiliger Pater“ oder tiefen Bücklingen vor seinen Besuchern. Diese Gebärden serviler Devotion spielen ins Ironische und erweisen sich damit als Gegenteil von Unterwerfungsgesten, hielten sie ihm doch alle Zudringlichkeiten allzu persönlicher und intimer Annäherung vom Leibe.

Wollte ein Gast mit dem Turmbewohner spazierengehen, Hölderlin war aber nicht willens, verbarg er seine Absicht und seinen Impuls hinter der Unterstellung, sein Gegenüber habe sein Ansinnen plötzlich und unvermutet geändert, indem er zu ihm sagte: „Sie befehlen, daß ich zu Hause bleibe.“ Seinen Eigenwillen verhüllte die scheinbare Unterwerfung unter den fremden Willen; doch so behauptete er, verkleidet ins Gewand sklavischer Unterwerfung, seine Ungebundenheit.

Wenn wir annehmen, Hölderlin habe sich aufgrund seiner Krankheit in einen Roboter verwandelt (und die psychiatrische Auffassung, die Psychose habe das Bewußtsein des Kranken vollständig im Griff, ist ja nur eine Variante dieser Annahme), müßten all seine Äußerungen, in denen er in gewöhnlicher Weise von sich selbst spricht oder sich selbst Absichten, Handlungen, Erinnerungen, kurz mentale Zustände, zuschreibt, auch wenn er seine neuen Gedichte nicht mit seinem, sondern einem fremden Namen unterschreibt, als Funktionen eines Programms dechiffriert werden, das von seiner eigenen Existenz keine Ahnung hat. Wenn wir nun so unhöflich wären und dem Dichter in seinem Turmzimmer gegenüber vorgäben, nicht er, sondern wir seien Scardanelli, würde dies einen Roboter, der nicht zwischen Sein und Schein unterscheiden kann, kalt und gleichgültig lassen – nicht aber wohl einen Hölderlin, der darüber aufgebracht oder einem Zusammenbruch nahe wäre.

Ein Roboter kann seine Identität nicht absichtlich verbergen, denn er hat keine. Das, was er als seine Gedanken und Absichten deklariert, sind keine Gedanken und Absichten.

Ich aber kann meine Identität verbergen oder meine Absichten und Gedanken verschleiern, indem ich sie leugne oder anderen unterstelle, wie Hölderlin seine Absicht, zu Hause zu bleiben, verhüllt und dem Gast die Absicht unterstellt, ihn am Weggehen zu hindern.

Wenn Hölderlin vorgibt, Goethe nicht zu kennen, während er die Bekanntschaft mit Schiller gerne zugibt, wissen wir, daß der implizierte Gedanke, zu Lebzeiten Goethes gedacht, entweder meint „Ich glaube, eine Person namens Goethe existiert nicht“ oder „Ich glaube, einer Person namens Goethe nie begegnet zu sein“. Wenn wir wissen, daß Hölderlin Goethe begegnet ist und daß diese Begegnung wahrscheinlich für ihn sehr unangenehm oder sogar äußerst kränkend gewesen sein muß, schließen wir aus den Gedanken Hölderlins, daß er entweder das Unwahre annimmt (was sehr unwahrscheinlich, ja paradox ist) oder daß er lügt, das heißt, das Unwahre zu glauben vorgibt, es aber in Wahrheit nicht glaubt. Ist ersteres unwahrscheinlich, muß letzteres wohl der Fall sein.

In der Fähigkeit zur Lüge haben wir ein Kriterium für das Überdauern des Ich-Bewußtseins in der Psychose und das Fehlen des Ich-Bewußtseins beim Roboter.

Roboter können einen Fehler machen und in der Tat die Information über die Existenzdaten Goethes, die der Programmierer ihnen eingegeben hat, „aus Versehen“ löschen. Aber sie können nicht vorgeben, die Daten über die Existenz Goethes verloren oder nie besessen zu haben, wenn sie in ihrem Programmspeicher enthalten sind.

