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Philosophische Konzepte: Jetzt

13.12.2017

Mein Gedanke, daß ich jetzt hier bin, und die Tatsache, daß du dasselbe von dir sagen kannst, bezeichnen eine begriffliche oder notwendige Wahrheit über unsere Art zu sein.

Betrachten wir folgende Sätze:

1. (Ich denke) Ich bin jetzt hier.
2. (Ich denke) Du bist jetzt dort.

Die beiden Sätze haben semantisch völlig unterschiedliche Bedeutungen. Das zeigt der Umstand, daß ich nicht glauben kann, daß ich jetzt nicht hier bin, denn um dies zu glauben oder festzustellen, müßte ich jetzt hier sein. Doch ich kann ohne inkonsistent zu sein nicht glauben, daß ich jetzt nicht hier bin. Das wäre eine echte Antinomie. Woraus folgt, daß ihre Negation eine begriffliche Wahrheit darstellt.

Es gilt demnach der Satz:

(Ich denke) Ich bin jetzt nicht hier ist falsch.

Indes, nichts hindert mich daran zu glauben, daß du jetzt in München bist, während du in Wahrheit in Hamburg bist, und nicht zu glauben, daß du in Hamburg bist, während du in Wahrheit in Hamburg bist.

Es gilt demnach der Satz:

(Ich denke) Du bist jetzt nicht dort ist wahr oder falsch.

Die Tatsache, daß du jetzt in Hamburg bist, läßt sich empirisch bestätigen oder widerlegen. Doch was ich mit dem Gedanken ausdrücke, daß ich jetzt hier bin, läßt sich empirisch weder bestätigen noch widerlegen. Dieser Sachverhalt entspricht der Tautologie, daß begriffliche Wahrheiten nun einmal keine empirischen Wahrheiten sind.

Wenn du jetzt nicht mehr in Hamburg weilst, sondern mittlerweile in München angekommen bist, ist der Zeitpunkt deiner Ankunft in München später als dein Aufenthalt in Hamburg und dein Aufenthalt in Hamburg war früher als deine Ankunft in München.

Aber wenn ich mich in Hamburg aufhalte und denke „Ich bin jetzt hier“ und dann nach München gereist bin, und wiederum denke „Ich bin jetzt hier“, beziehen sich beide Gedanken auf dieselbe Gegenwart, nämlich die Gegenwart meiner Selbstgegebenheit oder Subjektivität. Wir sagen, der Zustand meiner Selbstgegenwart, die ich gestern in Hamburg verspürte, ist nunmehr, da ich in München bin, vergangen. Doch die Selbstgegenwart, die ich jetzt in München verspüre, ist keine andere oder ist dieselbe Selbstgegenwart wie die gestern in Hamburg verspürte.

Ich kann mich jetzt, da ich in München bin, darauf besinnen oder mich daran erinnern, gestern noch in Hamburg gewesen zu sein. Doch diese meine Erinnerung ist mir JETZT präsent oder Teil meiner Selbstgegenwart.

Das Jetzt-Sein oder die mir unmittelbar gegebene Gegenwart ist keine Eigenschaft physischer Ereignisse, von denen wir sagen, daß sie sich an bestimmten Zeitpunkten abspielen oder abgespielt haben. Denn kein Ereignis der Raum-Zeit, dessen Eintritt, Dauer und Verschwinden wir mit unseren bewährten Uhren messen, findet in einem objektiven Sinne JETZT statt. Vielmehr bin ich es oder du oder irgendwer, der solche Ereignisse JETZT wahrnimmt, denn wir können sie überhaupt nicht wahrnehmen, ohne sie JETZT oder als gegenwärtig oder gegenwärtig wahrzunehmen. Doch die Voraussetzung dafür, ein etwas oder ein Ereignis JETZT wahrzunehmen, das heißt demnach es überhaupt wahrzunehmen, ist die Tatsache, daß ich mir selbst JETZT gegenwärtig bin.

