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Philosophische Konzepte: „schwer“ und „leicht“

07.12.2017

Wir leben in einer Welt, die wesentlich durch die Eigenschaft geprägt ist, die wir Schwerkraft nennen. Die theoretischen Erklärungen der Physik und Kosmologie hinsichtlich dieser fundamentalen Kraft sind indes unerheblich für die Erhellung der semantischen Rolle und Bedeutung solcher Aussagen wie:

1.1 Der Wagen war schwer beladen.
1.2 Die sich häufenden und immer heftiger werdenden Fieberattacken deuteten auf eine ernste und schwere Erkrankung hin.
2.1 Schweren Herzens willigte sie in seinen Vorschlag ein, die Stadt zu verlassen.
2.2 Kopfrechnen fiel ihm leicht.
3.1 Obwohl er keinen Finger krümmte, lud er schwere Schuld auf sich.
3.2 Sein ständiges Zuspätkommen hätte er nicht auf die leichte Schulter nehmen sollen.
4.1 Trotz ihres feingliedrigen Köperbaus bewegte sie sich schwerfällig.
4.2 Noch unter der Bürde des Alters umschwebte ihn die Leichtigkeit jugendlicher Anmut.

Es ist indes nicht von geringer philosophischer Relevanz, wenn wir feststellen, daß unser sprachliches Verhalten und seine Philosophie, die Sprachphilosophie, unabhängig davon ist, ob wir die fundamentale Tatsache, daß uns eine Tasse aus der Hand immer nur zur Boden fällt, mit Aristoteles als das der Tasse wie jedem materiellen Gegenstand unter dem Mond innewohnende Streben, bei fehlenden Hindernissen seinen „natürlichen Ort“ Richtung Erdmittelpunkt aufzusuchen, erklären oder mit Newton mittels der mysteriösen Gravitationskraft oder mit Einstein mit der Theorie, wonach die Masseverteilung in der Zeit die Struktur des Raumes so prägt, daß die Tasse nun einmal ihrer einzigartigen raumzeitlichen Ereignislinie folgt. Demnach gilt: Ist unser Weltumgang ein sprachlich geprägter, kann uns die Physik der objektiven Welt der Massen und Teilchen nicht über das Wesen unserer Lebenswelt die letzten und entscheidenden Aufschlüsse geben.

Diese Beobachtung gilt für alle Teilbereiche der Philosophie und alle wissenschaftlichen Disziplinen, die sich entweder mit der Anwendung der natürlichen Sprache beschäftigen wie die Sprachwissenschaft und die Literaturwissenschaft oder die Anwendung der natürlichen Sprache als unhintergehbare Tatsache voraussetzen und hinnehmen wie die Geschichts- oder Kunstwissenschaft. Nur in Disziplinen wie der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte machen sich die genannten unterschiedlichen physikalischen Theorien als bedeutsame Themen geltend, ohne freilich den normalsprachlichen Rahmen zu tangieren, denn auch hier spricht man beispielsweise von schweren Fehlern oder leicht zu behebenden Mißverständnissen.

Anhand dieser Betrachtung über die relative Indifferenz des normalsprachlichen Weltumgangs zu den Umbrüchen des kosmologischen Weltbilds und der physikalischen Theorien, die ihnen zugrundeliegen, erweist sich auch die Rede von der kopernikanischen Wende in der Philosophie als überschwänglich und unhaltbar. Denn in der sorgfältigen Beschreibung unserer Art zu sprechen fällt spätestens dann der Groschen, wenn die Bedeutung der Subjektivität unserer Erfahrung in nüchterner semantischer Redeweise als Asymmetrie der Äußerungen der ersten Person Singular gegen den ganzen Rest unserer Äußerungen wiedergegeben wird.

Wir entnehmen unserer Liste exemplarischer Sätze, in welchem Maße die Wortfelder mit den Bedeutungen „schwer“ und „leicht“ einander gegensinnig zugeordnet sind. Es ist augenscheinlich, daß jeder Grad dessen, was wir schwer nennen, einen gleichsinnigen Grad des Leichten impliziert und umgekehrt. Hier ahnen wir schon, daß die Utopie einer Welt, in der allen alles leicht fällt, einem schweren Fall in den Abgrund gleichkommt.