Der Turing-Test besteht nicht im direkten Nachweis, daß dem Roboter ein lebendiges Ich-Bewußtsein abgeht (denn er kann auf jede Frage eine Antwort mit der Formel einleiten „Ich denke, daß …“), sondern im indirekten Nachweis, daß er unfähig ist, so zu tun, als habe er keine Ich-Identität oder habe seine Identität verloren, wie Hölderlin, der vorgibt, nicht Hölderlin, sondern Scardanelli zu sein.

Sätze, mit denen ich etwas über meine mentalen Zustände wie meine Gedanken äußere, kurz Sätze über mich, implizieren, wenn sie echte Sätze, das heißt wahr oder falsch sein können, Sätze über das Dasein und Sosein dessen, der spricht, zum Beispiel den Satz, daß ich, wenn ich wahre oder falsche Aussagen über meine mentalen Zustände äußere, existiere.

Ich existiere heißt in diesem ontologisch singulären Falle nicht, daß ich wie ein materielles Objekt ein Raum-Zeit-Kontinuum ausfülle und aufhöre zu existieren, wenn das Kontinuum verschwindet, sondern daß ich bis auf weiteres die Fähigkeit habe, Sätze über mich zu äußern.

Dagegen sind Sätze, die ein Dritter über mich äußert, den Sätzen ähnlich, die wir über die Existenz von materiellen Objekten im Raum-Zeit-Kontinuum äußern. Sie betreffen meine mentalen Zustände nur indirekt aufgrund von objektivierbaren Spuren und Zeugnissen, die ich von ihnen hinterlassen habe, wie Briefe oder E-Mails. Sätze über fremde mentale Zustände, die aus Zeugnissen und Berichten gewonnen oder erschlossen werden, sind oft zweideutig. In den vielen Zeugnissen und Berichten der Besucher Hölderlins im Tübinger Turm finden wir etliche übereinstimmende Aussagen über seine zwanghaft anmutenden Höflichkeitsbezeigungen oder seine schizophasisch verworrene und abgebrochene Redeweise. Diese vielfach bezeugten Formen gestischen und verbalen Verhaltens auf spezifische mentale Zustände des Handelnden zu beziehen, scheint nicht immer zweifelsfrei möglich. Sind es Kundgaben innerer Zwänge oder bizarre Spiele und Rituale?

Wir sagen uns: „Wo liegt denn der Artikel, ich habe ihn doch eben erst aus der Zeitung ausgeschnitten?“ oder „Als ich ihr begegnete, hatte ich noch volles Haar“ und „Damals als Vater den schweren Unfall hatte, war dieser außergewöhnlich strenge Winter, in dem die Mosel zufror. Wenn ich selbst mich nicht auf das Jahr besinnen kann, denn damals war ich noch ein Kind, könnte ich mir aus Wetteraufzeichnungen dieser Jahre Gewißheit verschaffen. Ich könnte andererseits auch nach den Krankenakten von Vater im Krankenhaus forschen, falls solche noch existieren.“

Wir leben unser bewußtes Leben nicht nur in zeitlichen Rhythmen, sondern ordnen alles Erlebte auch mehr oder weniger objektiven Mustern der Zeitmessung wie dem Kalender ein. Wir könnten umgekehrt aus der Tatsache, daß ein vorgeblich von uns erlebter Inhalt jedweder zeitlichen Koordinaten ermangelt, folgern, daß wir uns darüber täuschen, das vermeintliche Ereignis erlebt zu haben.

Mein Geburtstag ist kein mentaler Gehalt meines Bewußtseins, sondern ein Datum, das in den Standardkalender unserer kulturellen Chronologie eingetragen ist. Gleichzeitig ist die Tatsache, geboren worden zu sein, ein wesentlicher mentaler Inhalt meines Ich-Bewußtseins. Das Datum des eigenen Geburtstags zu vergessen, kann Symptom einer Hirnschädigung sein; die Überzeugung, geboren worden zu sein, zu verlieren ist das Symptom einer schweren Psychose.

