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Philosophische Konzepte: Können

15.12.2017

Wir unterscheiden Verben oder Vollverben wie „sprechen“, „sterben“ oder „jonglieren“, von modalen Verben wie „wollen“, „müssen“ oder „können“, die nur im Verein mit Vollverben einen vollständigen Prädikatausdruck ergeben wie „sprechen wollen“, „sterben müssen“ oder „jonglieren können“. Ohne eine Zusammensetzung mit einem Vollverb bilden modale Hilfsverben einen grammatisch unvollständigen Ausdruck („Er will, kann, muß …“).

Betrachten wir die unterschiedlichen semantischen Rollen folgender Sätze:

1.1 Er spricht.
1.2 Er will sprechen.
1.3 Er kann sprechen.
2. Er kann jonglieren.

Der Sinn solcher Sätze erschließt sich aus ihren Kontexten und Anwendungsbedingungen: Wenn wir den Vortrag eines berühmten Philosophen besuchen und ein Raunen durch die Menge geht, weil der Vortragende soeben auf dem Podium erschienen ist, sage ich zu dir, während du noch in die Lektüre des Veranstaltungsprogramms vertieft bist: „Er spricht“. Wir verdeutlichen den Sinn des Gemeinten, wenn wir Sätze dieser Art durch ein Adverb ergänzen: „Er spricht jetzt“, „Er spricht ziemlich leise“ oder „Er spricht über seinen Werdegang“. Wenn sich der Redner am Rednerpult räuspert oder an das Mikrophon zwecks Hörprobe tippt, könnte ich zu dir sagen: „Er will sprechen“ und auch hier wird das Gemeinte durch den Gebrauch von Adverbien deutlicher, wenn ich sage: „Er will jetzt sprechen.“

Der Satz „Er kann sprechen“ hat eigentümliche Äußerungsbedingungen wie im Falle des Verunglückten oder frisch aus der OP Erwachten, der murmelnd seine Lippen bewegt, und ich sage: „Er kann sprechen“. Auch hier verdeutlicht der Gebrauch eines Adverbs das Gemeinte, wenn ich sage: „Er kann noch sprechen“ im Fall des schwer Verletzten oder „Er kann wieder sprechen“ im Fall des aus dem Koma Erwachten.

Die Äußerungsbedingungen für den Satz „Er kann jonglieren“ bestehen offenkundig in dem Umstand, daß wir beispielsweise auf dem Marktplatz einen Mann in gestreiften Latzhosen beobachten, der drei große Kegel immer schneller abwechselnd durch die Luft wirbelt und der Reihe nach auf das geschickteste wieder auffängt, und du sagst zu mir: „Er kann jonglieren.“ Auch hier wird der Sinn des Gemeinten klarer, wenn du sagst: „Er kann gut jonglieren-“

Sind wir als Besucher in einem fremden Ort in Bayern oder Brandenburg unterwegs und finden uns nicht zurecht, sprechen wir diesen oder jenen beliebigen Menschen an, der uns ortsansässig zu sein scheint, und erwarten bei hoffentlich aufgeschlossenem Wesen eine Auskunft. Wir hegen demnach implizit die selbstverständliche Erwartung, daß die Leute in unserer Umgebung sprechen können. Wir können es niemandem ansehen, daß er sprechen kann. Wir setzen dieses dem Menschen eigentümliche Können im allgemeinen rechtens voraus.

Das spezifische Können des Jonglierens, Jodelns oder Komponierens setzen wir naturgemäß nicht im allgemeinen voraus. Auch dieses spezifische Können sehen wir denjenigen, die darüber verfügen, nicht an. Wir erkennen allererst, daß jemand jonglieren kann, wenn er vor uns seine Jahrmarktskunst ausübt und zum besten gibt.

Vergleichen wir folgende Sätze:

3.1 Peter kann gut jonglieren.
3.2 Die Fruchtkapsel des Springkrauts könnte bei Berührung leicht aufspringen.

Jemand, der Peter nicht persönlich kennt und von seiner Kunstfertigkeit nichts weiß, wird seine Fähigkeit, jonglieren zu können, ebensowenig an seinem Äußeren und seinem Verhalten wahrnehmen können wie jemand, der bisher keine Erfahrung mit der heimischen Pflanzenart der Springkräuter gemacht hat, die Möglichkeit in Anschlag bringen wird, daß ihre Fruchtkapsel bei leichter Berührung aufspringt und die Samen herausschnellen.

