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Rabindranath Tagore, Stray Birds 61–100

30.09.2018

61

Take my wine in my own cup, friend. It loses its wreath of foam when poured into that of others.

62

The Perfect decks itself in beauty for the love of the Imperfect.

63

God says to man, “I heal you therefore I hurt, love you therefore punish.”

64

Thank the flame for its light, but do not forget the lampholder standing in the shade with constancy of patience.

65

Tiny grass, your steps are small, but you possess the earth under your tread.

66

The infant flower opens its bud and cries, “Dear World, please do not fade.”

67

God grows weary of great kingdoms, but never of little flowers.

68

Wrong cannot afford defeat but Right can.

69

“I give my whole water in joy,” sings the waterfall, “though little of it is enough for the thirsty.”

70

Where is the fountain that throws up these flowers in a ceaseless outbreak of ecstasy?

71

The woodcutter’s axe begged for its handle from the tree. The tree gave it.

72

In my solitude of heart I feel the sigh of this widowed evening veiled with mist and rain.

73

Chastity is a wealth that comes from abundance of love.

74

The mist, like love, plays upon the heart of the hills and brings out surprises of beauty.

75

We read the world wrong and say that it deceives us.

76

The poet wind is out over the sea and the forest to seek his own voice.

77

Every child comes with the message that God is not yet discouraged of man.

78

The grass seeks her crowd in the earth.
The tree seeks his solitude of the sky.

79

Man barricades against himself.

80

Your voice, my friend, wanders in my heart, like the muffled sound of the sea among these listening pines.

80

Your voice, my friend, wanders in my heart, like the muffled sound of the sea among these listening pines.

81

What is this unseen flame of darkness whose sparks are the stars?

82

Let life be beautiful like summer flowers and death like autumn leaves.

83

He who wants to do good knocks at the gate; he who loves finds the gate open.

84

In death the many becomes one; in life the one becomes many. Religion will be one when God is dead.

85

The artist is the lover of Nature, therefore he is her slave and her master.

86

“How far are you from me, O Fruit?”
“I am hidden in your heart, O Flower.”

87

This longing is for the one who is felt in the dark, but not seen in the day.

88

“You are the big drop of dew under the lotus leaf, I am the smaller one on its upper side,” said the dewdrop to the lake.

89

The scabbard is content to be dull when it protects the keenness of the sword.

90

In darkness the One appears as uniform; in the light the One appears as manifold.

91

The great earth makes herself hospitable with the help of the grass.

92

The birth and death of the leaves are the rapid whirls of the eddy whose wider circles move slowly among stars.

93

Power said to the world, “You are mine.
The world kept it prisoner on her throne.
Love said to the world, “I am thine.”
The world gave it the freedom of her house.

94

The mist is like the earth’s desire. It hides the sun for whom she cries.

95

Be still, my heart, these great trees are prayers.

96

The noise of the moment scoffs at the music of the Eternal.

97

I think of other ages that floated upon the stream of life and love and death and are forgotten, and I feel the freedom of passing away.

98

The sadness of my soul is her bride’s veil. It waits to be lifted in the night.

99

Death’s stamp gives value to the coin of life; making it possible to buy with life what is truly precious.

100

The cloud stood humbly in a corner of the sky.
The morning crowned it with splendour.

 

Verirrte Vögel 61–100

61

Trinke, Freund, meinen Wein aus meinem Kelch. Er büßt den Perlenkranz aus Schaum ein, wird er in den eines anderen gegossen.

62

Das Perfekt schmückt sich mit Schönheit aus Liebe zum Imperfekt.

63

Gott spricht zum Menschen: „Ich heile dich, darum verletze ich, ich liebe dich, darum strafe ich.“

64

Sei der Flamme dankbar für das Licht, doch vergiß ihre Schale nicht, die im Schatten geduldig ausharrt.

65

Winziger Grashalm, deine Schritte sind klein, doch dir gehört die Erde darunter.

66

Die kindliche Blume öffnet ihre Blüte und schreit: „Liebe Welt, bitte welke nicht.“

67

Gott wird der großen Reiche müde, doch nie der kleinen Blumen.

