Postscriptum
Philosophische Sentenzen und Aphorismen
Wir fanden nur das Postscriptum, das eigentliche Schreiben ging verloren; aber in der Nachschrift äußert sich oft das drängende Bedürfnis, ein lang Verschwiegenes, eine das Gemüt oder Gewissen bedrückende Last doch noch mitzuteilen und loszuwerden.
Als fiele zwischen den Wörtern Schnee, so dehnt sich der Raum ins Grenzenlose, Unabsehliche.
Wenn ihnen nichts mehr einfällt, präsentieren sie ihr Geschlechtsteil.
Weil sie nicht mehr zeugen, vermehren sie die Geschlechter.
Wer ohne Tabu dahinlebt, hat nichts mehr zu verlieren.
Wer nichts zu verlieren hat, ist arm dran.
Mißgestalten verketzern den Schönheitssinn.
Was wären Archilochos, Catull und Martial, was der geniale Maulheld Luther und gar der leidenschaftliche Heißsporn Kleist ohne die Funken, Stacheln und Granaten der polemischen Rede, die sie nunmehr als Haßrede verunglimpfen?
Frau Welt zeigt ihre schimmernden Brüste, dreht sich dann um und wackelt mit ihrem von Geschwüren verunstalteten Hintern: Sie eilen schon, aufgeregt, schnatternde Gnome, mit den samtenen Tüchern der Heuchelei und eines neuen Puritanismus, sie schamhaft zu bedecken.
Geistige Va-Banque-Spieler und Bankrotteure wollen die Welt retten, unter dem Narkotikum des Heilswahns Schwankende sie ins Lot bringen.
Gespaltene Zungen, die mit der Taube des Heiligen Geistes girren wollen.
Die Neu-Sprech-Hysterie seelisch frigider Amazonen und die Logophobie geistig impotenter Mannweiber werden die greise Mutter der Sprache, die Poesie, wie eine unverständlich lallende demente Seniorin ins Pflegeheim stecken und ihr mittels Verabreichung von Morphium und verordneten Konsums von TV-Literatur-Talk- und Rap-Shows zur Rekreation verhelfen.
Vergleichen wir den schrillen, den verhunzten Ton eines unangemessenen Ausdrucks und einer übertriebenen Metapher mit dem Mißgriff des Pianisten oder Geigers.
Die ihr Instrument nicht beherrschen, werden für unerhörte Grenzüberschreitungen gefeiert.
Sokrates, Hamann, Kraus, die surrende Bremse am Ohr des irre die Augen verdrehenden, vergebens davongaloppierenden Kleppers öffentliche Meinung.
Welcher Wahn, den Graben zwischen den Geschlechtern mit erfundenen neuen verdecken zu wollen.
Der Dichter tänzelt über den alltagsplatten Boden wie der Akrobat über das Seil.
Aufgrund öffentlicher Auszeichnungen innerlich ausgezehrt.
Die da locken, Preisgelder und Stipendien, sie verführen meist dazu, dem, der sie vergibt, dem Zeitgeist mehr und mehr in den Arsch zu kriechen, bis das Talent gänzlich in ihm verschwunden ist.
Die nachts als sirrende Schwärme die Träume des Dichters heimsuchen, die Mücken der Worte, tags haften sie mit glitzernden Flügeln am Klebestreifen seines rachsüchtigen Verses.
Die moralische Entrüstung ersetzt leider nicht den Mangel an künstlerischer Reife.
Das Haus der Sprache, wie man es im Roman Musils finden könnte, als Ruine einer einst mit einem Park umgebenen klassistischen Villa mit Jugendstilanbauten inmitten einer Industriebrache.
Parasiten bedürfen des langen Atems der Wirtspflanze, die sie trägt, und die dämonische Natur waltet gerecht, denn wenn diese atemlos ins Knie bricht, hat auch für jene die letzte Stunde geschlagen. – So auch die parasitären Eliten des Gesellschaftskörpers.
Der Punkt am Ende des Satzes, das Verstummen des Sterbenden, verwischt nicht die Spur seines Daseins.
Der im Bernstein des Gedichts auf ewig erstarrte Falter einer ephemeren Lebensekstase.
Enthusiasmus und der Rausch der Massen sind kein Qualitätssiegel, sonst stünden die von einem diabolischen Klumpfuß inszenierten Aufmärsche in einer Reihe mit den Triumphzügen der Cäsaren.
Das sentimentale Fiepen einer Maus, die vor dem Stampfen des tragischen Chores davonhuscht.
