Philosophische Konzepte: Kehraus III
Wir unterscheiden zwei Formen des Wissens: die unmittelbare oder evidente Gewißheit, wie wenn einer sagt, daß er jetzt hier sei oder daß er jetzt einen roten Farbeindruck habe, und das Wissen in Form gut bestätigter Aussagen, die beispielsweise aus den Prämissen einer empirischen Beobachtung und einer gesetzesförmigen Hypothese durch logische Folgerung abgeleitet werden können wie der Satz, in diesem Eimer sei Wasser gefroren, der uns als Mitteilung wahren Wissens gilt, weil er aus dem Satz über die Beobachtung von Eis in einem Eimer und dem unter unseren lokalen Bedingungen gültigen physikalischen Gesetz, wonach Wasser unter null Grad Celsius gefriert, abgeleitet werden kann.
Manchmal steckt man auch die rein logische Ableitung von Sätzen aus als wahr angenommenen Prämissen in die Schublade „Wissen“. Wenn wir anhand der Beschreibungen, daß der Gatte der Xanthippe (B1) der Lehrer Platons (B2) war und der Lehrer Platons Sokrates (C), folgern, daß Sokrates der Gatte der Xanthippe war, ergibt sich folgendes logische Schema:
B1 = B2
B2 = C
B1 = C
Statt von einem Schlußsatz, den wir aufgrund der Folgerung als wahr wissen, sollten wir besser von der Einsicht in die Tautologie B1 = B2 = C reden oder davon, daß wir die Identität des verschieden Ausgedrückten sehen.
Wenn wir beobachten, daß sich Eis in dem Eimer gebildet hat, können wir statt der oben explizierten logischen Folgerung auch schlicht sagen:
Immer wenn es friert, bildet sich Eis im Wassereimer.
Bei Frost gefriert das Wasser im Eimer.
Unser Wissensanspruch schrumpft hier wie so oft auf die Feststellung einer allgemeinen Erfahrungs- oder Faustregel zusammen. Was wir Wissen nennen, ist auf den verwinkelten Pfaden der Erfahrung meist nur die Versicherung, es könne halt nicht anders sein, als ginge die Sonne auf, weil sie es nicht bleiben lassen kann, und so mit dem Apfel, der vom Baum fällt, oder dem gefrorenen Wasser.
Wie dem auch sei, nichts von alledem, also dem über die unmittelbare Gewißheit, das empirische Wissen und die logische Einsicht Ausgeführten, läßt sich auf folgende Sätze anwenden:
Du sollst nicht auf die Straße spucken.
Das Kind soll dem Behinderten seinen Platz in der U-Bahn freimachen.
Du sollst nicht töten.
Gebote und Verbote dieser Art sind keine deskriptiven, sondern präskriptive sprachliche Ausdrücke und deshalb weder wahr noch falsch. Sie können nicht aus beschreibenden Sätzen, sondern wiederum nur aus vorschreibenden Sätzen abgeleitet werden. Wenn ich sage, der Anstand gebiete es, nicht auf die Straße zu spucken und dem Gebrechlichen behilflich zu sein und seinen Platz zu räumen, sage ich nicht mehr, als wenn ich dazu auffordere, nicht auf die Straße zu spucken und dem Gebrechlichen behilflich zu sein und ihm seinen Platz freizumachen. Kurz: Ich bekunde damit meinen moralischen Willen.
Wir weisen zur Verdeutlichung des besonderen Status von moralischen Verboten auf den grammatischen Gebrauch unterschiedlicher Formen der Negation in den alten Sprachen hin. In dem Umstand, daß Verbote und negative Aufforderungen im Lateinischen und Altgriechischen eigene Konjunktionen benutzen (ne und μη), die mit dem Konjunktiv des Verbs verknüpft werden, zeigt sich der Unterschied zur indikativischen Aussage, die durch non und ου verneint wird. Das aber bedeutet, daß die Negation eines Verbots nicht die Beschreibung einer Tatsache darstellen kann:
Ne nos inducas in tentationem.
Führe uns nicht in Versuchung.