Wir können nicht etwas wahrnehmen oder uns an etwas Vergangenes erinnern oder uns etwas Zukünftiges vorstellen, ohne es JETZT wahrzunehmen, uns JETZT daran zu erinnern oder es uns JETZT vorzustellen.

Wenn ich mich in Hamburg aufhalte und JETZT die Absicht habe, morgen nach München zu fliegen, impliziert meine Absicht, diese Reise zu unternehmen, die Möglichkeit, daß ich mich morgen abend in München daran erinnere, heute in Hamburg gewesen zu sein, indem ich mir sage: „JETZT bin ich München, heute morgen war ich noch in Hamburg.“ Aber dieses JETZT ist nicht identisch mit der Zeit, die mir die Uhr am Abend nach meiner Ankunft in München anzeigt. Vielmehr ist es umgekehrt: Daß ich sagen kann „JETZT bin ich hier“, ist die Voraussetzung dafür, daß ich auf der Uhr die Zeit ablesen kann.

Das JETZT ist keine Funktion der Aufmerksamkeit, als könnte sich meine Selbstgegenwart aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit verflüchtigen oder dank gespannter Aufmerksamkeit verdichten. Vielmehr ist es umgekehrt: Die seltsame Tatsache, daß ich mir gegenwärtig bin, ist die Voraussetzung dafür, daß ich das, was ich ringsum wahrnehme, mehr oder weniger aufmerksam wahrnehmen und ein Geschehen aufgrund meiner Unaufmerksamkeit entweder gar nicht bemerken oder dank gespannter Aufmerksamkeit scharf ins Auge fassen kann.

Das JETZT ist auch keine Funktion der Innerlichkeit, als würden unsere mentalen Vorstellungen, Absichten, Überzeugungen oder Gefühle sich in einer zeitlichen Abfolge vor unserem inneren Auge abspulen, die einen von den anderen ins Gewesene verdrängt werden und die nachrückenden uns JETZT bewußt werden. Es ist vielmehr umgekehrt: Wir sind es, die uns JETZT etwas vorstellen, etwas beabsichtigen, etwas glauben oder etwas fühlen. Wenn wir uns abends etwas anderes vorstellen, beabsichtigen, glauben oder fühlen als morgens, tun wir dies, weil uns diese Vorstellung, diese Absicht, diese Überzeugung und dieses Gefühl dann gegenwärtig sind.

Wenn wir uns zu einem Spaziergang treffen und uns unterwegs angenehm unterhalten, teilen wir dieselbe Gegenwart, doch nicht nur in dem Sinn, daß wir uns zur selben Zeit am gleichen Ort aufhalten, sondern weil meine Äußerung über das schöne Wetter dir, wenn du sie vernimmst, in demselben Sinn gegenwärtig ist wie mir, wenn ich sie ausspreche. Und die Voraussetzung dafür, daß dir meine Äußerung gegenwärtig ist, besteht in der seltsamen Tatsache, daß du dir selber gegenwärtig bist, wie auch ich mir gegenwärtig sein muß, wenn ich die Äußerung mache.

Wir leben demgemäß in derselben Gegenwart, und dies nicht etwa nur in dem Sinne, daß wir unsere Uhren nach der Mitteleuropäischen Zeit synchronisiert hätten: Wir könnten uns auch per Telefon unterhalten, wobei ich mich in Hamburg aufhielte und du in einer anderen Zeitzone, sagen wir in San Diego USA. Dennoch teilten wir dieselbe Gegenwart, wenn du verstehst, was ich sage, und ich, was du sagst.