Der geistig Schwache läßt sich unmittelbar beeindrucken: Es muß wahr sein, weil jener es sagt, um den die blausten Gerüchte wogen, weil diese es bestätigte, deren Lächeln keiner widersteht.
Der neue Gedanke soll uns nicht überfallen und überrumpeln, sondern gleichsam zögernd auf der Schwelle weilen, sodann an die Türe pochen (aber nicht mit knöchernem Finger) und erst eintreten, wenn er auf unser Nachfragen seinen Namen genannt hat.
Ein Legato gilt den Atonalen schon als Ausweis neurotischer Harmoniesucht, ein Vibrato als heimtückische Verführung durch den längst bloßgestellten Geist der Tradition.
Das von anmutiger Hand entzündete Licht am nächtlichen Fenster sehen wohl viele, aber es gilt nur dem einen.
Beschneide die Ilias um die Stimmen der Heroen, bleibt nur ein unartikuliertes Schreien und Johlen, das Stimmengewirr der Soldateska, das Schmettern von Schwertern und Schilden, das Schwirren der Pfeile, das Flackern der Flammen bei den Totenfeiern, das Brausen des Meers.
Wo kein Quell mehr singt, verkarstet die Landschaft der Seele.
Die abendlichen Schönwetterwolken sind uns ein Vorzeichen für einen heiteren Sommertag. Das schöne Wetter des darauffolgenden Tages ist uns kein Zeichen, sondern eben der heitere Sommertag.
Das freundliche Lächeln ist uns kein Zeichen, daß der Freund sich freut, uns wiederzusehen, sondern Ausdruck, Moment und echter Teil seiner Freude.
Der unwillkürliche Ausruf „Aua!“ ist kein sprachliches Zeichen für das Schmerzempfinden, sondern Ausdruck, Moment und echter Teil dieses Empfindens.
Die Degeneration bestimmter neuronaler Synapsen steht in kausalem Zusammenhang mit dem Ausbruch einer Geistesstörung; aber die scheinbar wirren Reden des Psychotikers ordnen sich uns auf dem Hintergrund der Geschichte seiner Seele und der mit alten Symbolismen überzogenen Semantik der deutschen Sprache.
Der schleppende Gang, der gesenkte Blick und der versteinerte Gesichtsausdruck sind keine Zeichen einer Depression, sondern Ausdruck, Moment und echter Teil eines depressiven Zustandes.
Der Psychoanalytiker glaubt anhand der Deutung des manifesten Trauminhalts den latenten erfassen zu können. Wir aber lesen die Manifestationen dessen, was wir die Seele nennen, unmittelbar an Mimik, Gebaren und Verhalten ab.
Doch wir können uns irren, können uns „verlesen“: Das freundliche Lächeln, das uns als Ausdruck freudiger Unbefangenheit galt, erweist sich als Symptom der Verlegenheit und Scheu; der heiter wirkende Plauderton erweist sich als rhetorische Maske tiefsitzender Traurigkeit.
Der spontane Ausruf „Aua!“ kann als Selbstausdruck betrachtet werden, dessen Wahrheitsgehalt wir gewöhnlich nicht in Abrede stellen, während die Äußerung „Ich habe Schmerzen“ auch eine Unwahrheit darstellen kann.
Der spontane Selbstausdruck läßt sich nicht widerlegen; jedoch gewichten, beispielsweise als die Äußerung krankhafter Empfindlichkeit.
„Ich habe es selbst gesehen“ – eine solche Aussage gilt uns, bei freier Lizenz, die Sehfähigkeit des Sprechers zu testen und seine Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen, als authentische Quelle zu dem Bereich, den wir Wirklichkeit nennen.
„Ich habe es selbst gesehen“ bedeutet: „Ich habe gesehen, wie dies und das geschehen ist“, und dies impliziert die Aussage „Ich habe gesehen, daß dies und das geschehen ist.“ Der Inhalt der Wahrnehmungsurteile hat die semantische Form der Faktizität.
Ironie und Zynismus im Gedicht wie bei Benn und Heine sind Symptome erkälteten Sentiments und enttäuschter Erwartung. In den dichterischen Prototypen wie der Bibel oder der Ilias finden wir weder Ironie noch Zynismus, aber Humor.
Als hätte das Organ für die Wahrheit des Eindrucks eine Verletzung davongetragen, und der unzulänglich Empfängliche schämte sich dessen.
