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Philosophische Konzepte: Ich-Symbol

23.11.2017

Wir beschäftigen uns hier mit dem Symbol für denjenigen, der Symbole herstellt, verwendet und liest – also das Subjekt der sprachlichen und zeichengeleiteten Handlungen. Wir nennen dieses Symbol zur besseren Charakterisierung auch Ich-Symbol, weil es die Realität des Subjekts oder den Gedanken des Subjekts an sich selbst vertritt.

Der Pfeil auf der Wanderkarte am Waldrand, zu dem die Legende am unteren Rand schlicht vermerkt „Ihr Standort“, ist ein Symbol in diesem Sinne. Der Pfeil hat keine Ähnlichkeit mit demjenigen, dessen Standort er markiert. Man könnte zu dem gewünschten Zweck auch ein anderes Zeichen verwenden wie einen farbigen Punkt oder ein Strichmännchen – auch dieses Emblem der menschlichen Figur hat ja nicht wirklich eine Ähnlichkeit mit dem bezeichneten Gegenstand, der personalen Identität dessen, den es repräsentieren soll.

Welche Ähnlichkeit mit welchem Gegenstand könnte die Position des Subjekts haben? Wenn wir aber keine Ähnlichkeit dieser Art ermitteln, wie sollten wir für die Position des Subjekts oder die Selbstgegenwart des Ich ein echtes Bild und Zeichen, ein originäres Symbol ausfindig machen?

Was heißt es aber ein Ich-Symbol zu verstehen? Wenn ich die Wanderkarte richtig lesen will, muß ich mithilfe des stellvertretenden Symbols, des Pfeils, meinen Standort oder meine Position im geographischen Umfeld oder Kontext ausmachen. Habe ich mich solcherart in der Umgebung symbolisch verortet, kann ich meinen Weg in die von mir gewählte Richtung fortsetzen, wozu mir die auf der Karte aufgezeichnete Umgebung die eine und andere Option eröffnet.

Die Karte ist ein alter Typus originärer Zeichen und Symbole für Gegenstände und Sachverhalte: Blaue Linien vertreten Bäche und Flüsse, blaue Flecken Seen, winzige Bilder von Tannen oder Laubbäumen Tannen- und Laubwald, kleine Kreuze einen Friedhof, ein abstrahiertes Geweih einen Forsthof oder ein Pokal ein Gasthaus.

Mit den Zeichen auf der Karte und den Erklärungen der Bedeutung der Zeichen in der Legende erfassen wir ein semantisches Ur-Muster der Relation von Zeichen und Welt.

Was stellt aber das Pfeil-Symbol dar? Gibt es uns die semantische Relation zwischen dem, der die Zeichen liest, und der Welt, die sie repräsentieren?

Verdeutlichen wir den Sinn der Frage an einem anderen Beispiel: Auf einer Abbildung, einer Zeichnung oder Fotographie, des vatikanischen Konferenzsaales, in dem der Papst Generalaudienzen abhält, befindet sich auf der Tribüne ein Sitz, der dem Papst vorbehalten ist. Könnte der Papst angesichts einer solchen Abbildung den abgebildeten Sitz als Ich-Symbol lesen und verstehen, indem er sich sagt: „Dieser Sitz ist einzig meiner Person vorbehalten“? Oder könnte die Königin von England das königliche Wappen als Ich-Symbol sehen und verstehen, indem sie sich sagt „Das Wappen repräsentiert mich in meiner königlichen Würde“?

Der Papst und die Königin (oder der König) von England sind singulär, insofern es zur selben Zeit jeweils nur ein Exemplar dieser besonderen Art von Würdenträgern gibt. In dieser Singularität entsprechen sie der Singularität der Position des Subjekts, auch wenn es faktisch Milliarden davon gibt, aber die jeweilige Subjektposition kann in Raum und Zeit jeweils nur von einem Exemplar unserer Gattung eingenommen werden, wie die Position des Subjekts jeweils von einem Wanderer vor der Wanderkarte eingenommen zu werden pflegt.

Ein Sitz in einem Konzertsaal oder das Wappen eines Vereins eignen sich mangels einer singulären Referenz nicht zu Ich-Symbolen. Dagegen bilden Fotos von Gesichtern oder Fingerabdrücke aufgrund ihrer substantiellen Teilhabe an den physischen Eigenschaften ihrer Träger keine Symbole, da ihnen die erforderliche semantische Bezugnahme fehlt.

Das Ich-Symbol des Pfeils auf der Karte zeigt mir nicht nur meine lokale Position, sondern steht für eine Virtualität von bestimmten Handlungen, die ich an dieser Position oder von ihr aus ausführen kann, nämlich von dieser Position aus in diese oder jene Richtung zu gehen. Es bedeutet so viel wie: Von hier aus kannst du weitergehen (einen Weg und eine Richtung deiner Wahl einschlagen). Hier sind wir geneigt, das Ich-Symbol als Verweis auf mögliche Handlungen zu verstehen.

