Philosophische Konzepte: Welt
Wir leben in der Welt nicht, wie wir in einem Land, einer Stadt, einem Dorf, einer Wohnung leben und hausen.
Wir können auswandern, in eine andere Stadt, einen anderen Ort, eine andere Wohnung ziehen – wir können nicht aus der Welt auswandern, in eine andere umziehen.
Die Welt ist keine Summe, Konjunktion oder Totalität von Dingen, Teilen oder Tatsachen. Diese Art der Begriffsbildung ist ähnlich schief, verfehlt und verfänglich wie die Bildung des Begriffs Geist, Seele oder Subjekt aus der Summe bestimmter Eigenschaften, die wir seinem angeblichen Träger, dem Körper, zusprechen.
Die Welt ist ebensowenig der Behälter, in den ich geraten bin oder gesteckt wurde, wie der Körper oder das Gehirn der Behälter für das ist, was wir Geist und Seele oder Subjekt nennen.
Die Welt als Rahmen meines Lebens ist der Inhalt der Wissenschaft. Aber was hat die objektive Tatsache, daß sich die Erde um die Sonne dreht, mit der subjektiven Tatsache zu tun, daß MICH das Sonnenlicht blendet?
Man meint, die Tatsache, daß die Sonne scheint, sei die objektive Voraussetzung der Tatsache, daß sie jemanden blendet – und damit wäre alles gesagt. Aber die Frage besteht darin, wieso derjenige, den sie blendet, ICH bin.
Nur aufgrund der Tatsache, daß es jemanden gibt, der von SICH sagt, daß ihn die Sonne blende, erschließt sich uns die ursprüngliche Subjektivität der Aussage, daß die Sonne scheint, von der wir glauben, sie könne durchgestrichen werden, weil die Sonne auch scheint, wenn sie niemanden blendet und niemandem scheint.
Aber wenn die Sonne niemals jemandem oder immerfort keinem schiene, existierte sie augenscheinlich nicht in der Welt, die unsere Welt ist. Wir können es auch so sagen: Die Möglichkeit der Objektivierung des Phänomens Licht in der Optik und Physik setzt die Möglichkeit voraus, daß jemand sagen kann: „Die Sonne scheint.“ Oder: Die Möglichkeit der Analyse des Lichts setzt seine Sichtbarkeit voraus.
Wir betreiben Astronomie, Kosmologie, Physik und Chemie, um beispielsweise den Abstand der Sonne von der Erde und die chemische Zusammensetzung der Sonnenmasse zu erkunden. Aber wir können nicht einmal die Idee der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Zentralgestirn unseres Planetensystems fassen und erfassen, lebten wir nicht in einer Welt, in der jemand sagen kann, daß die Sonne scheint.
Die Idee einer Welt „ohne mich“ oder „ohne uns“ oder die Vorstellung einer aperspektivischen Welt gleicht der Vorstellung von einer Figur, die durch ihren bloßen Umriß auf dem weißen Blatt absticht, von der man sagte: „Denk dir die Umrißlinien weg und behalte das im Sinn, was sie umschlossen haben, das, was dann übrigbleibt, meine ich.“
Oder nehmen wir die Vorstellung von der Aufführung eines Musikstücks, von dem man sagte: „Denk dir die Klänge weg, was eigentlich geschieht ist dies“ – und man zeigt dem erstaunten Konzertbesucher die visuelle Projektion der während des Musikstücks erstellten Schallanalysen. Allerdings bleibt, ziehen wir das perspektivische Hörbild ab, das sichtbare Bild der Schallausbreitung übrig. Freilich können wir das visuelle Bild nicht spontan in ein Hörbild umwandeln. Ohne die Möglichkeit der Erzeugung des Hörbilds gelangen wir indes auch nicht zu den objektivierenden Aufzeichnungen der Klänge.
Die Idee einer Welt „ohne mich“ und „ohne uns“ gleicht der Vorstellung von einem Behälter, gefüllt mit Galaxien, der Sonne, ihren Planeten, darunter die Erde, auf ihr Meere, Länder, Pflanzen, Tiere, Menschen und du und ich, von dem man sagte: „Leere den Behälter, was dann übrig bleibt, meine ich.“
Die Idee einer Welt „ohne mich“ und „ohne uns“ gleicht der Vorstellung von einem Leichnam, von dem man sagte: „Würde er atmen, blicken, sprechen, dann lebte er.“
Gewiß ist die Sonne nicht in einem naiven Sinne „untergegangen“, wenn es Nacht ist, und ebenso gewiß wird sie (noch eine gute Weile) scheinen, wenn wir sie nicht mehr sehen, weil wir tot sind. Doch berührt dieser Umstand nicht die Tatsache, daß die Fähigkeit, sie scheinen zu sehen, eine unserer Welt interne oder immanente Tatsache ist.