Es gibt keine evidente ethische Intuition, beispielsweise dem Gebrechlichen zu helfen, denn es könnte auch die Intuition geben, ihm wie in der Einstellung einer Nietzscheanischen Herrenmoral nicht zu helfen. Wir können den Satz, man solle dem Gebrechlichen nicht helfen, nicht als falsch bezeichnen und damit aus dem logischen Verkehr ziehen, weil wir den Satz, man solle dem Gebrechlichen helfen, nicht als wahr auszeichnen können, denn er stellt nichts mehr und nichts weniger dar als ein anerkanntes oder nicht anerkanntes moralisches Gebot oder Vorurteil.
Wir können nicht wissen, daß es gut ist, dem Gebrechlichen zu helfen, denn zu sagen, es sei gut, so zu handeln, heißt nicht mehr als in der Aufforderung oder dem präskriptiven sprachlichen Ausdruck enthalten ist, man solle dem Gebrechlichen helfen.
Es gibt keinen evidenten, empirischen oder logischen Grund, ethisch zu handeln, indem wir dem Gebrechlichen helfen. Wir können nur konstatieren, daß wir in unserem Umkreis oder unserer Kultur oft, gewöhnlich oder bisweilen so zu handeln pflegen, oder es als unverschämt, verwerflich und schlecht empfinden, wenn dem Gebrechlichen absichtlich, das heißt demnach böswillig, Hilfe verweigert wird.
Aber ist nicht das Tötungsverbot, könnte die moralische Einfalt einwenden, ähnlich wie das Inzestverbot in der menschlichen Natur verankert? Dieser Annahme widerspricht nicht nur die empirische Beobachtung eines fortgesetzten Tötens bei Morden, Raubmorden oder in Kriegseinsätzen und eines wenn auch seltenen rituellen oder kulturell sanktionierten Übertretens der Inzestschranke.
Der entscheidende Einwand ist darüber hinaus dieser: Wäre das Tötungsverbot eine natürliche Hemmschwelle, hätte es nicht den Gehalt einer moralischen Vorschrift, denn so zu handeln, wie es natürliche Neigung oder Anlage determiniert, heißt per definitionem nicht moralisch zu handeln. Wer einen natürlichen Abscheu vor der Tötung von Menschen hegt, handelt instinktgemäß und nicht moralisch, wenn er fremdes Leben schont. Er bedürfte keines Verbots, um so zu handeln, wie er handelt.
Die religiöse Begründung des Tötungsverbots folgt aus der Annahme, es verdanke seine moralische Geltung dem außerordentlichen Ereignis, daß Gott es verkündet habe. Doch dann ist die Voraussetzung der Moral oder der Geltung wesentlicher moralischer Gebote und Verbote der Glaube an Gott, wie uns diese moralischen Vorschriften ja nirgend anders als in der mosaischen Urkunde überliefert sind.
Doch stehen wir sogleich vor einer absurd anmutenden Folgerung: Wenn die moralischen Vorschriften gelten, weil Gott sie befohlen und angeordnet hat, sie demnach Ausdruck seines Willens sind, hätte er auch andere Vorschriften, Vorschriften, die vielleicht das Gegenteil der uns überlieferten implizierten, erlassen können. Denn wenn Gott das moralisch Gute dekretiert, steht er jenseits dessen, was er für gut befindet. Wäre es anders, wäre er durch das von ihm Dekretierte eingeschränkt und in dieser Hinsicht nicht der als allmächtig Geglaubte.
Die Annahme, moralische Vorschriften wie das Verbot zu töten oder zu lügen, könnten aus der logischen Form der Allgemeingültigkeit begründet und abgeleitet werden, weil sie uns sonst mit Inkonsistenzen die Hölle heiß machten, scheitert nicht nur an der empirisch belegbaren Koexistenz und Verträglichkeit unterschiedlicher moralischer Geltungssphären. So ist es uns selbstverständlich, im familiären Kreis und im Umgang mit den Nahestehenden zumeist offen und ehrlich miteinander zu verkehren und kein Blatt vor den Mund zu nehmen, es sei denn aus Rücksichtnahme und Höflichkeit sagen wir nicht die Wahrheit oder sagen die Unwahrheit. Dagegen ist die Verheimlichung von Tatsachen oder die Vorspiegelung nicht vorhandener Tatsachen ebenso selbstverständlicher Teil des Geschäftsgebarens von Unternehmen oder der Politik, mit dem wir jederzeit rechnen und ohne den Institutionen dieser Größenordnung nicht funktionieren würden.