Bei Hölderlin finden wir als eigentümliche Verhaltensauffälligkeiten nicht nur den Wechsel des Eigennamens, sondern Abweichungen von der Standard-Chronologie, auch wenn er den Standardkalender christlich-römischer Provenienz nicht aufgibt (also keine Sternenzeit phantasiert). Wir finden beispielsweise ein Gedicht von Weihnachten des Jahres 1841, dessen Datum er korrekt mit dem 25. Dezember 1841 angibt, wenn er es auch mit dem Fremdnamen Scardanelli unterzeichnet. Wir finden ein Gedicht vom Juni 1842, dessen Datum Hölderlin als 24. Mai 1758 angibt, oder eines aus dem Sterbejahr des Dichters 1843 mit dem fiktiven Datum 24. März 1671, beide mit dem Namen Scardanelli unterschrieben. Dann stoßen wir erstaunlicherweise auf das Datum 9. März 1940, unterzeichnet mit Scardanelli, das nach Schwabs Aufzeichnungen am 9. März 1842 entstand. Wir konstatieren, daß die fiktiven Datumsangaben sich in den letzten Lebensjahren des Dichters häufen und zumeist die Zeitspanne des 17. und 18. Jahrhunderts bevorzugen.

Wenn die korrekte Datumsangabe vom 25.12.1842 kein Zufall war, können die von der Standard-Chronologie abweichenden Angaben Hölderlins keine Irrtümer oder Versehen darstellen, sondern müssen bewußt vorgenommen worden sein. Daß der fiktive oder pseudonyme Autor Scardanelli nach Hölderlins Vorgaben sowohl im Jahre 1758 als auch im Jahre 1940 ein Gedicht geschrieben haben soll – für letzteres müßten wir ja sagen, geschrieben haben würde –, verweist auf eine Zeitspanne von 182 Jahren, gewiß ein Ding der Unmöglichkeit. Dies wiederum läßt uns vermuten, daß es sich bei den fiktiven Vorgaben Hölderlins nicht um eine romantische oder ironische Maskerade handelte, so wie der Dichter Ferdinando Pessoa unter fiktiven Namen in selbstentworfene Dichterexistenzen schlüpfte, um ihre poetischen Aussagehorizonte abzuschreiten und zu erproben.

Wir können annehmen, daß Hölderlin mit den Datums- und Namensfiktionen den Anspruch erhoben hat, als jemand aufzutreten, der wie ein Unbekannter in den historischen Raum der Texte eintritt, und in einer Art und Weise zu schreiben, die sich von den unter seinem Eigennamen Hölderlin bisher bekannten und veröffentlichen Texten in wesentlichen Hinsichten unterscheidet, ja mit der Angabe des fiktiven Datums vom Jahre 1940 so zu schreiben, wie bisher noch niemand geschrieben haben kann – was cum grano salis durchaus der Quellenlage und dem Textbefund gerecht wird.

Öfters findet sich in Hölderlins Turmgedichten vor der fiktiven Unterschrift Scardanelli der Zusatz „Mit Untertänigkeit“, eine Geste der devoten Zueignung, die sehr gut mit den scheinbaren rituellen Unterwerfungsgesten gegenüber den Besuchern im Turm übereinstimmt. Freilich, eine Unterwerfung unter die Gunst eines Publikums, das schon verstorben oder noch nicht geboren ist, deutet auf eine eigentümliche Form von List und Humor, hinter der sich das Gegenteil von Servilität verbergen mag.

Wenn Hölderlin ein von ihm verfaßtes Gedicht mit dem Fremdnamen Scardanelli unterzeichnet, können wir ihm zwei Arten der Überzeugung zuschreiben:

1. Hölderlin glaubt, daß Scardanelli das Gedicht geschrieben hat.
2. Hölderlin glaubt, daß er selbst unter dem Decknamen Scardanelli das Gedicht geschrieben hat.

