Philosophische Konzepte: Reden
Wir reden miteinander und es gibt kein Reden und keine Rede, die nicht demjenigen, der sie vernimmt und der sie vernehmen soll, dasjenige zu übermitteln sucht, was der Redende zu sagen beabsichtigt. Wir hegen aber die unterschiedlichsten Absichten mit unserem Reden: Wir möchten plaudern, tratschen, uns unterhalten, wir wollen schildern, berichten, informieren, wir wollen uns rechtfertigen, eine Anschuldigung zurückweisen, ein Fehlverhalten verschleiern, wir möchten etwas zu tun vorschlagen, empfehlen oder davon abraten.
Die Art und Weise, wie wir reden, ist eine Funktion der sozialen Rolle, die wir dem Hörer oder Gesprächspartner gegenüber einnehmen (sowie vice versa dessen sozialer Rolle uns gegenüber) und der Situation, in die unser Reden eingebettet ist: Die Mutter tröstet das Kind, der Vater rät dem Sohn, etwas zu tun oder zu lassen, der Offizier befiehlt dem Untergebenen. Manches Wort verhallt mit der Luft, die es ans Ohr des Hörenden trägt, wie die Bitte des Bettlers an der Straßenecke, ein anderes wirkt kraft der Autorität des Redenden unmittelbar wie das Wort des Priesters oder Standesbeamten bei der Eheschließung, durch das die Ehe in Kraft tritt, und wie das Wort des Diktators, durch das der Krieg erklärt wird, oder es wirkt kraft der eindeutigen Situation des verbalen Schlagabtauschs wie die Beleidigung des Gegners, durch die eine Fehde oder tätliche Auseinandersetzung in Gang gesetzt wird.
Mit Worten können wir redlich und bieder unsere Absichten kundtun oder tückisch und verschlagen unsere wahren Absichten hinter der Wortmaske wohlmeinenden und heuchlerischen Geschwätzes verschleiern.
Wir können unsere wahre oder scheinbare Redeabsicht dem Adressaten mit Hilfe einer Eingangssequenz signalisieren, indem wir unsere Absicht, einen Rat zu erteilen, einleiten mit den Worten „Ich rate dir“, unsere Absicht, ihm ein Versprechen zu machen, einleiten mit den Worten „Ich verspreche dir“ oder unsere Absicht, ihm ein Versprechen abzunehmen, einleiten mit den auffordernden Worten „Versprich mir“.
Der Ort der Rede im Leben ist uns durch das persönliche Schicksal in Gestalt der Muttersprache und der kulturellen Herkunft vorgezeichnet. Wir sind als Deutsche Bayer, Hesse, Sachse oder Friese – sie alle verständigen sich dank der Entwicklung zur deutsche Hochsprache im Gefolge von deutschem Humanismus, Luthers Bibelübersetzung und der einmal durch Schullektüre selbstverständlichen Inokulation der Sprache der Klassiker auf die alten regionalen Sprachäste und Sprachstämme in einem mehr oder weniger kultivierten und gepflegten Neuhochdeutsch. Doch wie die zunehmende Verwahrlosung der Hochsprache durch ungezügelte Übernahme englischer oder pseudoenglischer Begriffe zeigt, kann und wird es nie eine Lingua franca oder Lingua universalis der zwangsglobaliserten Menschheit geben können, weil man in dieser nicht reden kann, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Nur der Anglist und derjenige, der länger im englischsprachigen Raum gelebt hat, kann englisch reden, ohne das zu Sagende zuvor deutsch gedacht zu haben, kann englisch reden, weil er englisch zu fühlen und zu denken begonnen hat.
Im Weltbürgerkrieg dieses Jahrhunderts geht es auch um das Recht jedes Volks und jedes Volksgenossen, so reden zu können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, um das Recht auf die eigene Sprache, das eigene Land, die eigene Kultur. Intellektuelle Bonzen und bürokratische Apparatschiks, deren Lippenbekenntnis Diversität heißt, die aber selbst nur ein monotones Kauderwelsch ohne Macht des Bilds, ohne Duft der Nuance daherreden, fördern in Wahrheit und Tat mit Hilfe aufs Mittelmaß geschorener Einheitscurricula und stromlinienförmig gebürsteter Medien das Entstehen eines kulturell grauen Einheitsbreis und eines hoffnungslos ausdrucksarmen Esperantos politisch korrekt kastrierten Jargons, gegen den der sich seinen regionalen und nationalen Überlieferungen verpflichtet wissende Dichter mit dem Eigensinn seines individuellen Redens und Schreibens Einspruch erhebt.
