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Philosophische Konzepte: Kehraus I

29.12.2017

Wir kommen am Ende dahin, wesentliche Begriffe der philosophischen Tradition wie „Mensch“, „Gegenstand, „Bewußtsein“ und „Außenwelt“, „Vorstellung und Bedeutung“, „Möglichkeit“, „Ähnlichkeit“ und „Identität“ in Anführungszeichen zu setzen oder ganz aufzugeben. Denn sie entpuppten sich als Projektionen eines Mißbrauchs der natürlichen Sprache oder als Scheinbegriffe ohne eindeutig definierbaren semantischen Bezug. Tun wir dies, dann endet unser Kehraus nicht bei diesen Begriffen, sondern umfaßt auch den Begriff „Philosophie“ selbst, den wir nur noch in Anführungszeichen setzen oder ganz aufgeben – es sei denn, wir stellen ihn in den Horizont einer neuen schöpferischen Tätigkeit.

Wir müssen nicht das Wesen des Menschen ergründet haben oder einen spezifischen Begriff vom Menschen im Unterschied zu allen anderen Lebewesen definiert haben, um zu verstehen, was es heißt, daß viele Menschen sich in einem Saal versammelt haben. Denn wir können stattdessen auch sagen, es hätten sich viele Leute dort versammelt. Wir verstehen, was es heißt, daß Irren menschlich ist, doch um dies zu verstehen, müssen wir nicht einen klar definierten Begriff der Vernunft oder der Moral voraussetzen. Wir könnten stattdessen auch sagen, daß die Leute einerseits öfters danebengreifen, vom Wege abkommen oder sich ein X für ein U vormachen lassen oder daß sie andererseits Dinge tun, die eine Mehrheit ihrer Zeitgenossen für unverantwortlich, verwerflich und sanktionswürdig halten.

Wir könnten natürlich, wenn wir auf den einheitlichen Begriff vom Menschen verzichten, uns damit begnügen, den Exemplaren der Gattung einen beliebig langen Schweif an definitorischen Merkmalen anzuhängen wie animal rationale, animal loquens, animal laborans, animal ludens, animal pingens, animal saltans – doch um den Preis, daß wir uns in der palavernden Runde von Politikern bei einer anderen Sorte Mensch aufzuhalten schienen als bei den schweigsamen Malern einer Meisterklasse oder dem taubstummen Seiltänzer eines Zirkus.

Wenn die alten Griechen ihre Anrainer wegen deren unverständlichen Idioms als Barbaren bezeichneten, haben sie sie aufgrund des Fehlens eines (ihnen) wesentlichen Merkmals in ihrem Begriff des Menschen als andere Sorte von Menschen eingestuft. Und dies erscheint uns post festum oder nach dem Auslaufen des vielbeschworenen „Projekts der Moderne“ oder dem Ende der bisherigen Gestalt des Menschen, wie es harsch und hyperbolisch Michel Foucault auszudrücken beliebte, legitim.

Haben wir einmal von der vergeblichen Bemühung abgelassen, einen einheitlichen Begriff vom Menschen bilden zu wollen, müssen uns Fragen nach der sogenannten Bestimmung des Menschen (Fichte) nicht scheren, geschweigen denn die Fragen uns Kopfschmerzen bereiten, was wir überhaupt wissen können, was wir tun sollen oder hoffen dürfen (Kant). Denn wir sehen ja, daß die Sonne scheint, wir sollten uns daher zur versöhnlichen Aussprache mit unserem Freund in der heiteren Atmosphäre des Parks treffen, und wir dürfen hoffen, das Konzert am heutigen Abend mit dem hervorragenden Dirigenten und seinem Orchester werde ein famoser ästhetischer Genuß.

Sind wir uns einmal darüber klar geworden, daß es etliche Bäume und Sträucher in unserem Garten und etliche Sterne in unserer Galaxie gibt, daß indes die Annahme der Existenz eines Gegenstandes überhaupt oder von Gegenständen in einem Welt genannten Behälter barer Unsinn ist, können wir uns bei den einfachen Beschreibungen von Zuständen und Ereignissen bescheiden, die uns darüber ins Bild setzen, was wann wo vorhanden ist oder wer was wo und wann tut oder getan hat. Und Beschreibungen behandeln wir wie Handlungsanweisungen, analog den Einkaufslisten, bei denen wir die aus dem Regal genommenen Waren abhaken. Seltsame Namen auf der Liste wie „Asphodelen“ oder „das goldene Vlies“, zu denen wir keine Gegenstücke in unseren Regalen finden, versehen wir entweder mit einem speziellen Zeichen (dem Negationszeichen) um anzuzeigen, daß kein Regal mit diesem Etikett existiert, oder setzen diese Namen in Anführungszeichen und weisen sie einem Sprachspiel (wie der Dichtung) zu, das nicht mit rein deskriptiven Ausdrücken operiert.