Wir erkennen desgleichen vier Bedeutungsfelder in der Verwendung von Worten und Wendungen mit den Ausdrücken „schwer“ und „leicht“:

1.1 eine physische Bedeutung wie in den Wendungen „schwere Last“ und „leichte Fracht“
1.2 eine physische Bedeutung in Wendungen wie „schwere“ oder „leichte Krankheit“ („schwer“ im Sinne des physischen malum)
2. eine psychologische Bedeutung wie in den Wendungen „schweren Herzens“ und „Leichtsinn“
3. eine moralische Bedeutung wie in den Wendungen „schwere Schuld auf sich laden“ und „auf die leichte Schulter nehmen“ („schwer“ im Sinne des moralischen malum)
4. eine ästhetische Bedeutung wie in den Wendungen „schwerfälliger Gang“ oder „anmutig-leichte Gebärde“

Wir erkennen anhand dieses Überblicks, daß es sich beim Gebrauch der Wörter „schwer“ und „leicht“ unter der Rubrik 1.1 um den wörtlichen Sprachgebrauch handelt, denn die Schwere der Fracht eines Frachtschiffes kann in Kilogramm und Tonnen angegeben werden. Dagegen zählen alle unter den Rubriken 1.2 bis 4 aufgeführten Beispiele für den Gebrauch der Wörter „schwer“ und „leicht“ zum metaphorischen oder dem Sprachgebrauch im übertragenen Sinne, denn den Schweregrad einer Krankheit oder das Gewicht, das jemandem auf dem Herzen lastet, wenn er vor einer schwierigen Entscheidung steht, kann man nicht in Kilogramm oder Gramm wiegen, ebensowenig die Schwere einer Schuld oder das niederziehende Gewicht, von dem wir sagen, daß es einen Gang schwerfällig oder wenig anmutig macht.

1.1 Interessanterweise ist der wörtliche Sprachgebrauch, ohne den der übertragene gleichsam keinen Grund und Boden hätte, philosophisch von keiner großen Relevanz. Denn für die Erhellung unseres Selbstverständnisses und der Struktur des subjektiven Lebens sind naturgemäß metaphorische Wendungen von der größten Aussagekraft. Wir denken an Wendungen wie „Ihm war schwer (leicht) zumute“ oder „Er war erleichtert, von der Rettung seiner Angehörigen zu erfahren.“

1.2 Im physischen malum (Übel, Leid) erfassen wir den einen wesentlichen Aspekt des menschlichen Elends, dessen anderer Aspekt das moralische malum (Bosheit) darstellt. Die Heilmittel, die wir gegen das physische Elend, das uns aus Unfällen und Katastrophen, körperlichen, seelischen und geistigen Krankheiten, Siechtum und Tod erwächst, können wir nicht gänzlich beseitigen, doch mittels intelligenter Anstrengungen durch medizinische, pharmakologische und technologische Eingriffe, Mittel und Erfindungen lindern und bisweilen teilweise wie bestimmte Epidemien beherrschen.

Das physische Leid können wir einerseits in objektiven Ausdrücken wie im Schweregrad einer Krankheit erfassen, wenn wir von einer leichten Grippe oder von einem unheilbaren Krebsleiden sprechen. Auf diesem Feld gibt uns die Medizin und ihre physikalisch-chemischen Hilfswissenschaften eine große Fülle an Informationen und Theorien über die Entstehung von Krankheiten an die Hand, abgesehen von den zu Diagnosezwecken eingesetzten Geräten vom Thermometer bis zur Ultraschall- oder Röntgenuntersuchung.

Doch hätten wir andererseits keinen Begriff von Krankheit entwickelt, wenn uns niemals übel würde, wir uns nicht einmal schlecht fühlten oder nie unter Schmerzen litten. Der Begriff Krankheit ist eine begriffliche Markierung, die nur am Horizont subjektiven Lebens auftauchen kann.

Wir können darüber streiten, was wir genau und im Einzelnen unter Gesundheit verstehen wollen, ob die Abwesenheit von Krankheit oder ein Positivum wie die Harmonie der körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte, die dann übergreift in die harmonische Gestaltung des Umgangs mit anderen, aber nicht über das factum brutum der physischen Übel.