Gewiß kann der Bayer oder Hesse sich als Tourist auf der nordfriesischen Insel oder etwa der britischen Insel Man (von den Hebriden zu schweigen) einmal auf Hochdeutsch einmal mit seinem Schulenglisch nach der Wetterlage erkundigen, das wird knapp und stichwortartig über die Bühne gehen. Doch wird er niemals wie der Friese oder der Brite mit seinesgleichen über das Wetter plaudern, spekulieren und sinnieren können. Schon hier berühren wir demnach die Grenze der mündlichen Verständigung, die durch das Schicksal der Herkunft scharf gezogen wird: das Schicksal Insulaner, Friese oder Brite zu sein. Andererseits wird ein Rinderzüchter auf dem schottischen Hochland sich eher mit einem schwarzen Farmer der Bantu, wenn dieser denn über genügend Brocken Englisch verfügt, über ihre ländliche Lebensweise verständigen können als der Hamburger Hafenarbeiter mit dem feinen Schnösel aus Blankenese, und sie werden sich beim gemeinsamen Fischessen bald anschweigen. Die Greisin aus Dresden, die die Apokalypse der Stadt bei Kriegsende miterlebt hat, und die hippe Bankerin aus dem Frankfurter Westend, was hätten sie groß miteinander zu bereden, was denn letztere mit der kurdischen Putzfrau, die abends ihren Schreibtisch in der Bank wischt? Wieviel schicksalhafte Begrenzung der mündlichen Rede in der Zugehörigkeit zu Rasse und Geschlecht, zu den Altersklassen, zu sprachlichen, religiösen und kulturellen Herkünften, aber auch in dem Unterscheid von strotzender Gesundheit und geistiger oder körperlicher Versehrtheit steckt, wollen wir nur benennen, nicht vertiefen.
Der Ursprung des Redens liegt naturgemäß in der intimen oder Nahkommunikation der Familie. Dabei ist der Zusammenhang von Gesichts- und Stimmerkennung entscheidend: Die Stimme der Mutter, die mir schon als Embryo vertraut wird, verknüpfe ich mit dem Bild ihrer Gesichtszüge. Die „gute“, das heißt für uns wohlklingende und wohlwollende Stimme der Mutter ist das auditive Muster, an dem wir Vertrauen lernen: Diese Stimme kann nichts Böses, Heimtückisches, Irreführendes, Falsches verlautbaren – das ist der Grundgedanke. Wird dieses Vertrauen gestört oder zerstört, wenn die gute Stimme immer wieder umschlägt und etwas Böses sagt, also das Kind schilt, beschimpft, anschreit, kann das bisweilen pathogen wirken und eine schwere oder untragbare Bürde für den Heranwachsenden darstellen, die seine intimen Kontakte ein Leben lang zu beeinträchtigen vermag. Wir halten auch die Annahme, eine Diskrepanz zwischen Stimme und Gesicht, eine Verzerrung zwischen der Absicht, die das Gesicht und der Blick, und der Absicht, die die Stimme ausdrückt, könne desgleichen pathogen wirken, nicht für völlig aus der Luft gegriffen. Denn sicher wirkt der Eindruck des „lieben Gesichts“, aus dem eine „böse“ Stimme erschallt, wie auch umgekehrt der Eindruck der Diskrepanz von schmeichelnder Stimme und eines von Wut und Haß verzerrten Gesichts sinnverwirrend und desorientierend auf das Kind.
Wir sprechen von einem offenen Gesicht, wenn Stimme und Mimik, Sagen und Blicken harmonieren; von einem larvierten, maskierten, undurchdringlichen Gesicht, wenn die Mimik die Stimme nicht begleitet, sondern isoliert oder wie beim sardonischen Lächeln oder spöttischen Grinsen in Frage stellt und torpediert. Indes sind wir auch in der Lage, unsere Stimme tonlos, fahl, ausdruckslos klingen zu lassen, dadurch kann sie dem Gesagten, einem freundlichen Zuspruch oder einer Ermunterung und herzlichen Beipflichtung, bis zur Karikatur und Negation zuwiderlaufen. Wiederum vermögen wir mit lustig plätscherndem Singsang und einem aufgerissenen Lachmund die Mitteilung schrecklicher und grausamer Dinge und Ereignisse ins Bodenlose und Wahnhafte zu verzerren.