Über die Fata Morgana des Bewußtseins oder des Subjekts und seiner Vorstellungen hüllen wir uns in Schweigen. Wir kommen klar mit der Aussage, der Verräter habe das Tor bewußt offengelassen, der gemeingefährliche und soziopathische Kriminelle sei sich der Schwere seines Vergehens nicht bewußt oder der Komapatient vegetiere seit Wochen ohne Bewußtsein vor sich hin. Doch wir lassen uns durch Wendungen wie diese, der Sterbende habe sein Bewußtsein bereits verloren oder der aus der OP erwachte Patient habe sein Bewußtsein wiedererlangt, nicht dahingehend täuschen, als sei Bewußtsein eine Entität oder eine funktionelle Eigenschaft wie das Wehen der Gardine, die als „Möglichkeit“ vorhanden sei, auch wenn die Gardine (oder das Gehirn) sich im Ruhemodus befinde.

Wenn es uns nicht rätselhaft anmutet zu sagen, daß der Honig dem Gast süß schmecke, ist es umso weniger rätselhaft zu sagen, daß er sich erst dessen bewußt wurde, wie süß der Honig schmecke, nachdem wir ihn auf die besondere Qualität dieser Honigsorte aufmerksam gemacht hatten. Denn die Aussage, daß wir uns dessen bewußt sind, der Honig schmecke süß, ist eine redundante Form der Aussage, daß der Honig süß schmeckt.

Wenn wir uns das „Rätsel des Bewußtseins“ semantisch vom Halse geschafft haben, scheren uns hinfort angeblich bedrängende und ungelöste oder gar unlösbare Fragen wie die nach dem Verhältnis von Bewußtsein und Leib (Gehirn) oder Bewußtsein und Außenwelt (oder anderem Bewußtsein, vulgo Intersubjektivität) nicht mehr, denn sie sind Scheinfragen, die aus begrifflichen Konfusionen hervorgehen.

Wenn jemand aufgrund des unverschämten Verhaltens der Bedienung seinen Ärger kundgibt, indem er das ausgewählte Kleidungsstück brüsk fallenläßt und hochroten Kopfes, die Tür hinter sich zuschlagend, aus dem Laden eilt, ist sein „Bewußtsein“ (der gefühlte Ärger) ein Teil der „Außenwelt“ (das fallengelassene Kleidungsstück, das Rotwerden, das Zuschlagen der Tür, das Hinauseilen aus dem Geschäft) und wird als solches adäquat und unmittelbar wahrgenommen (von der konsternierten Bedienung, ohne daß sie aus dem Verhalten des verärgerten Kunden auf dessen mentalen Zustand schließen müßte).

Wenn die Frau den Mann mit der Aussage konfrontiert, daß sie ihn verlasse, ist ihr „Bewußtsein“ Teil der „Außenwelt“ in der sprachlich vermittelten „Bedeutung“ der Aussage, daß sie ihn verlasse, die der Mann zu seinem Bedauern wahrzunehmen nicht umhin kann.

Dabei ist die Frau, wenn sie dem Mann mit dem fatalen Satz den Laufpaß gibt, nicht das Subjekt der Vorstellungen, die sie in dem Satz zum Ausdruck bringt oder die sich während sie den Satz ausspricht vor ihrem „inneren Auge“ abspielen, sondern sie ist nichts mehr und nichts minder als die Sprecherin der Aussage, und die Bedeutung dieser Aussage gründet nicht in den Vorstellungen, welche die Sprecherin damit verbindet, sondern in der grammatischen Form des von ihr geäußerten Satzes.

Mit diesem Verfahren bringen wir nach dem Bilde Wittgensteins die Wolken der überkommenen philosophischen Terminologie zum Verdunsten und Kondensieren oder kehren verschwommene und haltlose Begriffe wie „Bewußtsein“, „Außenwelt“, „Vorstellung“ oder „Bedeutung“ aus dem Haus der natürlichen Sprache aus.

