Philosophische Konzepte: Müssen
Wir betrachten hier die Semantik und Grammatik des Gebrauchs des modalen Hilfsverbs „müssen“ und einiger mit ihm verwandter modaler Ausdrücke wie „nicht können“, „nicht anders können“ oder „nicht möglich sein“. Unser Ziel ist ein sprachkritisches insofern, als wir auf die sich unwillkürlich mit dem Gebrauch solcher modaler Ausdrücke einschleichenden begrifflichen Mißverständnisse und Konfusionen hinweisen und die sich daraus ergebenden Begriffs-Mythen freilegen wollen.
Gehen wir von folgenden Beispielsätzen aus:
1.1 Jeder Mensch muß sterben.
1.2 Weil es dem Bergsteiger nicht möglich war, Halt zu finden, mußte er abstürzen.
1.3 Der Fahrer konnte dem entgegenkommenden Fahrzeug nicht mehr ausweichen und verursachte einen Unfall.
1.4 Er konnte nicht in Hamburg sein, weil er zu dieser Zeit in München war.
Die Tatsache, daß wir alle einem sicheren Ende entgegengehen, können wir unter Vermeidung des modalen Hilfsverbs „müssen“ so ausdrücken:
2.1 Jeder Mensch wird sterben.
2.2 Alle Menschen sind sterblich.
2.3 Wir wissen, daß alle Menschen sterben werden.
Wir verschaffen uns Klarheit über den epistemischen Status dieser Sätze, wenn wir die in ihnen enthaltene generelle Annahme offenlegen:
3.1 Wir wissen, daß alle Menschen, die bis vor hundert Jahren gelebt haben, gestorben sind.
3.2 Daraus schließen wir, daß auch wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sterben werden.
Der Satz, daß alle Menschen sterblich sind und sterben müssen, ist eine generelle Gesetzeshypothese, die wir aus einem allgemeinen Erfahrungssatz, zu dem wir keinen Ausnahmefall kennen, schlußfolgern. Der Charakter des Zwangs, den das modale Hilfsverb ausdrückt, bezieht sich demnach auf die eigentümliche logische „Nötigung“, die wir empfinden, wenn wir einen Schluß dieser Art ziehen. Entgegen allem Anschein drückt das Modalverb „müssen“ also keine naturgesetzliche Notwendigkeit, sondern einen grammatikalischen Zwang aus.
Wir sehen dies noch deutlicher, wenn wir eine letzte Umformung unseres Beispielsatzes vornehmen:
Wenn es wahr ist, daß alle Menschen sterblich sind und ich ein Mensch bin, folgt daraus, daß auch ich sterben werde.
In dieser Umformung haben wir die Bezugnahme auf gesetzesförmige Aussagen und generelle Erfahrungshypothesen vermieden und den Satz direkt als logischen Schluß aus als wahr angenommenen Prämissen abgeleitet. Den Modalausdrück „müssen“ können wir auf diese Weise gänzlich vermeiden.
Welche Auswirkung auf den Begriff des Menschen hätte die Annahme, daß nicht alle Menschen sterblich sind, falls wir damit meinen, daß es Menschen gegeben hätte, die zwar gestorben sind, aber hernach wieder zum Leben erwacht oder erweckt worden sind? Es ist diese Annahme ja der zentrale Lehrinhalt des christlichen Glaubens, wonach Christus gestorben und auferstanden ist. Und an diesem Glaubensartikel ersehen wir auch, daß eine Änderung des wesentlichen Merkmals der Sterblichkeit eine Änderung des Begriffs vom Menschen nach sich zieht: Denn Christus ist dem Credo gemäß nicht nur Mensch, sondern zugleich auch Gott. Der Begriff Mensch wird aufgrund dieser begrifflichen Modifikation im Falle Christi durch den Begriff Gott-Mensch und im Falle der getauften Christen durch den Begriff des neugeborenen Menschen abgelöst.