Vergangenheit und Zukunft haben wir nur, weil wir JETZT in der je eigenen und je geteilten Selbstgegenwart des subjektiven Lebens existieren. Nur als subjektiv in Selbstgegenwart Existierende können wir Gedanken und Absichten haben, die sich auf Handlungen beziehen, die wir auszuführen gedenken. Die Tatsache, daß es die historische Zeit und geschichtliche Ereignisse gibt, ist eine andere Tatsache als die, daß sich vor etlichen Jahren eine Sonnenfinsternis ereignet hat und in etlichen Jahren wieder ein solches astronomisches Ereignis eintreten wird. Cäsar hat die historisch bedeutsame Überquerung des Rubikon nur vollziehen können, weil er sich hat sagen können: „JETZT werde ich den Rubikon überschreiten.“ Der Erste Weltkrieg hat sich nur ereignen können, weil der Kaiser von Österreich sich hat sagen können: „JETZT werde ich den Krieg erklären.“ In beiden Fällen spielte es keine determinierende Rolle, ob es Montag oder Mittwoch war, als die historischen Akteure diese Gedanken und Absichten hatten. Doch weder Cäsar noch Kaiser Franz Joseph hätten diese Gedanken und Absichten haben können, wenn sie ihnen aufgrund fehlender Selbstgegenwart verschlossen und ungreifbar gewesen wären.

Die seltsame Tatsache, daß wir uns gegenwärtig sind, können wir nicht erklären und aus anderen Tatsachen ableiten. Denn solche Tatsachen wären kausale Ereignisse in der physikalisch meßbaren Zeit. Um indes physikalisch verursachte Ereignisse erklären zu können, müssen wir Theorien über den kausalen Ablauf von Ereignissen aufstellen und Uhren konstruieren, um die Abfolge der Ereignisse anhand unserer Meßinstrumente in Zeitkoordinaten einzutragen. Die Voraussetzung dafür, Überzeugungen zu haben und Theorien zu entwickeln sowie Zeitmesser zu konstruieren, ist indes wiederum die seltsame Tatsache, daß wir in einem zeitlich unausgedehnten und metrisch undimensionierten JETZT uns selbst gegenwärtige oder erschlossene Subjekte sind.

Ebensowenig wie wir die logischen Wahrheiten, daß gilt: immer wenn p, dann nicht-q, gegeben p, also nicht-q oder: p impliziert nicht (nicht-p), aus psychologischen Tatsachen ableiten und erklären können, ohne diese logischen Wahrheiten wiederum vorauszusetzen, können wir die begriffliche Wahrheit, daß eine Überzeugung, eine Absicht oder ein Wunsch denjenigen voraussetzt, der diese Gedanken als ein seiner gewärtiges Subjekt hat, aus den psychologischen Tatsachen, eine Überzeugung, eine Absicht oder einen Wunsch zu haben, ableiten und erklären, ohne diese begriffliche Wahrheit wiederum vorauszusetzen.

Wenn wir beobachten, wie unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen der letzte Nacht gefallene Schnee schmilzt, können wir folgende Sätze formulieren, die wir bestimmten aufeinanderfolgenden Zeitpunkten zuordnen:

1.1 Der Hof ist ganz mit Schnee bedeckt.
1.2 Der Hof ist schon an vielen Stellen schneefrei.
1.3 Der Schnee ist vollständig geschmolzen.

Ich könnte im Verlauf meiner Beobachtungen aber auch folgendes sagen:

2.1 Eben war der Hof noch ganz mit Schnee bedeckt.
2.2 Jetzt ist der Schnee schon an vielen Stellen geschmolzen.
2.3 Bald wird der Schnee vollständig geschmolzen sein.

Wir können den Beobachtungen 1.1, 1.2 und 1.3 Zeitpunkte wie 8.00 Uhr, 9.00 Uhr und 10.00 Uhr eines bestimmten Kalendertages zuordnen. Dann ist augenscheinlich 8.00 Uhr früher als 9.00 Uhr und 9.00 Uhr früher als 10.00 Uhr und 10.00 Uhr später als 9.00 Uhr und 9.00 Uhr später als 8.00 Uhr. Diese Zeitpunkte sind unabhängig von der Position dessen, der die Beobachtungen gemacht und auf der Liste eingetragen hat. Keines dieser auf einer Liste vor der entsprechenden Beobachtung (den Sätzen 1.1, 1.2 und 1.3) eingetragenen Ereignisse hat die Eigenschaft, gegenwärtig zu sein.