Eine dieser düsteren und unheilschwangeren Wolken trägt den ontologisch geweihten Namen „Möglichkeit“. Zu sagen, was wirklich ist, sei eo ipso möglich gewesen, weil es sonst ja nicht wirklich geworden wäre, ist ein ähnlicher Unfug, wie zu sagen, die Frau sei schwanger geworden, weil es möglich war, daß eines ihrer Ovula befruchtet wurde, anstatt zu sagen, ihr Mann habe mit ihr ein Kind gezeugt. Es existiert oder subsistiert kein mögliches Kind in einem virtuellen Raum, sondern das reale Kind existiert in der Gebärmutter.

Zu sagen, der lang erwartete Gast werde möglicherweise durch einen Verkehrsstau daran gehindert, pünktlich einzutreffen, oder er werde wegen eines Unfalls überhaupt nicht eintreffen, heißt nicht, daß die wie eine Chimäre über ihm schwebende Möglichkeit des Staus oder des Unfalls fatalerweise auf ihn niedergestürzt sei, sondern heißt nur, daß er vielleicht später oder überhaupt nicht kommen wird.

Zu sagen, der Student habe die Möglichkeit wahrgenommen, seine Sprachkenntnisse durch Belegen eines zusätzlichen Aufbaukurses zu verbessern, heißt nichts weiter, als zu sagen, er habe es vorgezogen, zweimal die Woche abends an dem angebotenen Kurs teilzunehmen, anstatt mit seinen Freunden die Zeit mit Trinkgelagen oder Dartspielen totzuschlagen. Es heißt nicht, jene Möglichkeit sei als virtuelles Etwas durch seine Aktivität in ein reales Etwas überführt worden. Denn es gibt kein virtuelles Etwas, das wir wie die platonische Idee durch unsere Wahrnehmung und Erkenntnis in ein konkretes Etwas verwandelten oder das wie die aristotelische Potentia aufgrund einer Aktualisierung das Licht der Welt erblickte.

Eine andere Wolke, die nur schwer herabregnet und sich in den winzigen Tropfen zur gewünschten Klarheit kondensiert, trägt die Namen „Ähnlichkeit“ und „Identität“. Wir bemerken die Ähnlichkeit zwischen dem Gesicht von Mutter und Tochter. Doch die Ähnlichkeit ist keine begriffliche Entität oder platonische Idee, die zwischen dem Gesicht von Mutter und Tochter herumschwebte und herumgeisterte. Die Ähnlichkeit ist nur eine Façon de parler, wenn wir etwa sagen, der Ausdruck der Augen der Tochter gleiche dem der Mutter. Eine ebensolche Façon de parler ist die tiefsinnig daherkommende Rede von der Identität. Denn wenn wir sagen, der Mann, der den Namen Sokrates trug, war derselbe Mann, der auch der Lehrer Platons war, sagen wir nicht mehr, als wenn wir sagen, Sokrates war der Lehrer Platons.

Ist aber Sokrates nicht Sokrates und insofern mit sich selbst identisch? Das ist deshalb Unfug, weil sich nur deskriptive Ausdrücke wie „der Ehemann der Xanthippe“ und „der Lehrer Platons“ auf „dasselbe“ beziehen können, nämlich auf „Sokrates“, aber kein Name und kein Ding auf sich selbst.

Können wir Philosophie jenseits der überkommenen Terminologie noch Philosophie nennen? Auch dies ist nur eine Façon de parler. Natürlich sind wir frei, den Begriff fallenzulassen und wie etwa der späte Heidegger dichterisch vom Denken als Andenken zu reden oder uns wie Wittgenstein in der Erzählung von Beispielen natürlichen Sprachgebrauchs zu ergehen. Wir können aber auch nach dem Kehraus der abgenutzten Begriffe und nachdem die Dellen, die wir uns beim Anrennen gegen die mit ihnen errichtete Sprachwand zugezogen haben, abgeschwollen sind, Philosophie als schöpferische Tätigkeit verstehen, mit neuen Begriffen Aussichten auf ein Gelände zu eröffnen, über dem die Wolken scheinbarer Rätsel sich ausgeregnet haben und verschwunden sind.

 

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