Wir können uns nicht als eine gleichsam eingekapselte oder internalisierte Innenwelt, ob wir sie Seele nennen oder Geist, von einem vorgestellten Ganzen (der Welt) subtrahieren und übrig bliebe eine gleichsam ausgestülpte oder externalisierte Außenwelt.
Die Sprache oder das Netz der Begriffe, mit dem wir die Fische der Erfahrung fangen, gehört weder zur Innenwelt noch zur Außenwelt.
Wir sitzen der schiefen Vorstellung auf, Farbprädikate wie „blau“ und „rot“ kontingenterweise auf die sichtbaren Dinge zu projizieren, und was übrigbliebe, wüschen wir in einem Akt des nomologisch-asketischen Purismus alle Farbtöne von ihrer Oberfläche ab, wäre das Grau-in-Grau der eigentlichen Welt.
„Aber der Abstand der Erde von der Sonne beträgt doch rund 150.000 km und das ist eine gewisse und objektive Tatsache, die gilt, wenn wir darum wissen oder nicht, die gilt, ob wir sie gemessen haben oder nicht!“ – Ja, sicher. Indes, der Maßstab, mit dem wir den Abstand der Erde von der Sonne messen, das sogenannte Pariser Urmeter, beispielsweise definiert als Länge des Sekundenpendels, ist keine objektive Tatsache in dem Sinne, wie der anhand dieses Maßstabs gemessene Abstand von Erde und Sonne eine objektive Tatsache ist. Das Meter gehört wie alle anderen in der Physik und den Naturwissenschaften und ihren technischen Anwendungen benutzten Maßstäben und Meßeinheiten zu der von uns konstruierten und definierten Metrik. Metrische Systeme aber sind nicht wiederum ein Teil der Außenwelt, auf die wir sie anwenden.
Schreiben wir folgende Sätze hin:
1.1 Der Mond ist ein Trabant der Erde.
1.2 Die Erde ist ein Planet der Sonne.
Dann dürfen wir folgernd auch sagen:
2.1 Der Mond umkreist (mit der Erde) die Sonne.
2.2 Der Abstand des Mondes von der Erde ist kleiner als der Abstand der Erde von der Sonne.
Wir folgern diese Aussagen anhand der von uns festgelegten Definitionen der Begriffe „Trabant“ = „Erdbegleiter“ und „Planet“ = „die Sonne umkreisender Körper“.
Wir können die letzte Folgerung auch als negatives Konditional ausdrücken, wenn wir sagen: Wäre der Abstand des Mondes von der Erde ähnlich groß wie der Abstand der Erde von der Sonne, wäre der Mond kein Erdtrabant, sondern ebenfalls ein Sonnenplanet.
Ähnliches gilt natürlich auch für die Metriken unserer Zeitmessung. Sekunden und Minuten, Stunden und Jahre sind keine objektiven Eigenschaften der Außenwelt, auch wenn wir sagen, daß die Erde die Sonne in einem Jahr umkreist. Indes, es könnte keine Zeitmessung in einer Welt geben, in der es niemanden gäbe, von dem eine von ihm überblickte Zeitspanne als vergangen betrachtet werden könnte. Die Möglichkeit des subjektiven Zeiterlebens im Ausgang von einer als absolut erfahrenen Gegenwart ist die Voraussetzung der Möglichkeit der objektiven Zeiterfassung im Ausgang von relativen Gegenwarten.
Wir bilden die beiden Sätze:
3.1 Der Mond umkreist als Trabant die Erde.
3.2 Die Erde umkreist als Planet die Sonne.
Daraus folgern wir die weiteren Sätze:
4.1 Der Mond umkreist entweder genauso oft wie die Erde die Sonne (oder:)
4.1 Der Mond umkreist die Erde öfter als er selbst und die Erde die Sonne.
Definitorische Festsetzungen sowie die logischen Regeln, nach denen Sätze aus Sätzen folgen, die wir mittels definitorisch festgelegter Begriffe bilden, sind keine Teile der Außenwelt, sondern wie die metrischen Systeme Formen und Funktionen unseres geregelten Sprachgebrauchs oder der logisch gezügelten Grammatik oder der semantisch geläuterten Logik.
Wir müssen einsehen und dürfen nicht darüber bedenklich werden, daß die logische Grammatik und beispielsweise die logischen Schlußregeln nicht durch sich selbst begründet werden können, sondern auf letzten Evidenzen beruhen wie die Evidenz, daß Hans, wenn er größer ist als Peter und Peter genauso groß oder kleiner als Walter, größer als Walter ist.