Um die unterschiedlichen semantischen Rollen der genannten Sätze zu verdeutlichen, sagen wir einerseits, Peter verfüge über die Fähigkeit zu jonglieren, während wir andererseits sagen, die Fruchtkapsel des Springkrauts habe die Disposition, bei Berührung aufzuplatzen.

Daraus ersehen wir, daß sich die Fähigkeit oder das spezifische Können grundlegend von der Möglichkeit oder der Disposition zu einem Verhalten unterscheidet. Peter hat nicht die Disposition, unter bestimmten Umweltbedingungen, beispielsweise weil die Sonne scheint, seine Kunstfertigkeit als Jongleur zum besten zu geben. Wenn er schlechter Laune ist, bleibt er im Bett liegen, die Sonne mag scheinen, wie sie will. Dagegen hat die Fruchtkapsel des Springkrauts keine Wahl, streift wer darüber, „muß“ sie springen, womit wir metaphorisch ausdrücken, daß sie springen wird.

Wenn wir Peter einen Jongleur nennen, meinen wir damit, daß er jonglieren kann, wenn wir Walter einen Komponisten nennen, meinen wir damit, daß er komponieren kann, aber wenn wir eine Pflanze ein Springkraut nennen, meinen wir damit nicht, daß ihre Fruchtkapseln springen können, sondern daß sie unter bestimmten kausalen Bedingungen, nämlich bei Berührung, springen werden (oder metaphorisch gesagt: springen müssen). Während Peter unter keinen kausalen Bedingungen jonglieren „muß“. Es ist daher nicht sinnvoll bei spezifischen menschlichen Könnensformen von kausal auslösbaren Verhaltensdispositionen zu sprechen, wie wir etwa von der Disposition des Augenlids reden mögen, sich bei Berührung reflexartig zu schließen.

Das spezifische Können, wie Peters Fähigkeit des Jonglierens, ist keine Eigenschaft in dem Sinne, wie wenn wir sagen, Peter sei 1,80 m groß, 70 kg schwer und schwarzhaarig. Aber das Können hat eine semantische Ähnlichkeit mit der Eigenschaft, träge, großzügig oder verliebt zu sein. Wir verwenden die psychologischen Prädikate „träge“, „großzügig“ und „verliebt“ nicht in der Weise, wie wir die physischen Prädikate der Größe, des Gewichts und der Farbe verwenden. Die Verwendung dieser psychologischen Prädikate wird durch die Beobachtung des Verhaltens und Handelns gerechtfertigt, wenn wir beispielsweise sehen, wie Peter die Erstellung seiner Steuererklärung wieder hinausschiebt und sich lieber vor dem Fernseher ausstreckt, wie er seinem Freund gern das letzte Stück Kuchen überläßt oder wie er rot anläuft, wenn die Rede auf eine gewisse Angelika kommt, die neuerdings in seinem Büro arbeitet.

Wir gehen von der Sprache oder dem Sprachvermögen als einem dem Menschen eigentümlichen allgemeinen Können aus. Dieses Können ist nichts anderes als die Fähigkeit, unter gegebenen Umständen oder in bestimmten Handlungskontexten die angemessenen Sätze zu bilden und zu äußeren. Gewöhnlich sind solche Kontexte Gesprächssituationen, in denen einer auf die Äußerungen des Gesprächspartners seinerseits mit angemessenen Äußerungen reagiert. Wer auf eine Frage die angemessene Antwort geben kann, muß allerdings zuvor die an ihn gerichtete Frage verstanden haben.