Wenn sich die Eigenschaft des Gott-Menschen, ein zukünftiges Leben zu haben, gemäß dem Credo auf alle Menschen überträgt und sie dergestalt neue Menschen werden, zieht dies augenscheinlich für den allgemeinen Begriff vom Menschen eine begriffliche Modifikation nach sich. Wir fragen: Wird infolge solcher begrifflicher Modifikationen der bisherige Begriff vage und porös, wie es der Philosoph Friedrich Waismann nannte, oder handelt es sich um einen neuen Begriff? Handelt es sich sogar um ein Paradox, das Paradox des Sprungs in den Glauben, wie es der religiöse Schriftsteller Sören Kierkegaard nannte?
Das Paradox hat folgende logische Form:
Wenn es wahr ist, daß der Gott-Mensch gestorben und auferstanden ist und ich durch den Glauben an seiner Auferstehung teilhabe, dann werde ich sterben und doch nicht sterben.
Doch zugleich sterblich und nicht sterblich zu sein, heißt nicht sterben zu „müssen“ und dann wieder leben zu „können“. Was wir fälschlich mit den modalen Hilfsverben als objektive Notwendigkeit und objektive Möglichkeit mißverstehen, ist nichts weiter als der Druck und Abdruck der logischen Eigenschaften, die sich aus der Festsetzung des eingeführten Begriffs oder des modifizierten Begriffs vom Menschen ergeben.
Das Beispiel der begrifflichen Modifikation am Begriff des Menschen infolge der Einführung des Begriffs vom Gott-Menschen oder vom neugeborenen Menschen weist uns darauf hin, daß selbst fundamentale oder Stammbegriffe unseres alltäglichen Verstehens aufgrund nicht vorhersehbarer Einwirkungen gleichsam in einen anderen Sinnzusammenhang getaucht oder neu umbrochen werden können, sodaß sich die scheinbare Notwendigkeit, an die sie bisher gekettet schienen, von selbst auflöst.
Wir erinnern an die Dualität des physikalischen Begriffs vom Licht: Der ursprüngliche Begriff des Lichts als materielle Substanz (Korpuskulartheorie) wurde durch eine neue Konzeption aufgrund seiner Eigenschaft als Welle in einen neuen Sinnzusammenhang getaucht, in dem seine Definition oder Begriffsbestimmung geradezu die Form eines Paradoxes angenommen hat.
Ein anderes Beispiel für die Vagheit des Begriffs und die Schwierigkeit in der Verwendung modaler Ausdrücke wirft die Frage auf, ob man den Begriff Mensch auf jene Träger personaler Identität einschränken soll, die ein Bewußtsein dieser Identität haben und demnach sagen können „Ich bin jetzt hier“? Oder sollen wir wie es moralisch geboten scheint den Begriff auf alle ausdehnen, die wie man sagt ein solches Bewußtsein haben können wie Embryonen oder ein solches Bewußtsein hatten wie schwer Demente oder komatöse Patienten, von denen man sich wie man gleichfalls sagt vorstellt, daß sie ihr Bewußtsein wiedererlangen könnten? Das führt uns dazu, die Vagheit infolge der Anwendung modaler Ausdrücke zu verringern oder zu vermeiden, indem wir den Begriff Mensch erweitern und auch vor- und unbewußte sowie vorsprachliche mentale Zustände in das Definiens einbeziehen, sodaß die bewußte Äußerung der singulären Indikation „Ich bin jetzt hier“ nur eine Bestandteil des Begriffs neben anderen darstellt.
Worauf wollen wir mit diesen künstlich anmutenden Überlegungen hinaus? Darauf, gewisse scheinbar unausweichliche gedankliche Projektionen oder Mythen, die mit dem alltäglichen Gebrauch von modalen Ausdrücken wie „müssen“ einhergehen, bloßzulegen.
Verdeutlichen wir dies an unserem nächsten Beispielsatz: Weil es dem Bergsteiger nicht möglich war, Halt zu finden, mußte er abstürzen. Dieser Satz ist gleichbedeutend mit folgendem Satz, in dem wir die modalen Ausdrücke „nicht möglich“ und „mußte“ vermeiden:
Aufgrund des losen Seils fand der Bergsteiger keinen Halt und stürzte ab.