Wenn wir gesprächsweise etwas schildern, berichten und erläutern, treten Mimik und Stimmführung in ihrer Bedeutung für die Kommunikation in den Hintergrund, ja sie können und sollen wie beim sachlichen Vortrag möglichst reserviert und verhalten sein. Beim mündlichen Bericht sind wir meist genötigt, auf unser individuelles Gedächtnis zurückzugreifen, das uns mit den Daten und Fakten über die erwähnten Ereignisse oder das zur Kenntnis genommene Wissen beliefert.
Hier machen wir die interessante Beobachtung, daß die mündliche Rede kein gezielt einsetzbares Speichermedium ist – im Gegensatz zur Grafik und zur Schrift. Die Rede, und sei sie noch so holprig, radebrechend und konfus, enthält in Wortschatz und Syntax natürlich einen kaum auslotbaren Schatz an Wissen, Kenntnissen und Fertigkeiten, der über alle Generationen der sprachlichen Entwicklung kollektiv angehäuft wurde. Wir erwähnen hier nur die hohe Relevanz idiomatischer Ausdrücke, die dazu dienen, bestimmte Züge und komplexe Sachverhalten des objektiven und subjektiven Daseins zu verdichten und prägnant zu machen. Denken wir an das Wortfeld von „Rede“ und „reden“, stoßen wir auf eine Vielfalt von Varianten und Varietäten: plaudern, schwatzen, tratschen, palavern, disputieren, mitteilen, berichten, schildern, ausmalen, fabulieren – um nur diese zu erwähnen.
Wesentlich sind auch all die Dinge, die wir mit und mittels Reden bewerkstelligen können, wie etwas überzeugend oder flüchtig, wahrheitsgemäß oder lückenhaft, präzise oder phrasenhaft darzustellen. Wir können in der Rede stocken, langatmig werden oder uns vergaloppieren. Wir können die Rede abbrechen, das Wort dem anderen überlassen oder sie schlicht widerrufen. Wir können die Rede auf etwas lenken, Rede und Antwort stehen, uns in Rede und Gegenrede erproben und jemanden zur Rede stellen. Wir fragen, wovon die Rede ist oder ob davon die Rede sein kann. Wir sagen, daß jemand nicht mit sich reden läßt, daß man einen, der Unsinn redet, nur reden lassen soll oder daß jemand, der etwas Bemerkenswertes ausgerichtet hat, von sich reden macht. Jemand, der dem anderen wohlfeile Ratschläge erteilt, hat gut reden, wenn er von der mißlichen Sache nicht berührt ist. Man kann viel reden, wenn der Tag lang ist, und jemandem nach dem Munde reden, wenn man keine Lippe riskieren mag.
Nie wird der Gleichgültige oder Stumpfsinnige die begeisterten Auslassungen des Verliebten oder religiösen Enthusiasten über den Gegenstand seiner Verehrung und Anbetung verstehen, nie der Geldmensch, den täglich die Börsenwerte und die Renditekurven mit den Kollegen durchzuhecheln geistig erregt, die Predigt des Zen-Mönchs über die Nichtigkeit aller menschlichen Dinge, nie der gierige Baulöwe, der auf den Hof und den uralten Garten der Bauersfrau spekuliert, ihre anrührenden Erzählungen von der schweren, aber innerlich reichen Kindheit in einer vom Geist der Ahnen gesegneten Umgebung.
Im Gegensatz zur mündlichen Rede ist die Schrift an und für sich ein Medium der Konservierung von Informationen, ein Gedächtnisspeicher. Der vor Gericht von einem Zeugen verlautbarte Bericht über den Tathergang zählt als Dokument erst, wenn er protokolliert und abgezeichnet worden ist. Das schriftliche und heutzutage leicht digitalisierbare Dokument ist nicht wie die mündliche Äußerung nur dem unmittelbaren Hörerkreis (und den Neugierigen, die sie gerüchteweise und das heißt meist verzerrt aufschnappen) zugänglich, sondern potentiell jedermann oder jedem in dem betreffenden Sprach- und Kulturkreis.