Im Zeichengebrauch tritt uns augenscheinlich das Wirken eines fremden Willens entgegen; denn ein unwillkürlich hinterlassenes Anzeichen einer fremden Lebensregung gilt uns vielleicht wie die große Unordnung in einem Zimmer als Symptom einer gewissen Verwahrlosung seines Bewohners, aber nicht als willkürlich herbeigeführte Mitteilung wie der Zettel an der Tür mit der Aufschrift „Bin für zwei Wochen verreist.“
Ein Rundbogen macht noch keinen romanischen Stil, ein Spitzbogen noch keinen gotischen.
Erst die Reihung von Spitzbögen im Bau der Kathedrale, kombiniert mit anderen charakteristischen Merkmalen dieser Baukunst wie dem Kreuzrippengewölbe, der Verwendung von die hohen, schlanken Säulen stützenden Strebepfeilern und der dekorativ über den Giebeln, Nischen und Türmen aufgepflanzten zierlichen Kreuzblume lassen uns zurecht von einem Muster des gotischen Stiles sprechen.
Wir können den gotischen Stil der Kathedrale als Mitteilung über den sakralen Charakter des Bauwerks lesen.
Der Eindruck des Wuchtigen, Lastenden und Gravitätischen, die Würde der schweren, kompakten Massen der Rundsäulen und das vom Schein der Kerzen kaum durchbrochene Dämmerlicht des romanischen Baues lassen uns eine andere Konzeption des Sakralen gewahren als das lichtdurchflutete Kirchenschiff des gotischen Doms, dessen hohe Fenster mit den farbigen Bilder der Glasscheiben die Andacht der Frommen in eine sanft schillernde Ekstase entrücken.
Sie zwinkerte mit den Augen und er dachte, sie habe ihm ihr Einverständnis mitgeteilt; aber ihr war nur ein Staubkorn ins Auge geraten.
Der Maler kann dem Blau Anteile von Weiß, Rosa oder Purpur beimischen; der Dichter taucht den Farbbegriff Blau in ganz unterschiedliche metaphorische Atmosphären; die Meereswellen Homers können hell aufschäumen, die Ströme Eichendorffs wirken umso dunkler, je heller sich der Mond in ihnen spiegelt.
Der gelehrte Archäologe und Altertumsforscher sucht in den auf einen Stein gravierten Zeilen einer fremden, noch nicht entzifferten Schrift nach der Wiederkehr bestimmter Zeichen, in denen er einen Namen vermutet, meist den Namen des Königs oder Regenten, der seinen Erlaß hat einmeißeln lassen. Damit beginnt die mühsame, aber nicht aussichtslose Entzifferung der alten Schriftzeichen.
Wir füllen die verderbte, unleserliche Stelle des Papyrus versuchsweise oder divinatorisch mit Wörtern, die wir dem gesicherten Corpus der Werke des Autors entnehmen.
Lesen heißt sich der Führung durch die Hinweise des Autors zu überlassen; das tun wir nicht ohne einen gewissen Vertrauensvorschuß, der ihm schon nach wenigen Minuten der Lektüre zuwachsen mag, wenn wir stilistisch sicheren Grund unter den Füßen verspüren oder uns eine lichte Schneise mit einer beglückenden Aussicht verlockt hat. Warum aber weiterlesen, wenn wir halb schon in sumpfigem Gelände versinken oder uns die Disteln und Dornen trockener, spitzer, wuchernder Metaphern stechen, die Aussicht von einem trüben Dunst und Nebel versperrt ist, den keine ferne Sonne zu durchdringen sich anschickt?
Seltsam zu fühlen, zu begreifen, daß lesen eine Art freiwilliger Unterwerfung unter einen fremden Willen darstellt.
Ein Berg nicht gelesener Klassiker warf seinen Schatten auf das Angesicht des sterbenden Lesers.
Wir ziehen das Zelt des der Schrift unkundigen Beduinen, wo Karaffen aus getriebenem Silber und Säbel und Dolche dekorativ vor zartbestickten Teppichen schweben, und vor dem Zelt spielen Kinder, tollen Hunde, der dumpfen Studierstube des kinderlosen Intellektuellen vor, wo von den vollgestopften Regalen Bücher in den Staub des Vergessens stürzen und auf dem Fenstersims ein eingegangener Kaktus steht.
Die Häßlichkeit geht Hand in Hand mit der Unfruchtbarkeit.
Die schönste Frau war das Blutopfer wert.
Goethe feiert in der Epiphanie Helenas die Wiedergeburt der geopferten Geliebten.
In der ersten Reihe lümmeln und krakeelen nun die Kretins, in der hintersten gähnen die Hochbegabten.
Je seltener, umso kostbarer.
