Logische Schneisen XVIII
Sätze sind die Ureinwohner des logisch-semantischen Raums. Sie sind jene Zeichenfolgen, die wir in Hinsicht und mit der Absicht zur Erfüllung eines sprachlich-pragmatischen Zweckes bilden.
Das, was unverändert bleibt, wenn du einen Aufforderungssatz (Befehl, Bitte, Wunsch) in einen Behauptungssatz umwandelst, ist das, was beide Sätze oder die Struktur oder die Form beider Sätze mit der Realität gemein haben – die logische Form der Modellbildung oder Abbildfunktion, die jeweils dieselbe syntaktische und semantische Mannigfaltigkeit aufweisen muss wie das mit dem Satz Gemeinte und Intendierte.
Der Satz „Das Fenster steht offen“ hat die Mannigfaltigkeit, die durch die logische Form a (F), sprich „a ist ein F“ angezeigt wird: Ein Gegenstand wird mit einem Begriff (und wenn nötig einem deiktischen Zusatz wie „dieses dort“ in „dieses Fenster dort“ und der gleichzeitigen Zeigebewegung oder Deixis) aus der Umwelt aussortiert (mittels des sortalen Gegenstandsbegriffs „Fenster“) und in die Klasse der Gegenstände eingeordnet, welche die Eigenschaft F haben.
Die syntaktische und semantische Mannigfaltigkeit des Ausdrucks muss die des gemeinten Sachverhaltes enthalten: Mit dem bloßen Ausruf „Das Fenster dort“, auch wenn er durch die Zeigebewegung verstärkt wird, sagst du zumeist nichts aus, es sei denn, in dem Moment hätte ein Windstoß das Fenster aufgerissen und dein Ausruf könnte von deinem vor dem Fenster sitzenden Kollegen als Aufforderung verstanden werden, das Fenster zu schließen. Dann hast du mit dem unvollständigen Ausdruck „Das Fenster dort!“ implizit gemeint: „Bitte, schließe das Fenster!“ (sogenannte Implikatur).
Der Satz „Das Fenster steht offen“ hat als indikativischer Behauptungssatz die Bedeutung, die Tatsache darzustellen, dass das Fenster offen steht, und realisiert die Intention, auf die Tatsache hinzuweisen, dass das Fenster offen steht.
Der Satz „Das Fenster steht offen!“ hat als Aufforderungssatz die Bedeutung des Wunsches desjenigen, der den Satz zu seinem Kollegen in der Absicht sagt, dieser möge das Fenster schließen, weil es zu frisch im Zimmer wird.
Wenn du den Satz „Das Fenster steht offen!“ im Sinne einer Aufforderung an deinen Kollegen äußerst, dieser möge das Fenster schließen, hegst du die Erwartung, dass er das Fenster schließen werde.
Wenn es zieht und das Fenster offen steht und ich dich auffordere „Bitte, schließe das Fenster“, kannst du aufgrund dieser Äußerung, ohne den Sachverhalt durch Augenschein zu überprüfen, ableiten, dass das Fenster offen steht. Wir finden hier die Tatsache bestätigt, dass unsere Sätze in ein kompliziertes Netz von mehr oder weniger kohärent zusammenhängenden Sätzen verflochten sind. So begegnet es uns bei der logischen Mannigfaltigkeit des Farbraums, die bedingt, dass du aus jemandes Äußerung „Dieser Fleck ist rot“ schließen kannst, dass er weder blau noch grün noch gelb ist.
Das Modell oder die Abbildfunktion, die unsere beiden Ausgangsätze, der Behauptungssatz „Das Fenster ist offen“ und der Aufforderungssatz „Bitte, schließe das Fenster“, gemeinsam haben, kann abgekürzt so dargestellt werden <Fenster> 0 <offen>, wobei die Klammern die Tatsache kennzeichnen, dass die genannten Wörter semantisch nicht vollständig festgelegt oder gebunden sind, während das Null-Zeichen zwischen den Wörtern die Tatsache kennzeichnet, dass ihre Verknüpfung nicht festgelegt ist – die Satzform zeigt allerdings auch, dass der artikulierte und vollständige Satz die Ergänzung und Bindung durch ihre semantische Festlegung und syntaktische Verknüpfung zwingend fordert.