Doch sind die logischen Evidenzen – evidenterweise – keine Eigenschaften der objektiven Welt. Schließlich kann etwas, ein Sachverhalt, eine Zuschreibung, eine Folgerung, nur JEMANDEM einleuchten, und etwas könnte keine Geltung in Anspruch nehmen, wenn es NIEMANDEM einleuchtete.
Die Grammatik und Semantik unseres logisch geregelten Sprachgebrauchs, können wir sagen, sind kein objektiver Teil der Welt, sondern konstituieren unseren Begriff der Welt oder sind schlicht ein interner oder immanenter Teil unserer Welt.
Doch besteht die Grammatik unseres gewöhnlichen Sprachgebrauchs aus einem bunten Gemisch von geregelten und weniger geregelten Sprachspielen, unter denen das besondere Regelwerk der wissenschaftlichen Sprache zwar durch die glatte Erklärungsfunktion über einem definitorisch beschränkten Auswahlbereich von Gegenständen und Sachverhalten und ihre prognostisch und technisch wirkmächtige Anwendung besticht, aber trotz seiner Ambition auf das Alleinspracherecht nicht die Ehre des einzig echten Sprachspiels beanspruchen kann, das uns auf einzigartige Weise einen Begriff der Welt oder den einzig relevanten Begriff der Welt vorschriebe.
Die Wissenschaft vergißt, daß sie auf der methodischen Ausgliederung statistisch relevanter Beobachtungsergebnisse unter Abstraktion von allen intensionalen Gehalten beruht. Indes, die Sprache, die uns gemäß ist und uns die Welt ursprünglich erschließt, erwächst aus dem Reden über das, was uns angeht, affiziert, betrifft. Sie wimmelt daher von intensionalen Gehalten und spricht über Sichtbares, Hörbares, Fühlbares, Schmeckbares, Riechbares, über Farben, Gestalten, Töne, Intensitäten, Gefühle, Stimmungen, Atmosphären, den Ausdruck von Gesichtern, den Eindruck von Gebärden, die Anmutung von Landschaften, das Rechtsempfinden oder die Schönheit eines künstlerisch sublimen Bilds – um nur einiges zu nennen.
Das Verhängnis des verkürzten Sprachgebrauchs, das jene heimsucht, die sich und uns das wissenschaftliche Sprachspiel als Methodenideal und Gesundbrunnen exakten und einzig klaren Redens verordnen, beruht ironischerweise auf einem Mythos: dem Mythos der Spaltung der Welt in Innen- und Außenwelt, als würde die kluge Taube der Wissenschaft die Körner intensionalen Gehalts emsig und streng abgerichtet im Kröpfchen verschwinden und die einzig bekömmlichen Körner extensionalen Gehalts in die allen offen stehende Schale des erfahrbaren Weltsinns fallen lassen.
Diejenigen, die einem solchen Verhängnis erliegen und diesem Mythos aufsitzen, sind in erster Linie nicht die Naturwissenschaftler und Mathematiker, die in ernster Weise ihrem verdienstvollen Geschäft der theoretischen Erklärung und mathematischen Beweisführung nachgehen, sondern jene Philosophen, die sich als scharfsinnige und unbestechliche Naturalisten und Materialisten gerieren. Auch wenn sie es abstreiten, erweisen sie sich in Hinsicht auf den Ursprung ihrer Konzepte in Wahrheit als sich selbst verkennende umgekehrte Idealisten, wenn sie den Weltbegriff auf die objektive Außenwelt reduzieren, an deren Rand das aller Gehalte entleerte Subjekt als neutraler Beobachter herumgeistert und registriert, was alles so auf der Weltenbühne passiert ist und passiert, vom Urknall bis zur Evolution der Lebewesen, inklusive der Menschen – als könne der Beobachter die Welt ungeachtet der Tatsache beobachten, daß er sie beobachtet. Im übrigen schämen sie sich insgeheim wie die meisten Idealisten ihrer Herkunft und verdrängen die Tatsache, daß auch ihr Methodenideal der Exaktheit aus dem trüben Gewässer der menschlichen Erlebniswelt gefischt und mühsam von Flecken und Unebenheiten gereinigt worden ist.
Der Roboter ist die gängige Chiffre des aller intensionalen Gehalte entleerten Subjekts, das Gegenteil dessen, was wir sind und was den sinnhaften Nährboden unserer Welterschließung ausmacht. Der Roboter vermag wohl die Strahlung der Sonne zu vermessen, aber die Meßdaten sind nur für Subjekte lesbar, brauchbar und anwendbar, die sehen können, daß die Sonne scheint – während der Roboter, das leere Subjekt in einer leeren Welt, überhaupt nichts sehen kann.
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