Wir nennen gemäß eingebürgerter Diktion den Glauben nach 1 de dicto und den Glauben gemäß 2 de se, wir können zur Verdeutlichung des Gemeinten auch schreiben: de dicto oder de re (über das Gesagte oder über die Sache) einerseits und de dicente ipso oder de se ipso (über den Sprechenden selbst oder über sich selbst) andererseits.

Wenn Peter im Vorübergehen einen spöttisch grinsenden alten Mann im Schaufenster sich hat spiegeln sehen und denkt: „Was für ein armer Tropf“, weiß er nicht, daß er von sich gedacht hat, was er für ein armer Tropf sei, auch wenn er es von sich gesagt hat, denn er erkannte nicht, daß das Glas sein Konterfei spiegelte.

Wir gehen davon aus, daß Hölderlin wußte, daß er selbst seine Gedichte geschrieben hat, auch wenn er sie mit einem Fremdnamen unterzeichnete; dafür spricht unter anderen der schlichte Umstand, daß er auf die Aufforderung seiner Gäste, ihnen oder für sie ein Gedicht zu schreiben oder gar ein Gedicht gemäß einem vorgeschlagenen Thema für sie zu verfassen, ein Gedicht und auch ein Gedicht über das gewünschte Thema oft ex tempore geschrieben, aber dann mit Scardanelli unterzeichnet hat.

Im Normalfall ist die Probe auf das Vorhandensein des Ich-Bewußtseins eine Umwandlung der indirekten Aussage in eine direkte Aussage, wobei einfach das Pronomen der dritten Person durch das Pronomen der ersten Person ersetzt wird:

1. Hölderlin glaubt, daß er das Gedicht geschrieben hat.
2. Hölderlin sagt: Ich habe das Gedicht geschrieben.

Wenn Hölderlin glaubt, Scardanelli habe das Gedicht geschrieben, erhalten wir dagegen folgende Umformung:

1. Hölderlin glaubt, er habe das Gedicht geschrieben.
2. Hölderlin glaubt, Scardanelli habe das Gedicht geschrieben.

Wir wissen, daß in extremen Fällen des Ichzerfalls wie bei der Demenz die Identifikation des Spiegelbilds mit der eigenen Person nicht mehr möglich sein kann. Diese Extremform scheinen wir im Falle Hölderlins und seiner Äußerungen über sich selbst, auch wenn sie bizarre Fiktionen bemühen, nicht annehmen zu müssen.

Nur haben wir bei Hölderlin den speziellen Fall, daß er sein Bild im Spiegel oder einer Zeichnung erkennen, aber leugnen würde, der Abgebildete sei die unter dem Namen Hölderlin bekannte Person. So wird ein Terrorist oder Partisan, der seiner bisherigen Verbrecherlaufbahn abgeschworen und seine ehemaligen Genossen verraten hat und von der Staatspolizei mit einer neuen Identität und kosmetischer Tarnung versorgt worden ist, leugnen, die auf dem Fahndungsplakat abgebildete Person zu sein, auch wenn er weiß, daß er es in Wahrheit ist und sich in dem Bild ohne weiteres wiedererkannt hat.

Sagen wir es so: Die Krankheit, die er keineswegs fingiert, sondern erleidet, dient Hölderlin dazu, eine Tarnkappe aufzuziehen, unter der er krumme Pfade und kleine Pforten findet, um in das Reich Gottes, den Himmel, den erlösten Zustand oder wie immer wir es nennen wollen (es sind ja nur Worte) zu schlüpfen. Was zählt es unter Gottes freiem Himmel, ob du Hölderlin oder Scardanelli heißt? Wie gleichgültig ist es in der Ewigkeit, ob du ein Gedicht im Jahre 1758 oder 1940 geschrieben hast?

Oder sagen wir es so: Die Gesten der Unterwürfigkeit und devoten Höflichkeit, mit denen uns Hölderlin Rätsel aufgibt und mit denen er seine Besucher frappierte, verblüffte und auf Abstand hielt, sind Tarnkappen der vollkommenen Hingabe und Ergebung des eigenen Willens in den Willen Gottes, einen heiligen Willen oder höheren Geist oder wie immer wir es nennen wollen (es sind ja nur Worte).