68

Das Falsche kann sich keine Niederlage erlauben, doch das Richtige kann es.

69

„Ich gebe all mein Wasser freudig dahin“, singt der Wasserfall, „auch wenn der Durstige nur einer kleinen Menge davon bedarf.“

70

Wo ist der Springquell, der diese Blumen in einer grenzenlos brausenden Verzückung emporschleudert?

71

Die Axt des Holzfällers bat den Baum um ihren Griff. Der Baum gab ihn.

72

In der Einsamkeit des Herzens fühle ich das Seufzen dieses verwitweten Abends unter seinem Schleier aus Nebel und Regen.

73

Keuschheit ist ein Reichtum, der aus dem Überfluß an Liebe strömt.

74

Der Nebel spielt, wie die Liebe, auf dem Herzen der Hügel und gibt den Blick auf unvermutete Schönheiten frei.

75

Wir lesen die Welt falsch und sagen, sie täusche uns.

76

Der Dichter Wind zieht hin über Meer und Wald und sucht seine eigene Stimme.

77

Jedes Kind kommt mit der Botschaft zur Welt, daß Gott noch nicht völlig enttäuscht ist vom Menschen.

78

Das Gras sucht seine Gemeinschaft auf der Erde.
Der Baum sucht seine Einsamkeit am Himmel.

79

Der Mensch baut vor sich selbst Barrikaden auf.

80

Deine Stimme, mein Freund, wandert in meinem Herzen wie das dumpfe Brausen des Meers um die lauschenden Kiefern.

81

Welches ist die ungesehene Flamme der Dunkelheit, deren Funken die Sterne sind?

82

Das Leben sei schön wie Blumen des Sommers, der Tod sei wie herbstliche Blätter.

83

Wer Gutes tun will, klopft an die Tür; wer liebt, findet die Tür offen.

84

Im Tode wird das Viele eines; im Leben das Eine vieles. Gibt es nur noch eine Religion, ist Gott tot.

85

Der Künstler ist der Liebhaber der Natur, darum ist er ihr Sklave und ist ihr Herr.

86

„Wie fern bist, o Frucht, du von mir?“
„Ich bin in deinem Herzen, o Blume, verborgen.“

87

Dies Sehnen gilt jenem, der im Dunkeln fühlbar wird, doch am Tage unsichtbar ist.

88

„Du bist der große Tautropfen unter dem Lotusblatt, ich bin der kleinere auf seiner Oberfläche“, sagte der Tautropfen zum See.

89

Die Scheide ist froh, stumpf zu sein, wenn sie die Schärfe des Schwertes umhüllt.

90

In der Dunkelheit erscheint das Eine eintönig; im Licht erscheint das Eine mannigfaltig.

91

Die große Erde macht sich gastlich mit Hilfe des Grases.

92

Geburt und Tod der Blätter sind die raschen Wirbel im Strudel, dessen größere Kreise sich langsam um die Sterne bewegen.

93

Die Macht sprach zur Welt: „Du gehörst mir.“
Die Welt nahm sie als Gefangene an ihren Thron.
Die Liebe sprach zur Welt: „Ich gehöre dir.“
Die Welt schenkte ihr die Freiheit ihres Hauses.

94

Der Nebel ist wie das Verlangen der Erde. Er verhüllt die Sonne, nach der sie ruft.

95

Sei still mein Herz, diese hohen Bäume, sie beten.

96

Der Lärm des Augenblicks verhöhnt die Musik des Ewigen.

97

Ich denke an andere Zeitalter, die auf dem Strom des Lebens, der Liebe und des Todes dahintrieben und nun vergessen sind, und ich fühle die Freiheit dahinzuscheiden.

98

Die Traurigkeit meiner Seele ist ihr Brautschleier. Er wartet darauf, in der Nacht gelüftet zu werden.

99

Der Stempel des Todes verleiht der Münze des Lebens ihren Wert; er ermöglicht es, mit dem Leben zu erwerben, was kostbar ist.

100

Die Wolke stand demütig in einer Ecke des Himmels.
Der Morgen krönte sie mit Glanz.

 

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