Wir müssen aber einige Klarheit über das Verhältnis von physischem und moralischem malum zu gewinnen suchen. Dabei ist augenscheinlich vielfach der physische Schaden wie die Entwendung oder Zerstörung von Dingen, die Verwundung, Verletzung und der Tod eine Folge und ein Ausdruck eines moralischen malum, nämlich von Diebstahl, Raub, Sachbeschädigung, tätlichem Übergriff, Vergewaltigung, Totschlag und Mord.

Moralisches malum impliziert physisches malum, nicht aber umgekehrt. Der Glaube, ein physisches Leid, das offensichtlich keine Folge böser Taten darstellt, als eine solche zu deklarieren, kann Symptom einer Geistesstörung wie des paranoiden Wahns sein. Andererseits kann der Glaube, ein physisches Leid, das offensichtlich keine Folge böser Taten (von Dritten) darstellt, als eine Folge eigener böser Taten oder gar Absichten (Gedanken) zu deklarieren, kann Inhalt eines religiösen Glaubens sein, wie des Glaubens der Propheten, die Übergriffe der Fremdvölker auf Judäa und Israel seien auf den Abfall der Juden vom Gott der Offenbarung zurückzuführen.

Die Moralisierung des physischen Übels ist ein gängiges Mittel der irrationalen Leidbewältigung. Wir sehen sie hier am Ursprung der Idee von der Schuld, die eine Gruppe wegen des Abfalls vom rechten Glauben auf sich geladen hat, also der Idee der Kollektivschuld, deren Bestrafung unausbleiblich auch offenkundig Unschuldige wie Kleinkinder oder Demente erwischt. Um einer Idee willen zu leiden scheint leichter zu sein als grundlos und sinnlos leiden zu müssen.

Offensichtlich ist die Tatsache, daß wir physisches Leid und Elend erfahren, eine Folge der Tatsache, daß wir ein subjektives Leben führen, denn nur die als Schmerz empfundene Schädigung und Verletzung unseres mit Nerven überzogenen Körpers erfahren wir als persönliches Leid. Eine negative Utopie der Menschheitserlösung bestünde daher im Austausch aller Exemplare der anfälligen menschlichen Gattung durch schmerzunempfindliche Roboter. Eine andere Form messianisch verkündeter Erleichterung von allem Übel will uns schlicht unter Betäubungs- und Rauschmittel oder in eine Dauerekstase ununterbrochenen Konsum- und Glücksrauschs setzen, derart, daß wir vor der Empfindung des Unzuträglichen, Unheimlichen und Schrecklichen dieses Erdenwallens wie ein Hirn in mit Drogen angereicherter Nährlösung ein für allemal bewahrt und errettet wären.

Warum können wir aber eine Welt ohne die Möglichkeit, Schmerzen und Leid zu erfahren oder anderen zuzufügen, trotz infantiler Anwandlungen von Menschheitserlösungsphantasten nicht als die beste aller Welten begrüßen? Weil in solch einer scheinbar perfekten Welt all unser Sinnen und Trachten, unser Reden und Handeln gleichgültig und sinnlos und wir der Würde der freien moralischen Existenz beraubt wären. Wir könnten einfach tun und lassen, wonach uns der Sinn stünde, Leute beleidigen, verletzen, mißhandeln, es bliebe folgenlos, als schmerzunempfindliche Monstren spürten sie nichts davon, doch ebensowenig von unseren guten Absichten und Taten. Denn dem anderen Gutes tun heißt eben, entweder sein Unglück lindern oder sein Glück befördern, doch glücklich oder unglücklich zu sein setzt die Fähigkeit voraus, Schmerz zu empfinden.

2. Bei der Verwendung psychologischer Prädikate finden wir naturgemäß die Asymmetrie der Äußerungen der ersten Person Singular zum Rest aller möglichen Äußerungen. Wenn ich beobachte, daß dir der Abschied schwerfällt oder dir eine Last von den Schultern fiel, als du von der zusätzlichen Arbeit entpflichtet wurdest, setzen meine Bobachtungssätze Aussagen der ersten Person Singular voraus, die ich über meine Empfindungen und Erlebnisse machen würde, wäre ich in derselben Lage wie du, wenn ich also Sätze wie „Mir fällt der Abschied schwer“ oder „Mir fiel eine Last von den Schultern“ in vergleichbaren Situationen äußern würde.