Die kühle, blaue Luft der späten Turmgedichte Hölderlins durchbebt, was er den hohen Geist nennt, ein Fluidum, gemischt aus blauer Windstille und einem leisen abendlichen Gartenduft von Veilchen und reifen Äpfeln. Es ist die Aura der Vollkommenheit, die sich das wechselnde Kleid der Jahreszeiten überstreift und bis zur Gleichgültigkeit für die eigene Existenz für sich einnimmt.

Ja, die Sprache der späten Hölderlin-Gedichte, in denen ein verwandeltes oder gleichsam dünner, ärmlicher, transparenter gewordenes Ich von sich spricht, nähert sich dem unprätentiösen Stammeln des Kindes und zugleich den unpersönlichen Formeln alter Gebete, dem gedankenverloren vor sich hingemurmelten Kalendervers und anonymer Spruchweisheit. Kein herausgefordertes Leben muß mehr nach großen Worten wie nach mächtigen Flügeln greifen, die es über Abgründe des Unsagbaren tragen. Geschweige denn, daß ein kleines Menschendasein nach dem Adler des Ruhmes schreit, der es in die Höhe über die profane Ebene emporreiße.

Nie wohl hätte der Hölderlin der Oden, Elegien und Hymnen sich dazu herabgelassen, banale Phrasen wie „zum Beispiel“ oder nichtssagende Begriffe wie „interessant“ zu gebrauchen; in den späten Gedichten ist er nonchalant genug es zu tun, und setzt neben das Triviale und Banale Gipfel des Sublimen wie: „Schönheit die gequollen/Vom Quell ursprünglichen Bilds.“

Im Kauderwelsch, das von Hölderlin bezeugt wird, finden sich französische Brocken, unter anderem die Formel: „Oui, je suis, je suis!“ Ist es eine Beschwörungsformel wie eines, der Angst hat, seines Ich-Bewußtseins beraubt zu werden? Wir werden ausschließen, daß es sich dabei um bildungsphiliströse Wichtigtuerei handelt, also zu demonstrieren, daß ein Gebildeter wie er des Französischen mächtig sei oder sich in Frankreich aufgehalten habe. Die Tatsache, daß der Kranke in ein fremdes Idiom gerät, ist der Tatsache ähnlich, daß er sich einen fremdländischen Namen zulegt. Vielleicht tat er es, um ab und an kaum hörbar den französischen Namen Susette in seinen Redeschwall einflechten zu können.

Aber auch Sätze über sich selbst sind zuweilen zweideutig. Wenn Hölderlin dem jungen, vielleicht recht attraktiven Christoph Schwab, dem Sohn von Gustav Schwab, der ihn öfters im Tübinger Turm besucht hat und ihn eines Tages bat, sich neben ihn aufs Sofa zu setzen, sagt, es sei gefährlich, mit ihm zusammen auf dem Sofa zu sitzen, könnte er den jungen Mann vor einem seiner üblichen Tobsuchtsanfälle gewarnt oder die ihn selbst bedrohlich dünkende Gefahr gemeint haben, durch die physische Nähe des schönen Mannes in erotische Verwirrung gestürzt zu werden. Wir wissen nicht, was Hölderlin meinte, und können nicht ausschließen, daß er beide Möglichkeiten im Sinne hatte – oder eher keine von ihnen.

Denn würde keine von beiden Deutungen zutreffen, hätte Hölderlin auf diese vertrackte Weise seinen eigentlichen Wunsch verhüllt, die Einladung Christoph Schwabs, neben ihm auf dem Sofa Platz zu nehmen, abzuschlagen und so einer ihm unangenehmen Gesprächssituation aus dem Wege zu gehen, indem er ihm aus purer Höflichkeit einen bizarren Grund vorgespiegelt hat.

