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Philosophische Konzepte: Kränkung

11.12.2017

Der Mensch ist das von Natur aus kränkbare Lebewesen. Wir wüßten nicht auszumachen, wie wir ein Tier beschreiben sollten, das sich gekränkt fühlte. Ein Haustier wie der Hund und die Katze mögen in uns den Eindruck erwecken, daß sie schmollen und sich gleichsam verärgert oder bekümmert wegen unseres ignoranten Betragens von uns abwenden. Aber wir würden in solchen Fällen nicht im Ernst von jenem Zustand des Gekränktsein sprechen, den Kinder zeigen, wenn sie sich gegen andere zurückgesetzt fühlen.

Der Unterschied von Tier und Mensch ergibt sich hier aufgrund der eigentümlichen mehr oder weniger starken leiblich vermittelten Selbst-Gegenwart des Menschen, Subjektivität, die ihrer gleichsam nie gänzlich sicher sein kann oder nie gleichmütig auf einen Pegel gestimmt ist. Wir finden uns vielmehr zwischen Verlegenheit und Stolz, Unsicherheit und Selbstachtung, Scham und Selbstvertrauen auf eine Skala selbstbezüglicher Affekte und Stimmungen gespannt, die auch Befindlichkeiten am Nullpunkt subjektiven Lebens wie Gleichgültigkeit, Fadheit, Langeweile und Dumpfheit einschließt.

Jemand betritt einen Saal, wo sich viele Personen zu einem festlichen Anlaß, sagen wir der Verleihung eines bedeutenden Preises an einen bekannten Schriftsteller, versammelt haben. Unser Irgendwer schätzt die Bücher dieses Mannes und so hat er sich, der ansonsten nicht gerade auf vielen Hochzeiten tanzt, dazu durchgerungen, die ihm von seinem unpäßlichen Buchhändler abgetretene Einladungskarte zu nutzen, um sein Idol einmal hautnah zu erleben. Jetzt zwängt sich der Neuankömmling durch die dichten Reihen der festlich gekleideten Menschen, die ihm die bessere Gesellschaft zu verkörpern scheinen. Vergebens hält er nach bekannten oder freundlichen Gesichtern Ausschau, bei denen er vielleicht innehalten könnte. Doch keiner hat ein Auge für ihn, er findet kein Lächeln, das ihm gälte, kein Gruß lädt ihn zum Verweilen ein, er hat im Gegenteil den Eindruck, daß die Anwesenden in ihren angeregten Plaudereien verstummen, sobald er an ihnen vorbeikommt, und ihm ungläubig oder sogar spöttisch nachblicken. Dem Gast wird beklommen zumute und er schaut verlegen um sich oder verschämt unter sich. Seine Unsicherheit wächst in dem Maße, wie er auf sich selbst achtet und sich selbst ins Visier nimmt mit Fragen wie: „Ist mein Haar in Unordnung? Ist meine Jacke fleckig? Kann ich mich mit diesen schäbigen Klamotten in solchen Kreisen blicken lassen? Bin ich hier nicht das fünfte Rad am Wagen? Sollte ich mich nicht schleunigst aus dem Staub machen?“

Wir bemerken, daß selbstbezügliche Affekte und Haltungen wie Verlegenheit und Scham eine Befragung und Bewertung der eigenen Person einschließen, die zu ihren Ungunsten ausfällt. Die Selbstbefragung übernimmt Gesichtspunkte kritischer Erwägung, die anderen Personen zugeschrieben werden. Dies geschieht meist in deren Anwesenheit, kann aber auch in einsamer Selbstbespiegelung geschehen, wenn wir uns beispielsweise an ein peinliches Vorkommnis erinnern.

Kehren wir zu unserem verlegenen Gast zurück. Mitten in dem Getümmel erblickt er ein bekanntes Gesicht, eine zwar etwas ferner stehende Bekannte, die im schicken enganliegenden Cocktailkleid gerade zwei eleganten Herren an einem Tisch mit einem Sektglas zuprostet, ihm aber erscheint dieses strahlende Gesicht wie eine rettende Insel inmitten eines Ozeans der Verlorenheit, und so steuert er wild entschlossen auf die Frau zu. Als er auf sie zutritt und sie erwartungsvoll anlächelt, ist sein Entsetzen groß, als diese Person eine steinerne Miene aufsetzt und ihn von oben herab mit den Worten abspeist: „Sie haben sich wohl in der Hausnummer geirrt!“ Der verstörte Gast bezieht diese spöttische Bemerkung auf seine nicht standesgemäße Bekleidung und die Tatsache, daß er in diesen gesellschaftlichen Kreisen nicht eingeführt ist. Hochroten Gesichts wendet er sich ab und sucht tief gekränkt das Freie.