Wir erkennen den Sachverhalt, daß einer Person der Abschied schwerfällt, an ihrem Verhalten, ihrer Gestik und Mimik, beispielsweise daran, daß sie klagend seufzt oder den Abschied durch ständiges Weiterreden zu verzögern sucht. Wir erkennen es aber auch einfach daran, daß der Betreffende sagt: „Der Abschied fällt mir schwer“ – vorausgesetzt, wir gehen rechtens davon aus, daß er nicht nur eine höfliche Phrase von sich gibt.

Wenn dem Trauernden der Abschied von dem verstorbenen Freund oder Geliebten schwerfällt, wissen wir dies im Sinne einer Gewißheit, die uns das Erlebnis eigener Trauer erschließt. Wenn wir beobachten, daß der Trauernde auch nach Ablauf einer langen Zeit nach dem Tod des ihm Nahestehenden eine traurige Miene und die Neigung zeigt, jeden Anlaß zur leichten Unterhaltung und Zerstreuung zu meiden, wenn sich sein Gebaren wie wir sagen im Gegenteil immer weiter verdüstert, wissen wir, daß seine Trauer in Schwermut umgeschlagen ist. Schwermut und das schwermütige Befinden können wir erkennen, auch wenn wir selbst nie unter einer Depression gelitten haben, weil wir einerseits genügend Beschreibungen depressiver Verhaltensweisen und Stimmungsäußerungen zur Kenntnis genommen haben. Und weil wir andererseits in der Lage sind, unser Erlebniswissen von Trauer mittels der Kraft der Einbildungskraft dergestalt zu variieren, daß wir das Bild des Trauernden in immer dunkleren Farben malen.

Als Quell- und Ursprungsgrund unserer korrekten metaphorischen Verwendung der Redewendungen mit den Wörtern „schwer“ und „leicht“ betrachten wir das subjektive Nahefeld unserer Leibempfindungen. Als schwer empfinden wir unseren Leib, wenn wir matt und müde, erschöpft und ausgelaugt sind oder uns die nötige Spannkraft und Vitalität fehlen, den Tag beherzt anzugehen. Umgekehrt empfinden wir unser leibliches Dasein als leicht oder gehoben, wenn wir frisch und ausgeruht sind oder von großem Tatendrang beflügelt werden. Interessant ist die Beobachtung, daß wir im Zustand der Mattigkeit und Antriebslosigkeit unseren Leib allererst als Hemmnis und schwere Bürde wahrnehmen, während wir im Zustand gehobener Stimmung und guter Laune ihn kaum eigens als solchen wahrnehmen.

Ausgehend von der gleichsam leibhaften oder leibgebundenen Bedeutung von Schwere und Leichtigkeit ermessen wir nach und nach den wahren Sinn der Rede von der Schwere des Schicksals, das uns als leiblich Existierenden unaufhebbar aufgebürdet und zugemutet ist. Wir nennen Kultur jene Erfindungen und Techniken, die uns die Schwere des Schicksals erleichtern. Doch können wir den letzten schweren Abschied, den Tod, bisweilen herausschieben, aber nicht aufheben.

Bei jenen Dingen, die uns leicht- oder schwerfallen, wie Kopfrechnen, Balancieren, Schachspielen oder eine Fremdsprache erlernen, sprechen wir von Fertigkeiten, die wir mittels Übung erlernen und mangels Übung verlernen können. Wir können eine Fertigkeit sowohl spielend leicht erlernen oder uns nur schwer und mühsam aneignen als auch eine Fertigkeit mit Leichtigkeit und Gewandtheit ausüben oder nur schwerfällig und unzulänglich beherrschen. Wir können leicht kopfrechnen, auch wenn wir im Moment nicht kopfrechnen, sondern etwas anderes tun. Dagegen kann uns nicht schwer oder leicht zumute sein, wenn uns im Moment leicht oder schwer zumute ist.