Wenn wir uns allerdings so ausdrücken, daß es dem Bergsteiger nicht möglich war, Halt zu finden, unterstellen wir zumeist, daß er unter anderen Umständen die Möglichkeit gehabt hätte, Halt zu finden und nicht abzustürzen. Wir suggerieren mit dieser Ausdrucksweise, es gebe irgendwo ein Reich des Möglichen, das sich vom Reich des Wirklichen, in dem wir uns vorfinden, unterscheidet wie die Schatten von den Dingen, die sie werfen. Und als wäre das Unmögliche nicht bloß wie ein Schatten des Wirklichen, sondern wie der geraubte und fehlende Schatten, demzufolge es auch das Ding, das ihn werfen könnte, nicht gibt. Aber das scheint pseudometaphysischer Unsinn zu sein.
Der Bergsteiger hat, als er abstürzte, nicht die Möglichkeit gehabt und leider verspielt, sich trotz allem zu halten und nicht abzustürzen. Wir glauben dies gleichwohl aufgrund der gedanklichen Projektion, zu der uns die modalen Hilfsverben „nicht möglich sein“ und „müssen“ verleiten. Auf diese Weise kommen wir zu der sonderbaren Annahme, daß die Möglichkeit des Haltfindens greifbar nahelag, aber vertan wurde und die durchkreuzte Möglichkeit oder die Unmöglichkeit, Halt zu finden, durch das zusammengesetzte Verb „mußte abstürzen“ sinnfällig wird.
Doch die Projektion löst sich auf, wenn wir unseren Beispielsatz auf folgende Weise formulieren:
Wenn es wahr ist, daß alle Bergsteiger ohne Halt abstürzen und dieser Bergsteiger keinen Halt mehr fand, folgt daraus, daß er abstürzte.
Auf diese Weise haben wir gleichsam den Mythos von der objektiven Notwendigkeit im Licht der grammatisch-logischen Form aufgelöst und den scheinbar objektiven Zwang, den das Hilfsverb „müssen“ suggeriert, auf den logischen „Zwang“ einer schlichten Schlußfolgerung zurückgeführt.
Kommen wir zu unserem dritten Beispielsatz: Wenn der Fahrer dem entgegenkommenden Fahrzeug nicht ausweichen konnte und so einen Unfall verursachte, werden wir durch den modalen Ausdruck „nicht können“ oder auch „nicht anders können“ dazu verleitet, das Verhalten des Fahrers mit dem Verhalten der Fruchtkapsel eines Springkrauts zu vergleichen, die aufgrund der kausalen Einwirkung einer Berührung aufspringt und ihre Samen herausschnellen läßt. Doch das Verhalten des Fahrers erklären wir nur vordergründig kausal, in letzter Instanz aber intentional. Denn sollte der Fahrer beispielsweise betrunken gewesen sein, wird er für den von ihm durch den Unfall verursachten Sach- und Personenschaden haftbar gemacht und zur Verantwortung gezogen.
Daraus ersehen wir den grundlegenden semantischen Unterschied folgender Sätze:
4.1 Aufgrund der Berührung sprang die Fruchtkapsel des Springkrauts auf.
4.2 Aufgrund seiner Unaufmerksamkeit verursachte der Fahrer einen Unfall.
Wir sagen in terminologischer Verdichtung: Den natürlichen Vorgang an der Pflanze erklären wir aus der Disposition der Fruchtkapsel, unter der kausalen Wirkung einer Berührung aufzuspringen. Das Verhalten des Fahrers erklären wir einerseits aus der kausalen Wirkung des Alkohols auf seine verminderte Aufmerksamkeit und andererseits intentional aus der Absicht des Fahrers, Alkohol zu sich zu nehmen, die ihrerseits der kausalen Wirkung des Alkohols zeitlich und logisch vorausging.