Der Spielraum der semantisch-syntaktischen und logischen Mannigfaltigkeit von Behauptung und Aufforderung kann anhand des einfachen Satzmodells <Fenster> 0 <offen> wie folgt dargestellt werden:
Das Fenster ist offen.
Das Fenster ist nicht offen. (Das Fenster ist geschlossen.)
Bitte, schließe das Fenster.
Bitte, öffne das Fenster.
Wir sehen: Mittels einfacher sprachlicher Transformationen bilden wir aus dem Satzmodell oder Satz-Nucleus Sätze unterschiedlicher Bedeutung, die wir benutzen, um ebenso unterschiedliche Handlungen mit unterschiedlichen Handlungszwecken und Handlungsabsichten wie Behaupten oder Auffordern zu vollziehen.
Wir können auch sagen: Das Satzmodell wird durch Anwendung der Modi Indikativ, Imperativ, Optativ in Sätze unterschiedlicher Bedeutung modifiziert: Behauptungssatz, Befehlssatz, Wunschsatz (Bitte).
Mit der deskriptiven Leistung des Behauptungssatzes im Indikativ beschreiben wir die Struktur von aktuell bestehenden Sachverhalten (aber auch von Sachverhalten, die unserer Meinung nach in der Vergangenheit bestanden oder in der Zukunft bestehen werden). Mit den Modi Imperativ und Optativ drücken wir unseren Willen und unseren Wunsch aus, der im Satz abgebildete Sachverhalt müsse oder möge Realität werden.
Wir bemerken, dass unsere bewusst erlebten Absichten oder Einstellungen Gedanken mit einem bestimmten propositionalen Gehalt p sind, der in den Sätzen des Behauptens und Aufforderns als derselbe Gehalt wiederauftaucht. Der mittels der Intentionen der Behauptung oder Aufforderung intendierte Gehalt p ist das Bindeglied zwischen dem Satz und dem System unserer Erfahrung oder kurz der Realität, deren Modell er darstellt:
Du behauptest, dass p (dass nicht p).
Du befiehlst, dass p (dass nicht p).
Du bittest, dass p (dass nicht p).
Du wünschst, dass p (dass nicht p).
Du hoffst, dass p (dass nicht p).
Du befürchtest, dass p (dass nicht p).
Du erwartest, dass p (dass nicht p).
Intentionen und mentale Einstellungen wie etwas behaupten, fordern, um etwas bitten, etwas wünschen, hoffen, befürchten und erwarten haben die propositionale Struktur von Gedanken, weil sie sich auf das Bestehen oder Nicht-Bestehen von Sachverhalten beziehen und in den entsprechenden Sprach-Handlungen ausgedrückt werden.
Wenn du erwartest, dass ich wegen deiner Aufforderung, das Fenster zu schließen, das Fenster schließe, erwartest du nicht etwas Unbestimmtes und deine Erwartung wird nicht durch ein Gefühl der Befriedigung erfüllt, das sich aufgrund der Tatsache einstellt, dass deine Erwartung erfüllt worden ist. Du erwartest mit Bestimmtheit, was im Symbol p für den Satzgehalt enthalten ist, und dein Gefühl der Befriedigung ist ein mehr oder weniger zufälliges Beiwerk der Erfüllung deiner Erwartung durch die Tatsache, dass ich das Fenster schließe. Du könntest ja auch enttäuscht ob der Tatsache sein, dass ich das Fenster schließe, weil du es lieber offen und frische Luft haben willst – und dann wäre das Gefühl der Enttäuschung das zufällige Beiwerk der Erfüllung deiner Erwartung, deren notwendiger oder interner Inhalt durch die Beziehung auf den Satzgehalt p gegeben ist.
Wir sehen und halten fest: Emotionale Einstellungen wie Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen und Erwartungen sind keineswegs, wie man leichthin glauben könnte, rein biologisch fundierte mentale Zustände oder Instinkte, sondern als sprachbezogene Bewusstseinszustände Bewohner des logisch-semantischen Raums. Sie alle kennzeichnet eine interne Beziehung zum Gehalt p des Satzes, der den von ihnen intendierten Inhalt darstellt. Der intendierte Sachgehalt p kann aus dem Bewusstseinszustand des Wünschens, Hoffens, Befürchtens und Erwartens nicht getilgt werden, ohne diesen Bewusstseinszustand selbst seines Wesens und seiner Form zu berauben.