Die adverbiellen Bestimmungen „schwer“ und „leicht“, mit denen wir unsere Fähigkeit, eine Fertigkeit auszuüben, beschreiben, können wir durch synonyme oder gleichsinnige Prädikate wie mühsam, langsam oder stockend, gewandt, schnell oder flüssig ersetzen, ohne daß sich ihre Bedeutung grundlegend ändert. Dagegen nehmen die psychologischen Prädikate „schwer“ und „leicht“, wenn wir sie durch analoge Ausdrücke ersetzen, eine neue Bedeutungsfarbe oder Nuance an. Wenn ich sage „Der Abschied fiel ihm schwer“, meine ich etwas anderes, als wenn ich sagte „Er zögerte den Abschied hinaus“ oder „Er blieb unschlüssig an der Tür stehen.“

3. Der moralische Sinn, auf den wir mit Wendungen wie der Schwere einer Schuld oder des Leichtsinns im Umgang mit Mitmenschen, allen voran solchen, die uns anvertraut sind oder denen wir im Kontext institutioneller Regeln verbunden sind, abzielen, erschließt uns die Welt der Verbindlichkeiten und Verpflichtungen, die wir uns und einander als Bürden auferlegen oder deren Last wir uns in berechtigter oder unerlaubter Weise entledigen.

Was die physische Schwerkraft im Reich der Natur, könnte man pointiert sagen, ist die moralische Schwerkraft im Reich unseres sittlichen Umgangs. Mit dem einen Unterschied, daß wir im Reich der Sittlichkeit in selten Ausnahmefällen die Aufhebung dieser Schwerkraft bewirken oder zu bewirken guten Willens sind, nämlichen in Akten der Vergebung und Verzeihung, rechtsförmig in Akten der Begnadigung.

Die unaufhebbare sittliche Tatsache der Schuld entspringt aus der unaufhebbaren Schwäche der menschlichen Natur, die zwar durch moralische Übungen wie die Übung des Gerechtigkeitssinns von Kindesbeinen an einer gewissen Entwicklung und Reifung zugeführt werden, aber vor den Verstrickungen nicht endgültig bewahrt werden kann, zu denen sie die Überwältigung durch die primären Emotionen des Zornes, des Neids und der Eifersucht immer wieder verleitet.

Betrachten wir dies am Bespiel des Zorns, von dem das abendländische Grundbuch, die homerische Ilias, handelt. Im Zorn steht der Erzürnte wider ein als Unrecht und Schädigung empfundenes Geschehen auf und meldet zugleich seinen Anspruch oder sein Recht auf Entschädigung und Wiedergutmachung an. Mit dem Anspruch, den der Zorn an den Urheber seiner Verstimmung anmeldet, wohnen wir gleichsam der Entstehung der Institution des Rechts bei. Nun fühlt sich der heroische Protagonist des homerischen Epos, Achill, von dem Heerführer der Griechen, Agamemnon, um seine Beute, das Sklavenmädchen Briseis, betrogen. Weil ihm dieser vermeintliche oder berechtigte Anspruch verwehrt bleibt, zieht er sich schmollend und grollend vom Kampfgeschehen vor Troia zurück und beraubt seine Kampfgenossen der stärksten Heeresmacht. Seine Schuld beginnt und steigert sich nach und nach, als einerseits seine Verweigerung zu immer größeren Verlusten im Heer der Griechen führt. Andererseits läßt er sich zwar dazu herab, dem Kampfgenossen und Freund Patroklos seine mit magischer Macht versehene Rüstung auszuhändigen, doch für dessen schmerzlich empfundenen Tod nimmt er eine unverhältnismäßige Rache, indem er wieder in den Kampf zieht und nicht bloß den Haupthelden der Trojaner, Hektor, tötet, sondern in sittlich empörender Form seinen Leichnam schändet und mit seinem Wagen um das Grabmal des gefallenen Freundes schleift. Die Schmach und Schuld, die Achill auf sich geladen hat, wird ihm erst die gnädige Geste wenn nicht abwaschen, so doch mildern, mit der er dem greisen Vater des Getöteten, Priamos, die Erlaubnis erteilt, den Leichnam seines Sohnes zu bergen und würdevoll zu bestatten.