Die großen Dichter Roms kommen aus der Provinz und oft aus kleinen Verhältnissen; aus diesem Befund läßt sich folgern, daß die Elitenselektion der römischen Republik einen hohen Grad der Perfektion erreicht hatte.
Kaiser Augustus pflegte dem Vortrag des Vergil aus seinem Epos sein Ohr zu leihen. Welcher zeitgenössische politische Führer würde der Rezitation der Duineser Elegien mit Anteilnahme und Verständnis folgen können, folgen wollen?
Beschränkte Köpfe suchen die Lösung eines Problems wie einen verlorenen Schlüssel unterm Lichtkreis der Lampe nur in dem von der Strahlkraft der approbierten Theorie schon ausgeleuchteten Bereich.
Die Quelle der Muse, an der Faunus die Flöte bläst, ist nicht nur präskriptural, sondern vorzivilisatorisch. – Doch ohne sie keine Oden des Horaz, des urbanen Römers, keine Sonette Baudelaires, des gebildeten Parisers.
Die symbolische Ordnung produziert das Weltbild, das wir nicht sehen.
Die Rose des Gedichtes duftet nicht. Die Rosen Monets welken nicht.
Demokratie: Die Stimme des Kretins, des Verbrechers, des Perversen wiegt so viel wie die Stimme des Weisen, Gerechten und Frommen.
Der Pöbelgeist und der vulgäre Geschmack werden als höchste Manifestationen der Aufklärung und der zwielichtigen Ideale der Französischen Revolution gepriesen.
Wer in der vom Pöbelgeist vergifteten Atmosphäre sogenannter demokratischer Öffentlichkeit die Wahrheit kundzutun sich erdreistet, wie jene schlichte von der Bipolarität der Geschlechter, lebt hierzulande gefährlich, er droht, bespuckt und verunglimpft zu werden, ja den sozialen Tod zu sterben.
Die Denunzianten hecheln vor den Bildschirmen, und auf ihr Geheiß machen sich die Häscher im Morgengrauen auf den Weg.
Die neuen Schreibtischtäter bellen nicht mehr, sondern säuseln, sie tragen die feine weiße Wäsche des verwöhnten Dandys oder die schicken Kostüme internationaler Couturiers, doch die unbedingte Hingabe ihrer Anhängerschaft ist genauso fanatisch, der Applaus, der ihnen entgegenbrandet, ist genauso frenetisch und ihr Lächeln genauso mephistophelisch wie ehedem.
Selbstzensur, die das Gebrüll des Triebes abwürgt und das Geschwätz der aufgebrachten Seele drosselt, ist die Nährmutter des erlauchten Worts.
Nur gehemmte Kraft fühlt sich und wird ihrer Möglichkeiten inne.
Eine Rebe ohne den Pfahl, an dem sie sich zum Licht emporwindet, verdämmert im fruchtlosen Dunkel.
Die das Unbedingte wollen, betrügen sich und andere um die schöne Fragilität, die inkommensurable Individualität und Subtilität der Dinge.
Die da frohgemut oder arglistig alle Farben mischen, wollen, daß wir im trüben Grau und gesichtslosen Einerlei verschmachten.
Die weltumspannende Kommunikation bewirkt die Abtötung des Sinnes für Nuancen.
Nur der Gott, der zürnen kann, kann auch Gnade walten lassen.
Alle pochen auf die Freiheit, immerzu die gleiche Meinung mit den gleichen Phrasen äußern zu können.
Der Dichter wandert durch die Auen und Wüsten, die fruchtbaren Ebenen und Steppen der Sprache, auch wenn er seine schäbige Hinterhauswohnung kaum verläßt.
Klar denken oder philosophieren ist eine Form sublimierter Grausamkeit.
In der rhythmisch gegliederten Wiederholung des Verses kehrt der Ausdruck des Gedankens, selbst bei wörtlicher Wiederholung wie im Refrain, verwandelt zurück; verwandelt schon aufgrund der vergangenen Zeit. – So wie in der Erinnerung das Vergangene zwar wiederholt wird, aber verwandelt durch die Atmosphäre und die Stimmung dessen, der sich erinnert.
Wir wollen den gedichteten Mond nicht blutig rot, sondern blaß, und so verschwimmt sein Bild im Wasser mit den dahintreibenden weißen Blütenblättern. Goethes bemalte Fensterscheiben tauchen wohl das Interieur in ein geheimnisvoll irisierendes Licht, aber hindern den Ausblick ins Freie. Den Nebel des schwach Gedachten und den Dunst des vagen Meinens muß der kühle Hauch des inspirierten Worts erst lüften, damit die offene Landschaft des Gedichtes sichtbar wird.
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