Die zweite Satzfolge aber ergibt nur einen Sinn, wenn ich JETZT sehe, daß der Schnee an vielen Stellen geschmolzen ist, und mich JETZT daran erinnere, daß der Hof vor kurzem noch ganz mit Schnee bedeckt war, und mir JETZT vorstelle, daß der Schnee vollständig geschmolzen sein wird. Ich erinnere mich JETZT an einen Zeitpunkt der Vergangenheit, an dem ich sagen konnte: „Der Hof ist JETZT ganz mit Schnee bedeckt“, und ich antizipiere einen Zeitpunkt in der Zukunft, an dem ich voraussichtlich sagen kann: „Der Schnee ist JETZT vollständig geschmolzen.“

Daraus ersehen wir, daß die Identität der Selbstgegenwart die Voraussetzung dafür ist, Sätze über vergangene und zukünftige Beobachtungen, zurückliegende und voraussichtlich eintretende Erlebnisse bilden zu können.

Die semantischen Rollen der beiden Satzreihen sind ganz unterschiedlich. Die Reihe unter 1 (die sogenannte A-Reihe des Philosophen John McTaggart) besteht aus deskriptiven Aussagen, deren Wahrheitswert eine Funktion der Beobachtungsdaten zu den jeweiligen Zeitpunkten darstellt, unabhängig von der Äußerungssituation. Dagegen ist der Wahrheitswert der Sätze der 2. Reihe (der sogenannten B-Reihe) eine Funktion der Äußerungssituation inklusive der Beobachtungsdaten. Von mir geäußert mögen die Sätze wahr sein, von dir geäußert falsch, und umgekehrt.

Es gilt aber noch eine weitere semantische Bedingung, die erst augenscheinlich wird, wenn wir folgenden Satz betrachten:

Ich erinnere mich daran, daß ich gesehen habe, wie der Hof ganz mit Schnee bedeckt war.

Dieser Satz ist nur dann sinnvoll, wenn die Bedeutung des Reflexivpronomens des ersten Nebensatzes identisch ist mit der Bedeutung des Subjekts des Hauptsatzes. Damit sagen wir aber, daß die Selbstgegenwart dessen, der gesehen hat, wie der Hof ganz mit Schnee bedeckt war, identisch ist mit der Selbstgegenwart dessen, der sich daran erinnert, dies gesehen zu haben.

Der JETZT-Punkt meiner Selbstgegenwart (ego nunc stans) ist nicht notwendigerweise identisch mit dem Zeitpunkt, an dem wir den neuronalen Vorgang messen oder an dem sich der neuronale Vorgang ereignet, der das kausale Korrelat zu meiner Äußerung „Ich bin jetzt hier“ darstellt. Denn wir können uns durchaus vorstellen, daß derselbe neuronale Vorgang sich in einem Organismus abspielt, der genauso aussieht wie ich, ohne daß dieser wüßte, was er sagt, wenn er sagt: „Ich bin jetzt hier.“ Er wäre ein organischer Automat, dessen Sprachprogramm ein Teil jenes Programms wäre, das seine neuronalen Prozesse steuerte, ohne daß er sich selbst gegenwärtig wäre.

Wir können diesen Sachverhalt auch so darstellen: Wenn wir annehmen, daß sich im Gehirn meines eineiigen Zwillings oder eines menschlichen Organismus mit der gleichen neuronalen Struktur, wie ich sie habe, der typen- oder tokenidentische neuronale Vorgang ereignet, der in meinem Gehirn abläuft, wenn ich sage: „Ich bin jetzt hier“, so ist es gleichwohl evident, daß meine Selbstgegenwart nicht identisch mit der Selbstgegenwart meines Zwillings ist und sein kann, auch wenn sie dasselbe neuronale Korrelat haben sollte.

Drücken wir den daraus folgenden Schluß pointiert aus: Mein Gehirn kann nicht glauben und wissen, was ich glaube und weiß, wenn ich sage: „Ich bin jetzt hier.“ Die Zeit meines Gehirns ist nicht identisch mit dem Augenblick meiner Selbstgegenwart.

 

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