Wir können nicht ohne weiteres aus dem Typus der uns gegenüber geäußerten Sprechakte eindeutig die Absicht des Sprechers entnehmen. Wenn wir lange plaudernd beisammensaßen und es dunkel wird oder du ein Gähnen unterdrückt hast, werde ich wohl aus deiner Frage, wie spät es denn sein mag, nicht den Wunsch entnehmen, die genaue Uhrzeit zu erfahren, sondern die Absicht erraten, bald aufzubrechen.

Doch wenn du in einer ähnlichen Situation die Absicht äußerst, bald aufzubrechen, da es schon dunkel wird, du aber dir soeben noch ein Glas Wein nachgefüllt hast, werde ich deiner Äußerung den Wunsch entnehmen, von mit aufgefordert zu werden, doch noch ein Weilchen zu bleiben.

Wer keine übermenschliche Ordnung ahnt, die ihn am Ende vollständig oder gnädig umfaßt, verspürt auch keinen Tropismus seiner Antriebe in sich ähnlich dem Tropismus der Blumen, die sich nach dem Stand der Sonne drehen und wenden.

Bleiben am Ende nur die schlichtesten und einfachsten Begriffe und Worte wie Tag und Nacht, Wolke und Stein, Licht und Schatten, Wasser und Luft, Blume und Glanz, Wald und Weg, Worte, die wie Blätter am Zweig in den Zeilen schweben und vom Atem des Zufalls heftiger oder sanfter bewegt werden, kommt das Gedicht der Vollkommenheit näher.

Ich kann dir erzählen, was ich gestern getan oder erlebt habe. Ein anderer, der mich beobachtet hat, kann dir berichten, was ich gestern getan habe. Aber keiner, auch wenn er mich gestern beobachtet hätte, könnte dir berichten, was ich gestern erlebt oder welche mentalen Zustände ich durchlebt habe; er könnte aus meinem Gebaren nicht eindeutig erschließen, was ich erlebt habe, denn ich könnte meine Traurigkeit aufgrund der Mitteilung über den Tod eines guten Freundes hinter einer lächelnden, freundlichen oder gleichgültigen Miene und einem übertrieben ausholenden Gang verborgen haben.

Kein Tier kann mitteilen, was es gestern erlebt hat. Es weiß nicht, was das ist, gestern, heute und morgen. Und dennoch lebt es in großen rhythmischen Zeitbögen wie der Bieber oder das Eichhörnchen, das für den Winter Vorräte anlegt. Nur könnte es sich nicht fragen, ob es morgen wohl schon Schnee geben wird. Die seltsame Ferne, die uns von den Tieren in dieser Hinsicht trennt, läßt uns ihre Schicksalsergebenheit bisweilen bewundern.

Ich bin nicht irgendwo innen oder in einer Innenwelt, denn sehe ich dein Gesicht und höre ich deine Rede, gehört ja das von mir Gesehene oder Gehörte genauso zu mir wie das, was ich sage.

Wenn es keine Innenwelt gibt, gibt es auch keine Außenwelt.

Wenn ich alle psychologischen Werke gelesen hätte, wäre ich um keinen Deut klarer hinsichtlich dessen, was mir mein Leben bedeutet.

Ob einer glaubt, die Welt sei aus dem Ur-Ei entsprungen oder die Protuberanz des urzeitlichen Vakuums, macht keinen Unterschied hinsichtlich dessen, wie er sich selbst als Bewohner dieser Welt versteht.

Ich bin nicht die Summe oder Komplexion meiner mentalen Zustände wie Gedanken, Erinnerungen, Empfindungen und Absichten, etwa der Schnur vergleichbar, an der die Perlen aufgereiht sind. Ich könnte ja die Reihe meiner Gedanken als Konjunktion von Sätzen aufschreiben, sie einklammern und davor eine Funktion angeben wie: „ist nicht wahr“ oder „ist geträumt“.