Daraus ersehen wir, daß Verstehen einen integralen Teil des spezifischen Sprachvermögens und daher selbst ein spezifisches Können darstellt. Und wie alle Fähigkeiten ist es nicht direkt wahrnehmbar, sondern nur an seinen Handlungsfolgen abzulesen und zu ermessen. Zeigst du mir, wie man Rosen fachgerecht beschneidet und stutzt, zeige ich dir, daß ich dich verstanden habe, indem ich es dir gleichtue. Beschreibe ich dir den Weg zu unserem Treffpunkt, zeigst du mir, daß du mich verstanden hast, indem du rechtzeitig dort eintriffst.

Wir unterscheiden die Vorstellung oder den Begriff und den Gedanken. Wir können uns jederzeit alles Mögliche vorstellen, wenn wir beispielsweise an unseren Freund Peter denken oder an das Heimatdorf unserer Kindheit. Wir setzen dabei allerdings wiederum ein spezifisches Können voraus, nämlich zu wissen, daß es jemanden gibt, den wir Peter nennen, und zu wissen, daß es etwas gibt, das wir ein Dorf nennen. Bei diesem spezifisch semantischen Vermögen handelt es sich um die Fähigkeit, etwas als Element einer Menge mit einer exklusiven Eigenschaft zuzuordnen. Peter ist ein Exemplar der Menge der Elemente mit der Eigenschaft, ein Mensch zu sein, Dorf ein Exemplar der Menge der Elemente mit der Eigenschaft, eine menschliche Siedlung zu sein. Wenn wir nicht wissen, daß sich der Name Peter auf die Mitglieder der Menge der Menschen bezieht, wissen wir nicht, worum es sich bei Peter handelt und könnten uns in einer Unterhaltung nicht darüber verständigen, worüber wir reden. Dieses spezifische Können der Klassifikation von Gegenständen scheint uns mit der Sprache und dem Spracherwerb spontan erschlossen zu werden.

Wir können ein wie immer vages Bild oder eine wie immer deutliche oder undeutliche Vorstellung, ob im Wachen, im Tagtraum oder im Traum, vor Augen haben oder durch ein Foto von Peter oder eine Zeichnung unseres Heimatortes zu einer entsprechenden Vorstellung angeregt werden. Wir können auch an Peter, den Jongleur, denken, wenn wir zufällig im Fernsehen ein Bild von einer Zirkusrevue sehen, oder an unseren Heimatort, wenn wir auf einen Namen stoßen, der dem Namen dieses Ortes ähnelt. Die Vorstellung, mit der wir an Peter oder den Ort denken, ist nicht wahr oder falsch, sie kann nur verschwommener oder deutlicher sein. Denn auch wenn das Bild oder die Phantasievorstellung, die uns vorschwebt, keine Ähnlichkeit mit Peter oder unserem Heimatdorf haben sollte, es genügt uns allemal, um an Peter oder unseren Heimatort zu denken. Wir benötigen auch kein spezifisches Können, ohne welches wir uns keine Vorstellungen oder Phantasiebilder machen könnten – denn was wir Vorstellungsvermögen nennen ist kein Können im strikten Sinne, wie es das Jonglieren oder Komponieren ist.

Anders, wenn es sich um einen Gedanken handelt. Zum Beispiel den Gedanken, daß wir Peter oder unseren Heimatort lange nicht gesehen haben. Diesen Gedanken und überhaupt einen Gedanken zu haben setzt ein spezifisches Können voraus, nämlich einen komplexen sprachlichen Ausdruck folgender Form bilden zu können:

4.1.1 Ich habe Peter lange nicht gesehen.
4.1.2 Ich bin lange nicht mehr in meinem Heimatort gewesen.

Diese in der ersten Person Singular formulierten Sätze sind semantisch mit folgenden Sätzen äquivalent oder gleichsinnig:

5.1. Ich glaube, daß ich Peter lange nicht gesehen habe.
5.2 Ich glaube, daß ich lange nicht in meinem Heimatort gewesen bin.