Wir erkennen einerseits, daß der Rechtsanspruch aus der Natur der menschlichen Subjektivität entspringt, ist doch ihr nacktes leibliches Dasein Zudringlichkeiten und Verletzungen ausgesetzt, die ihr andere mit böswilliger Absicht zufügen können. Wir erkennen andererseits, daß die Schuld, die der Zornige auf sich lädt, nicht in der Anmeldung seines Rechtsanspruchs auf Entschädigung besteht, sondern in der unverhältnismäßigen Form, mit der er sie eintreibt, wie der Rache, zu der der Zorn immer wieder inspiriert.

Wir weisen noch auf ein anderes bedeutendes Literaturdenkmal hin, das den Zusammenhang von Zorn und Rache auf der einen Seite und die Problematik der rechtlichen Zügelung der Rache in der Fehde durch die Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols auf der anderen Seite in dramatisch grellen Farben vor Augen führt: Heinrich von Kleists Erzählung Michael Kohlhaas. Weil ihm der selbstherrliche und raubritterähnlich hausende Junker von Tronka zwei Pferde unrechtmäßig requiriert und halb zu Tode schindet, rennt der Roßhändler Kohlhaas durch die Lande, die Amtsstuben und Höfe, sich Wiedergutmachung des erlittenen Schadens zu verschaffen. Dabei stößt er auf taube Ohren und gerät in ein Labyrinth von Intrigen und Korruption, das ihn an der staatlichen Gerechtigkeit verzweifeln und in einen Rachefeldzug von so ungeheurem Ausmaß stürzen läßt, daß er nicht nur das Nest des Raubritters samt Bewohnern niedermacht, sondern ganze Ortschaften und halbe Städte wie Wittenberg in Schutt und Asche legt. Das freie Geleit nach Dresden, das ihm Martin Luther erwirkt, um dort seine Sache vor Gericht auszutragen, wird schändlich von der Obrigkeit in den Wind geschlagen, nur das Eingreifen des Gegenspielers der sächsischen Macht, des Kurfürsten von Brandenburg, bringt dem Rachengel am Ende Genugtuung. Doch wäre Kleist nicht der geniale Dramatiker, aus dessen Feder Werke wie Der Prinz von Homburg und Der Zerbrochen Krug flossen, würde nicht die sich anbahnenden Versöhnung durchkreuzt. Denn der Roßhändler legt nur scheinbar mit seinem Schicksal und dem Todesurteil versöhnt, das über ihn nach geltendem Recht seiner Untaten wegen erging, den Kopf aufs Schafott. Sterbend noch füttert er den unersättlichen Geist der Rache mit einem geheimnisvollen Blatt, das eine Prophezeiung enthält, die das Schicksal seines Feindes, des Kurfürsten von Sachsen, und seine Herrschaft betrifft.

Kleist zeigt den inneren Zusammenhang von Zorn und Anspruch des Geschädigten auf Kompensation, jenem Rechtsgefühl, das wir am Ursprung des Rechts in Anschlag bringen. Er geht auch der Spur der Schuld bis zu ihrem Anfang nach, wo sie sich als Folge des in Rache überschlagenden Zorns darbietet. Die heilsame Wirkung der staatlichen Gewalt, die dem Zornigen die Rache gleichsam abnimmt und in den kanalisierten Strom der gerechten Strafe umlenkt, kommt hier zu spät. Die Institution des Rechts aber sollte den natürlichen Anspruch auf Vergeltung durch besonnen abgewogene Strafmaßnahmen dem Einzelnen von der Schulter nehmen, sodaß er im Austrag seines Zornes nicht verwildert.

Die tragischen Verstrickungen, durch die wir auch wider Willen mehr oder weniger schwere Schuld auf uns laden, ergeben sich aus der Unvereinbarkeit von Neigungen und Ansprüchen, die wir an andere und andere an uns stellen. So vermag die neurotische Mutter den Liebesanspruch des Kindes nicht zu erfüllen, das autistische Kind nicht den Anspruch der Mutter auf die gebührende Achtung ihrer fürsorgenden Rolle. Der von seiner Karriere Besessene opfert die leidenschaftliche Liebe eines schlichten Mädchens und heiratet eine Tochter aus gutem, sprich vermögendem Haus. Die Zurückgewiesene rächt sich unwillkürlich, indem sie das von ihrem Verräter gezeugte Kind vernachlässigt, und dieses muß das Ressentiment seiner Mutter ein Leben lang mit sich herumschleppen.