Wenn wir durch den Gebrauch des modalen Hilfsverbs „nicht können“ suggerieren, daß der Fahrer unter der Wirkung des Alkohols und aufgrund getrübten Bewußtseins nicht umhin konnte, den Unfall zu verursachen, sitzen wir einem Mythos auf, der dem Mythos gleicht, den uns neurowissenschaftlich konfundierte Philosophen erzählen, wenn sie uns weismachen wollen, unser Bewußtsein und unser Verhalten seien identisch mit der Wirkung gewisser neuronaler Vorgänge: Wie das getrübte Bewußtsein des Fahrers durch die Wirkung des Alkohols erklärt werden kann, so unser Bewußtsein überhaupt durch die Wirkung von Neuronen, Transmittern und Hormonen.
Diesen Mythos können wir in Gestalt der folgenden logischen Form auf die Hörner nehmen:
Wenn es wahr ist, daß unser Bewußtsein vollständig als Funktion des Gehirns erklärt werden kann, komme ich nicht umhin, was immer ich denke, sage und tue, zu denken, zu sagen und zu tun.
Im Gebrauch des modalen Ausdrucks „nicht umhinkönnen“ ertappen wir den Mythos auf frischer Tat. Doch brauchen wir nur die Wahrheit der Prämisse in Frage zu stellen, um uns aus der Zwangsjacke dieses neuesten Mode-Mythos zu befreien.
Abschließend ein kurzer Kommentar zu unserem letzten Beispielsatz: Sicher können wir nicht gleichzeitig in Hamburg und in München sein. Aber können wir das nicht, weil wir uns nicht zweiteilen können? Scheitern wir mit unserem Unvermögen, nicht gleichzeitig an zwei Orten zu sein, an natürlichen Tatsachen? Das klingt absurd und ist in der Tat pseudometaphysischer Unsinn.
In Wahrheit ist die Unmöglichkeit der Doppel- oder Zwillingsexistenz keine Folge unserer beschränkten natürlichen Daseinsbedingungen, sondern eine grammatisch-logische Konsequenz, die unser Begriff personaler Identität (nicht zu verwechseln mit der empirischen psychologischen Persönlichkeit) nach sich zieht. Dies erfassen wir anhand der singulären Indikation der personalen Identität in dem Satz:
Ich bin jetzt hier.
Würden wir uns gleichzeitig in Hamburg und München aufhalten, müßte der Satz lauten:
Ich bin jetzt hier und dort.
Indes schließt wie schon Klein-Hänschen weiß die Aussage, hier zu sein, die Aussage, dort zu sein, aus. Unsere gewöhnliche Redeweise, wir könnten nicht anders, als hier oder dort zu sein, suggeriert eine physische oder objektive Tatsache, als könnten wir uns eine Welt mit anderen Tatsachen denken, in der wir uns gleichzeitig in Hamburg und München aufhalten könnten oder in der es uns und unseren Doppelgänger gäbe. Doch in einer solchen Welt könnten wir aus dem einfachen Grund nicht auf unseren Doppelgänger treffen, weil wir in einer Welt, in der wir vorgeblich zugleich in Hamburg und in München sein könnten, nicht existieren würden – und dies aus semantisch-logischen Gründen gemäß unserem Begriff der personalen Identität, nicht wegen physischer Ursachen.
Daraus ersehen wir eine gewisse Fahrlässigkeit im Umgang mit dem Begriff sogenannter möglicher Welten, als gäbe es Begriffe oder Sachverhalte wie den Begriff der personalen Identität, die ungeachtet aller sonstigen Änderungen in allen Welten notwendig vorkommen oder anwendbar seien. Doch gilt der Begriff der personalen Identität nur in der Welt, in der wir leben, er bildet sogar eines der fundamentalen semantischen Merkmale dieser Welt, das sich nicht beliebig auf andere Welten oder auf beliebige andere Welten transponieren und übertragen läßt.
Comments are closed.