Wenn ich lüge, setze ich dabei stillschweigend voraus, daß die anderen in der Regel die Wahrheit sagen, sonst verlöre meine Unwahrhaftigkeit ihren Witz. Und wenn alle nur immer die Unwahrheit sagten, entbehrte der Begriff der Lüge jeglichen Sinnes. Ja, es ist logisch widersinnig anzunehmen, daß alle die Unwahrheit sagten.
Daraus ersehen wir, daß unsere Suche nach logischen oder empirischen Gründen für die Geltung moralischer Vorschriften ins Leere läuft. Moral ist eben, Kant hin, Diskursethik her, kein Sprachspiel, in dem zur Hauptsache rationale Gründe und Gegengründe angeführt oder abweichende Einstellungen mittels Aufweis logischer oder performativer Widersprüche eines besseren belehrt werden könnten. Der Selbstmordattentäter, der Dutzende Menschen für seinen Gottesglauben in den Tod reißt, hat keine schlechteren Gründe als Mutter Theresa, die ihren Eigenwillen zugunsten des Wohlseins der Armen und Gebrechlichen aufopfert, denn beide handeln nicht aus Gründen, die aus wahren Prämissen als gültig abgeleitet oder durch den Nachweis falscher Prämissen widerlegt werden könnten.
Wir können nur sagen, daß wir es vorziehen, nicht auf die Straße zu spucken, uns anständig zu verhalten und fremdes Leben weitestgehend zu schonen, weil wir so handeln wollen. Und unsere Willensbestrebungen wurden, wie die Wasser einer Quelle in das Bach- und Flußbett, in die sprachlichen und gestischen Gußformen unserer Kultur eingeleitet. Wir können diese Einbettung nicht willkürlich und auf einen Schlag aus der Verankerung heben und in Frage stellen, ohne unser triviales Selbstverständnis zu verlieren oder moralisch verrückt zu werden.
Wir bleiben aber der Tatsache eingedenk, daß unser moralisches Wollen sich nicht an absoluten Maßstäben ausrichten läßt. Denn wenn wir auch das Töten verabscheuen, sind wir doch bereit, das Leben eines Angreifers, der unser eigenes Leben oder das der uns Nahestehenden unmittelbar gefährdet, zu opfern.
Auch wenn dem Gläubigen das Leben als absoluter und unverfügbarer Wert erfahrbar sein und daher der Selbstmord als Tabu erscheinen mag, sollte ihm der Fall des perversen Kindsmörders zu denken geben: Wenn er, der mehrfachen Vergewaltigung und Ermordung von Kindern überführt, aus Einsicht in seine unkorrigierbaren Neigungen seinem Leben ein Ende setzt, um weiteren Untaten vorzubeugen – hat er dann unmoralisch gehandelt?
Wir können denjenigen, der seinem Leben ein Ende setzen will, weil er sein Leben oder das Leben überhaupt angesichts der eigenen Verstrickung in Schuld oder der Bedrückung durch schweres Leid oder angesichts des blutüberschwemmten Tollhauses der Welt für moralisch unwert und für nicht lebenswert hält, nicht durch Argumente vom Gegenteil überzeugen und durch vernünftiges Räsonieren von seinem Vorhaben abbringen. Er könnte vielleicht vor seinem fatalen Schritt bewahrt werden, wenn wir selbst in unserer freundlichen Bekümmernis und unserer tröstenden Zuwendung ein Beispiel für einen wertvollen und lebenswerten Aspekt des Daseins bieten, den er bisher so schmerzlich vermißt hat.
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