Nur in den seltensten Fällen sehen wir Akte der Vergebung und Verzeihung zu echter moralischer Befriedung und seelischer Versöhnung führen. Wird das vernachlässigte Kind der Mutter, die sich ihm ruckhaltlos offenbart und ihre unfreiwillige Schuld an ihr eingesteht, in der Lage sein, ihr zu vergeben und sich mit seinem Schicksal zu versöhnen? Kann sein durch Krankheit, Zurückweisung oder Vereinsamung beschwertes Dasein ohne Ranküne und Groll nur annehmen, dem sein im Dunklen der ungelebten Augenblicke verwilderter Liebesanspruch durch das Licht der Gnade erhellt wird? Was wir einem Menschen als Wert und Würde zuzusprechen bereit sind, läßt sich an der Art und Zahl der Verletzungen und Wunden bemessen, die ihm unschuldig-schuldig zugefügt wurden und die er soweit er es vermag mit Würde oder nicht ganz würdelos trägt.

4. Den ästhetischen Sinn unserer Rede von einem schwerfälligen Gang und einer graziösen Leichtigkeit können wir mit ästhetischen Kategorien wie Rhythmus, Gleichgewicht, Ebenmaß, Anmut und Schönheit auffüllen. Wir bemerken, daß der schleppend, stockend und schwerfällig Dahergehende den inneren Schwerpunkt und das Gleichgewicht seiner Bewegungen, vielleicht aufgrund von Zerstreutheit oder Mißstimmung, verloren hat, wodurch die ganze Erscheinung wie aus dem Lot gerutscht und unrhythmisch wirkt. Das wird uns augenscheinlich schon an der Art, wie einer sitzt, ob er auf dem Stuhl wie zusammengesackt und ohne Halt gleichsam zerläuft oder so, als wäre er leicht wie eine Marionette vom Schnürboden her ein wenig in die Höhe gehoben.

Was uns die Leichtigkeit der graziösen Bewegung und Geste, der feenhafte im Rhythmus zerfließende Hauch der dichterischen Rede oder die auf der Leinwand wie auf dem Wasser schwebenden Blumen des Stillebens zur Anmutung bringen, ist die Illusion der Aufhebung der physischen und moralischen Schwere. Illusion, die uns von der Last des Gedankens, daß uns die Schwere des Daseins endlich und endgültig zur Erde niederziehen wird, um darin für immer zu ruhen, für den Augenblick einer kleinen Entrückung vergessen läßt.

Schönheit lächelt uns im Blick, der von Eitelkeit nicht getrübt ist. Sie gleicht dem jungen Mann, vom dem Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater spricht: Er gewahrt sich, da er den nackten Fuß auf einen Schemel setzt, im Spiegel und entdeckt die verblüffende Ähnlichkeit seiner anmutigen Gebärde mit der Haltung der antiken Plastik des Dornausziehers. Doch sobald er von seinem Spiegelbild befangen, die Geste dem neugierigen Erzähler wieder vorführen möchte, gelingt es ihm nicht mehr und das Zuviel an Selbstgefühl oder die Eitelkeit hat die unwillkürlich wirkende Anmut der Gestalt verzerrt und ins Komische abgleiten lassen.

Da wir uns nicht nur mit Taten, sondern auch mit Worten unaufhaltsam ins Unrecht setzen und wie man den Spruch des Anaximander abwandeln könnte durch ein zuviel oder zuwenig Gesagtes schuldig werden, auch wenn wir nicht fluchen oder verleumden und lügen (denn jedes ausgesprochene Wort ist gleichsam ein dürftiger Ersatz und eine Verdrängung dessen, was klarer, genauer, wahrer hätte gesagt werden können), erfüllt uns in der großen Dichtung die Leere der Stille, die hinter den Worten wie das Blau des Himmels zwischen den Wolken aufblitzt, mit jener seltsamen Illusion, als wäre noch nichts Gravierendes geschehen und das Leben würde uns unversehrt im Stande der Unschuld lächeln.

 

 

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