Wir bemerken, daß Kränkungen kommunikative Akte der Demütigung darstellen, so zwar, daß der Gekränkte sie annimmt und mit seiner Reaktion des Gekränktseins bestätigt. Denn der fremde Gast hätte die unverschämte Bemerkung der Frau auch, wäre er seiner selbst sicher oder von Selbstachtung nicht gänzlich verlassen gewesen, an sich abprallen lassen oder mit einer schlagfertigen Retourkutsche parieren können. Er indes wurde rot und flüchtete mit seinem gekränkten Selbstgefühl aus der Situation.

Wir sagen, daß jemand an einer Kränkung leidet, und drücken damit den passiven Aspekt dieser Befindlichkeit aus, deren aktive Seite nicht wie bei den Gemütsregungen der Freude, des Zorns, des Ekels, des Neides oder der Eifersucht auf Seiten dessen liegt, der Freude, Zorn, Ekel, Neid und Eifersucht empfindet, sondern bei demjenigen, der durch ein Sagen oder Tun die Kränkung bewirkt. Gekränkt zu sein ist demnach ein reaktiver Affekt.

Wir bemerken, daß im Fall der Kränkung das Machtgefälle zwischen dem, der die Kränkung auslöst, und demjenigen, der sie erleidet, eine herausgehobene Rolle spielt. Dabei ist es zunächst gleichgültig, ob es sich wie bei institutionellen oder hierarchischen Machtgebilden um eine reale Macht handelt oder um eine imaginäre Instanz, die der Gekränkte als relativ machtloser oder ohnmächtiger Part seinem als überlegen angesehenen Gegenüber verleiht. So verlieh der fremde Gast der unverschämten Dame die Macht, ihn zu kränken, während der Kompaniechef die reale Macht hat, den Rekruten durch entwürdigende Befehle zu demütigen.

Im Falle, daß sich jemand aufgrund der Situation zurückgesetzt fühlt, sprechen wir vom Gefühl der Entwürdigung oder Entwertung, wie der fremde Gast sich schon angesichts der erlauchten, eleganten Gesellschaft, in die er geriet, aufgrund seiner Herkunft, seiner Armut oder seines schäbigen Aufzugs entwertet fühlen mochte.

Die angemessene Reaktion auf eine Kränkung ist der Zorn, der die Kränkung gleichsam wie einen Pfeil nicht allzu tief ins Fleisch eindringen oder das Gift der Selbstverachtung an seiner Spitze nicht ins Blut einsickern läßt. Der Zorn richtet sich gegen den Urheber der Kränkung und erhebt einen Anspruch auf Vergeltung, Wiedergutmachung oder Entschädigung. Der Zornige fällt nicht ohnmächtiger Sprachlosigkeit anheim, sondern klagt sein Recht ein. Während der gekränkte Gast, der die Gelegenheit des Zorns verstreichen ließ, sich in der Selbstzerfleischung ohnmächtiger Wut verliert.

Kränkungen sind die wunden Stellen intimer Beziehungen. Hier ist das Machtgefälle durch die ungleiche oder schwankende Verteilung in der Intensität des Liebesanspruchs oder des Begehrens definiert. Wer mehr investiert, hat mehr zu verlieren und ist deshalb gefährdeter, unsicherer, leichter kränkbar. Und wer aufgrund größeren Begehrens in größere Abhängigkeit gerät, sieht sich oft in der infantilen Position, die es ihm verwehrt, den aufgrund einer Kränkung ausgelösten Zorn dem Geliebten frank und frei ins Gesicht zu schleudern, fürchtet er doch einen weiteren Liebesentzugs. Ähnlich wie der fremde Gast sinkt der gekränkte Liebende in die sprachlose Selbstvergiftung ohnmächtiger Wut zurück. Eine für den Bestand der intimen Beziehung äußerst gefährliche Situation, kann sie doch zu abrupten Gewaltausbrüchen oder zum depressiven Rückzug dessen ausarten, der nicht mehr willens und fähig ist, seinen Liebesanspruch mit offenem Visier anzumelden, sondern seine Energie dazu verwendet oder mißbraucht, seine Wut zu verbeißen und herabzuwürgen.