Mit der grafischen oder plastischen Darstellung, der Schrift und der schriftlichen Dokumentation entsteht die exzellente Form des Wissens, die wir Wissenschaft nennen. So erkennen wir in den keilschriftlichen Listen der alten Hochkulturen oder den in Stein gehauenen Berichten der Herrscher über ihre Taten (Res gestae) die Keimformen der Historiographie, in den steinzeitlichen Steinkreisen und Megalithen sowie der Himmelsscheibe von Nebra die Keimformen der Astronomie.
Mit der bildnerischen und schriftlichen Aufzeichnung kommt anders als beim rasch verfliegenden Hauch der mündlichen Rede der Gedanke an die Nachwelt ins Spiel, der Nachwelt, von der man aufgrund des gediegenen und wahrheitsgemäßen Gehalts der ihr vermachten Aufzeichnungen rühmend oder lobend oder mit Hochachtung genannt werden möchte. Sicher kann man als berühmter Redner nicht nur das Forum oder das Parlament zu Lebzeiten beeindrucken, aber wer rühmte heute noch die Beredsamkeit eines Cicero, hätten sich seine Reden, diese leidenschaftlichen Flammen, gebannt in kühl glänzenden, mit rhetorischen Figuren ziselierten Silberschalen, nicht in schriftlicher Aufzeichnung erhalten?
Die in den Affektstrom der Aktualität eingetauchte Rede auf das sichere Ufer der von Blicken, Erwartungen und Zumutungen des Gegenübers oder des Publikums unabgelenkten, unaufgeregten und unbestochenen Besonnenheit, Bedachtsamkeit und Wahrhaftigkeit zu retten, ist Sache des gemeinen Mannes, vulgo TV-Moderators, Volksredners und Politikers, nicht. Es ist Sache dessen, der nach Klarheit, Sachlichkeit und Objektivität strebt, Werten, derer er sich mittels schriftlicher Aufzeichnungen und ihrer geduldigen Revision und Überarbeitung bis zu dem ihm möglichen Maß der Vollendung in Diktion und Sachgehalt zu versichern bemüht.
Klarheit, Sachlichkeit und Objektivität sind Grenzwerte des Strebens nach Wahrheit, das sich über die schicksalhaften Grenzscheiden der mündlichen Rede hinwegzusetzen bemüht. Wir finden sie selten und nur bei freien, durch Selbsttäuschung und Ideologie nicht vergifteten Geistern. Diese außerordentlichen geistigen Haltungen sind nur mühsam mittels Disziplin und lebenslanger Selbstprüfung zu erringende Tugenden. Sie ragen selten als tief verwurzelte einsame Eichen über den Nebel des allgemeinen Tagesgeredes hinaus. Bei manchen gedeihen die Keime nur zu fragilen Gewächsen, die bald unter den launischen Winden des Massengeschmacks, des Drangs nach Prestige, Karriere und schnellem Ruhm in Schieflage geraten, bald von den Raupen und Motten der Selbstanfechtung, Müdigkeit und Gleichgültigkeit angefressen und entstellt werden.
Das Medium der Klarheit und Sachlichkeit ist das nüchterne Wasser der Prosa, das wie ein glatter und glänzender Spiegel die immer ziehenden Wolken der Ereignisse rein abspiegelt, wie wir es in den Werken von Herodot und Thukydides, von Sallust, Cicero und Tacitus finden. Die prägnante und lapidare Diktion der epigrammatischen Inschrift ist bei ihnen gleichsam auf den weiten Mantel der historischen Erzählung aufgestickt.
Das Wildwasser des immer regen, geschäftigen, unruhigen Redens und Geredes unseres vom Dunkel des Zweifels und des Todes gleichsam umwucherten Daseins findet niemals Genüge und Ruhe in sich selbst – es sei denn dann und wann stürzt es in den Abgrund des Schweigens.
Und dieses Schweigen kann wiederum beredt sein: Wir finden es zwischen den Zeilen der Gedichte von Goethe, Hölderlin oder Trakl. In der blauen Luft, dem blendenden Gipfelschnee oder in der Schlichtheit der auf dem blanken Tisch der unverhofften Ankunft glänzenden Gaben von Brot und Wein – in solchen Versen findet die von Leid und Leidenschaft bedrängte und aufgewühlte Rede ein nicht weiter über sich hinaus fragendes Innehalten, ein sanft in sich zitterndes Verweilen oder eine stillende Berührung, wie das bange Kind still wird unterm Wiegenlied.
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