Wir schreiben dafür in der üblichen Notation:

6. Ich glaube, daß p.

Wir können diesen Ausdruck auch dergestalt wiedergeben, daß wir die in unserem Sprachkreis übliche Form des indirekten Satzes (… daß p) vermeiden. Es gibt Sprachen, die diese den indogermanischen Sprachen eigentümliche grammatische Konstruktion nicht kennen. Wir schränken das Kürzel für den gedachten Sachverhalt p durch den vorangestellten Ausdruck (Gedanke) oder mittels geschweifter Klammern ein:

7.1 (Gedanke) p
7.2 {p}

Das spezifisch menschliche Können besteht also in der Fähigkeit, einen Gedanken zu haben, der durch einen komplexen sprachlichen Ausdruck oder einen Satz mit der semantischen Eigenschaft ausgedrückt wird, wahr oder falsch zu sein. Denn ich könnte fälschlicherweise glauben, meinen Freund Peter lange nicht gesehen zu haben, obwohl er mir vorige Woche im Gewühl der Einkaufspassage über den Weg gelaufen ist, ohne daß ich ihn erkannt habe.

Wir gehen davon aus, daß das spezifische Können, einen Gedanken mithilfe der genannten sprachlichen Mittel zu fassen, wie das Sprachvermögen überhaupt ein Gattungsmerkmal ist, das wir aufgrund unserer genetischen Ausstattung und der allgemeinen Bedingungen des Spracherwerbs mit allen Menschen teilen.

Einen Gedanken zu haben heißt noch nicht (sich) ein Urteil zu bilden. Denn jeder Gedanke kann wahr oder falsch sein, doch erst mittels der Urteilsbildung kommen wir darüber ins Reine und Klare – oder müssen uns des Urteils mangels valider Kriterien für eine Entscheidung über seinen epistemischen Status enthalten.

Ein Urteil zu bilden stellt wiederum ein spezifisches Können dar, nämlich die Fähigkeit, Gedanken auf systematische und konsistente Weise zu verknüpfen. So können wir die Annahme, daß wir Peter kürzlich gesehen haben, aufgrund der bestätigten Mitteilung oder des Wissens, daß er sich seit längerem in Australien aufhält, zumindest infragestellen, und aufgrund der zusätzlichen Information, daß er seither Australien nicht mehr verlassen hat, falsifizieren. Die falsifizierende Schlußfolgerung können wir als einfache deduktive Verknüpfung folgender Gedanken beziehungsweise als Verknüpfung ihrer sprachlichen Äquivalente darstellen:

p
wenn q, dann nicht-p
q
also: nicht-p

Wenn q nicht-p impliziert, ist vorausgesetzt, daß p nicht (nicht-p) impliziert.

Das spezifische Können der Urteilsbildung setzt demnach die grundlegende Einsicht in den Satz der Identität voraus, den die einfache Gleichung ausdrückt:

p = nicht (nicht-p)

Diesen Satz können wir nicht weiter ableiten oder begründen, wie wir die Falschheit der Annahme, kürzlich Peter gesehen zu haben, aus zusätzlichen gut bestätigten Annahmen ableiten und begründen können. Wir müssen ihn als letzte Evidenz, die allem Denken und jeder Urteilsbildung zugrundeliegt, akzeptieren. Ansonsten würden die Verknüpfungen unserer Gedanken inkonsistent und wir verfielen auf die verrückte Idee, Peter heute gesehen zu haben, obwohl derselbe Peter sich gerade in Australien aufhält.

Im Unterschied zu den Könnensformen der generellen Sprachkompetenz und der Gedankenbildung nimmt ähnlich wie das spezifische Können des Jonglierens, Kopfrechnens und Komponierens die allgemeine Streuung des logischen Urteilsvermögens auf die Geschlechter, die Ethnien und die Kulturen, ja sogar auf geschichtliche Epochen, auch wenn es inopportun erscheinen mag, dessen zu erwähnen, die Gestalt der Gaußschen Normalverteilung an. Merkwürdigerweise ist die extrem ungleiche Verteilung logischen Könnens auf alles andere als logische Faktoren zurückzuführen, nämlich auf spezifische Genkombinationen als proximaten Ursachen und auf allgemeine Lebens- und Umweltbedingungen wie Klima, Ernährung, Heiratsstrukturen und Populationsgenetik als ultimaten Ursachen. Bildungschancen scheinen zum Schrecken aller Kulturalisten und Humanisten dagegen bei der Verwirklichung dieses spezifischen Könnens eine untergeordnete Rolle zu spielen.

 

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