Nehmen wir an, ich bestehe aus der Konjunktion all meiner Gedanken, dann hätte ich die logische Dichte und Mächtigkeit eines unendlichen Kontinuums, denn ich kann jeweils zwei, drei, vier Gedanken als Untermenge dieser Menge einklammern und sie wiederum mit beliebigen Mengen aus Gedankenverknüpfungen konjugieren. Was folgt daraus? Nun, es gibt keine singuläre Formel und kein übergreifendes Muster, das mir mein Leben zusammenzufassen und zu erklären vermöchte.

Sollen wir Menschen bewundern, die ihr Lebenskontinuum einer Aufgabe oder Verpflichtung unterwerfen, und die Tatsache bedauern, daß wir nicht wissen, wie den Kontrapunkt unserer Lebensmelodie beginnen?

Der Tod setzt keinen Punkt, kein Fragezeichen, kein Ausrufezeichen, sondern alles in der Schwebe lassende Auslassungszeichen.

Erfahrung der Schönheit des Lebens ist wie das Winken eines unbekannten kleinen Mädchens auf der Schaukel, das dir entzückt entgegenlächelt und „Hallo!“ ruft.

Ich stelle mir vor, ich wäre als junger Wilder aufgebrochen und nach Sibirien gelangt, um mich erfolgreich einer Eskimogruppe anzuschließen, hätte ihre Sprache gelernt, teilte ihr Leben und kennte heute den Schneehasen und den Schneefuchs besser als die heimischen Spatzen. Meine Erinnerung an das Leben meiner Herkunft wäre mehr und mehr verblaßt. Phantasien dieser Art sind nicht ungewöhnlich und erscheinen in den buntesten Verpackungen. Doch sind sie unfruchtbar, ja unsinnig, denn wäre ich ein anderer, wäre ich eben ein anderer – das ist alles.

Ebenso Phantasien wie: „Wäre ich in einem anderen Jahrhundert geboren“, „Hätte ich andere Eltern gehabt, bessere Startbedingungen, hätte Klavierspielen gelernt“ und tausend andere der Art.

Träume sind wie der Wind, der ein auf der Veranda vergessenes Buch anweht und jetzt wird diese, jetzt jene Seite aufgeblättert.

Wenn ich eine Anhöhe erklimme, um mir einen Überblick über meine Lage zu verschaffen, erblicke ich auch näher und ferner liegende Anhöhen, die mir andere Übersichten ermöglichen würden.

Jene Bilder vom Glück, die durch malerische Harmonie von das Subjekt vertretendem Vordergrund und atmosphärischem Hintergrund, Gras und Schnee, Boot und Welle, Vogel und Wolke, wie in alten chinesischen oder japanischen Zeichnungen und Tuschbildern für sich einnehmen, kehren in der Eudämonie der Turmgedichte Hölderlins wieder, wenn sie uns als weiteren Ring in die Jahresringe ihrer Rhythmen einfügen.

Doch finden wir manchmal in Bildern, die aus der fugenlosen Projektion des Organismus auf sein Element wie des Flügels auf die Luft ihre Faszination schöpfen, die Gefahr, daß in ihnen Glück auf Kosten der Größe dargeboten wird, wie wenn einer umso unbekümmerter daherlebt, je weniger er auf sich selber sehend und achtend in den Fluß des Geschehens eintaucht – kann dieser doch trübe und trivial sein oder sich vom Morast von Sünde und Schuld kaum unterscheiden.

Das Glück muß sich an der Einsamkeit und Ausgesetztheit des Subjekts bewähren, wie sie uns in Caspar David Friedrichs Gemälde „Der Mönch und das Meer“ entgegentreten.

Der stille Austausch zwischen Sich-Besinnen und Sich-Verlieren, den Hölderlins späte Gedichte ausstrahlen, scheint ein untilgbares Moment des Glücks zu sein, wie wenn einer das Spiel der Reflexe des abendlich versinkenden Lichts auf dem Wasser betrachtet und darüber nicht vergißt, daß es bald verlöschen wird, oder sich auf der Bank niederläßt und im Tal den Strom schimmern sieht und darüber nicht vergißt, daß er bald wieder abwärts gehen muß.

 

 

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