Unnötige Kränkungen können manchmal dank der überragenden Kraft einer Persönlichkeit, die über die seltene Tugend gebietet, besonnen und gelassen zu agieren, vermieden oder wenn nicht aus der Welt geschafft, so doch abgemildert werden. Aber auch und gerade intime Beziehungen können Situationen entwickeln, in denen der unterlegen Liebende zwar keinen direkten Kränkungen ausgesetzt ist, aber sich aufgrund der zunehmenden Unaufmerksamkeit oder Gleichgültigkeit des überlegenen Geliebten entwertet fühlen muß.

Die Möglichkeit der Kränkung entspringt der Struktur der Subjektivität und ist demgemäß nicht aufhebbar. Eine utopische Welt ohne jedwede Möglichkeit der Kränkung, Demütigung und Entwertung, ohne Regungen des Zornes, der Wut oder Rache mag es geben, nur kann es nicht unsere Welt sein.

Kein Krieg und keine kollektiven Gewaltexzesse ohne eine vorausgehende vermeintliche oder tatsächliche Kränkung mindestens eines der verfeindeten Lager. So war der heimtückische Mord am Thronfolger und Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Gattin in Sarajevo eine nicht hinnehmbare Kränkung für das habsburgische Kaiserhaus und damit Auslöser des Ersten Weltkriegs und die als Kränkung und Demütigung empfundenen Gebietsverluste und extremen Sanktionsmaßnahmen der Siegermächte der Auslöser für den Zweiten Weltkrieg. Die als tiefe Kränkung und Demütigung empfundene militärische Präsenz der USA an den heiligen Stätten des Islam war der Auslöser der Rache durch 9/11.

Der griechische Mythos hat die Wahrheit, die aus dieser Möglichkeit unseres subjektiven Lebens entspringt, paradigmatisch dargetan. Der größte Kämpfer der Myrmidonen, Achill, fühlt sich wegen der Wegnahme seiner Beute durch den griechischen Heerführer Agamemnon gekränkt. Er reagiert mit jenem Zorn, den ihm das verletzte Ehrgefühl einflößt, und da ihm der erhobene Anspruch auf Entschädigung verwehrt wird, sinnt er auf Rache. Sein Rückzug aus dem Kampfgeschehen kostet die eigenen Leute etliche Opfer, bis der Feind endlich, wie es seine göttliche Mutter Thetis in seinem Auftrag von Zeus ausbedungen hat, ins Heerlager der Griechen einzubrechen droht. In dieser Not willigt Achill ein, seinen Freund Patroklos mit seiner Rüstung in den Kampf zu senden, um das Kriegsglück zu wenden. Der aber fällt. Hier gewahren wir den aus der Kränkbarkeit des Menschen erwachsenden tragischen Zug, wie er in den Werken der griechischen Tragiker zur Geltung kommt.

Die Tiere leben aufgrund ihres Mangels an der semantischen Ursituation des Gebrauchs der Indikatoren „ich, hier, jetzt“ und der in diese Situation einverleibten selbstbezüglichen Affekte in einer fremden, uns unzugänglichen Welt. Sie sind nicht kränkbar, sie schämen sich nicht und werden nicht verlegen, kennen weder Ehrgefühl noch Stolz. Sie sinnen nicht auf Rache und erliegen nicht schweren Gemütsverstimmungen, weil sie ihren Rechtsanspruch nicht zur Geltung bringen können oder ihre Wut unterdrücken.

Die klassische Anthropologie von Herder bis Gehlen glaubte, die kulturellen Leistungen des Menschen vom Werkzeuggebrauch über die Institutionen des koordinierten Handelns bis zur Sprache als Organersatz und Kompensation der Hilflosigkeit und Verletzlichkeit der menschlichen Natur erklären zu können. Aber uns scheint sie damit auf der falschen Fährte zu sein. Denn wie wir sahen ist die Verletzlichkeit ein Positivum und wesentliches Merkmal der Natur des Menschen als eines subjektiven Daseins.

Mag Besinnung den Kränkenden zu Mitgefühl und der Bitte um Verzeihung befähigen oder dem Gekränkten durch Distanznahme aufhelfen und ihm ein Pflaster für seine Wunde bereithalten. Doch kann nur Gnade uns der fatalen Verstrickung von Kränkung und Zorn, Zorn und Rache, Wut und Verzweiflung entreißen, Gnade, die uns an Bildern wie der Verspottung Christi die Umkehr vom Hadern und Verzagen an der dem menschlichen Leben eingesenkten Möglichkeit von Kränkung und Erniedrigung in ihre demütige Hinnahme vor Augen führt. Doch dies können wir niemanden mit moralisch geschwollener Brust abverlangen, weder anderen noch uns selbst, sondern nur erbitten und erhoffen. Oder mit dem Zauberstab der Dichtung in die blaue Luft malen.

 

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