Der Hund läuft ungeduldig zur Tür, wedelt heftig mit dem Schwanz und springt erregt die Türe empor. Wir sagen so obenhin, der Hund erwarte die Rückkehr seines Herrn. Der Hund indes erwartet keinesfalls die Rückkehr seines Herrn – Tiere haben keine Bewusstseinszustände des Wünschens, Hoffens, Befürchtens und Erwartens, weil sie über keine der unseren strukturähnliche Sprache verfügen und Zustände der genannten Art eine interne Beziehung zur Sprache aufweisen.
Der Hund erwartet nicht die Rückkehr seines Herrn, auch nicht seine unmittelbare Heimkehr – wäre dem so, könnte er auch die Rückkehr seines Herren von der Geschäftsreise nach Übersee in drei Wochen erwarten. Der Hund wittert seinen Herrn und das versetzt ihn in den bekannten Erregungszustand. Weil das Tier über die sinnliche Wahrnehmung von Geruch und Gehör einen kausalen Stimulus erhält, der die reflexhaften oder konditionierten Verhaltenssequenzen, die in seinem Gehirn gespeichert sind, freisetzt, verhält es sich so, wie es sich nun einmal verhält.
Wenn wir die Rückkehr des Herrchens regelmäßig mit dem Erklingen einer Glocke begleiten, können wir den Hund auf das Erklingen der Glocke konditionieren und so den bedingten Reflex bei ihm hervorrufen, nämlich mit dem bekannten Verhaltensrepertoire des freudigen Schwanzwedelns und erregten Die-Türe-Emporspringens zu reagieren. Aber auch in diesem Falle, wenn der Hundebesitzer nicht einmal in der Nähe ist, können wir keineswegs behaupten, der Hund erwarte die Rückkehr seines Herrn. Der Hund wittert nunmehr seinen Herrn gleichsam in dem akustischen Bild oder akustischen Muster des Glockentons.
Du aber erwartest die Rückkehr deiner Freundin, deines Freundes, deiner Eltern oder deiner Kinder. Deine Erwartung ist intern auf den Inhalt bezogen, der durch den Satz wiedergegeben wird: „Ich erwarte, dass der und der zurückkehrt.“ Die in die Erfüllung der Erwartung durch die tatsächliche Rückkehr des Erwarteten hineingemischten Gefühle sind nicht etwa der die Erwartung motivierende Inhalt der Erwartung – sind diese Gefühle doch nicht spezifisch und können von Freude über Gleichgültigkeit bis zur Enttäuschung reichen.
Wenn du erwartest, dass dich deine Freundin enttäuschen und heute nicht wie gewöhnlich an diesem Wochentage zu dir kommen wird, kann das erwartete Nicht-Eintreten des Sachverhaltes oder die negative Tatsache, dass jemand nicht zu dir kommt, nicht deine sinnlichen Rezeptoren stimulieren und insofern kausal für die Entstehung deiner Erwartung, dass nicht p, verantwortlich sein. Was nicht existiert, kann schlechterdings nicht auf dich einwirken.
Der Hund allerdings kann nicht hoffen oder befürchten oder erwarten, dass sein Herrchen heute, morgen oder übermorgen NICHT zu ihm zurückkehrt. Denn der Hund lebt wie alle Tiere außerhalb des logisch-semantischen Raums, in dem sprachlich strukturierte Bewusstseinszustände wie Hoffen, Befürchten und Erwarten allererst möglich sind.
Den Tier-Mensch-Unterschied markieren wir also deutlich an der Tatsache, dass wir uns mit Sätzen auf nicht bestehende Sachverhalte beziehen können, Sätze, die wir verwenden, um intentionale Bewusstseinszustände wie Hoffen, Befürchten oder Erwarten zum Ausdruck zu bringen. Natürlich gilt dies a fortiori für den intentionalen Akt des Behauptens, mit dem wir Negationen und beliebige Iterationen von Negationen zum Ausdruck bringen können.
Tiere haben mangels Sprache gleichsam keinen internen Bezug zur Negation – jedenfalls kann das Nicht-Bestehen der Tatsache, dass sein Herrchen heute zu ihm zurückkehrt, bei dem Hund nicht den mentalen Zustand hervorrufen, der ihn denken ließe: „O weh, ich fürchte, heute kommt Herrchen nicht nach Hause!“