Wenn wir die mögliche Handlung mit V abkürzen (dem Zeichen für eine beliebige Handlung, dem Verb) und denjenigen, der sie ausführt mit N (dem Zeichen für eine beliebige Person, dem Namen oder einer geeigneten Kennzeichnung), können wir eine allgemeine Formel aufstellen, die die Bedeutung des Symbols S (für das Subjekt) definiert:

S = V (N)

Wir können zusätzliche Indikatoren bei N einfügen, die die Person eindeutig definieren würden wie die Raumkoordinaten und die Ortszeit bei einer Kennzeichnung.

Im nächsten Schritt bezeichnen wir den Weg, den die Person einzuschlagen beabsichtigt oder tatsächlich beschreitet, beispielsweise mit dem Zeichen R (für Rheinhöhenweg) und erhalten die Formel für das erweiterte Symbol:

S = V (NL, T) R

Wir können diese Formel so lesen: Eine Person führt (am Ort L zur Zeit T) eine Handlung aus, die sich auf den Bereich R bezieht. Der Bereich, auf den sich das Handeln bezieht, ist das intentionale Objekt des Handelns, das wir einfach mit dem Buchstaben O für das direkte oder indirekte Objekt des Handelns oder den intendierten Sachverhalt bezeichnen. So erhalten wir schließlich die allgemeine Formel:

S = V (NL, T) O

Das intentionale Objekt umfaßt alles Mögliche: von Einzeldingen über Mengen von Gegenständen bis hin zu einfachen und komplexen Sachverhalten sowie anderen Personen.

Wir können mit der Formel das Handeln oder die Handlungsabsicht einer jeden Person an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit sowie den Bereich erfassen, auf den sich ihre Handlung bezieht.

Diese allgemeine Formel gibt uns ein Muster der grammatischen Struktur der Sprache in die Hand, insofern sie semantisch offen ist: Werden die offenen Stellen oder semantischen Variablen durch Einsetzung geeigneter Begriffe und Namen geschlossen, erhalten wir einen sinnvollen Satz, der von einer bestimmten Person etwas aussagt.

Doch woher wissen wir, daß mit dem Symbol derjenige gemeint ist, der es gebraucht, woher wenn ich es benutze, daß ich selbst gemeint bin? In der Tat, mit dieser Formel und dieser Symbolik erfassen wir NICHT die Tatsache, daß es sich bei dieser Person um denjenigen handelt, der das Symbol gebraucht oder liest, um MICH SELBST. Wir erfassen demnach nicht die von uns angezielte allgemeine Formel für das Ich-Symbol.

Kehren wir also wieder zu unserer Ausgangssituation und zu dem ikonischen Zeichen für DICH und für MICH, den Pfeil auf der Wanderkarte, zurück. Wie gelingt uns die Projektion unserer Selbstgegenwart auf dieses Zeichen? Wie lesen wir das grafische Zeichen nicht nur als Symbol für die lokale Position einer beliebigen Person, sondern als Ich-Symbol, also als Zeichen für unsere Gegenwart?

Ziehen wir zur Verdeutlichung folgendes Beispiel heran: Ich finde in meiner untersten Schublade ein altes Typoskript, augenscheinlich tagebuchartige Aufzeichnungen, die jemand vor Jahren angefertigt hat. Da lese ich Sätze wie diese: „Nachdem mich V. verlassen hatte, suchte ich mir die leere Zeit durch lange Spaziergänge zu vertreiben. Ich wanderte den Rheinhöhenweg entlang und kam bis St. Goar.“ – Plötzlich erinnere ich mich daran, daß ich selbst die Person bin, von der in diesen Sätzen die Rede ist, daß es sich also um ein altes Tagebuch von meiner eigenen Hand handelt.

Was geschieht hier? Nun, ich erkenne in dem grammatischen Zeichen für die erste Person Singular das Ich-Symbol, das mich selbst oder meine (vergangene) Selbstgegenwart bedeutet.

Das Tagebuch hätte auch eine Autobiographie einer anderen Person oder eine fiktive Lebensbeschreibung eines Autors sein können (eines Autors, mit dem ich einmal befreundet war und der mir seine Notizen ausgehändigt hatte): Wären mir diese Umstände bekannt, würde ich in diesen Fällen das in den Aufzeichnungen verwendete grammatische Subjekt der ersten Person selbstredend nicht als Symbol meiner (vergangenen) Selbstgegenwart oder als mein Ich-Symbol lesen und verstehen.

Schließlich können wir die Möglichkeit nicht ausschließen, daß es sich bei den tagebuchartigen Aufzeichnungen nicht um echte autobiographische Notizen handelt, sondern wohl um tagebuchartigen Aufzeichnungen von meiner Hand, doch solche, die rein literarische Entwürfe zu einer fiktiven Lebensbeschreibung einer fiktiven Person in Ich-Form darstellen.

In all diesen Fällen vertritt das grammatische Subjekt der ersten Person Singular NICHT die Subjektposition dessen, der die Zeichen verwendet und liest: Wenn ich die Autobiographie eines anderen lese, komme ich nicht im geringsten auf die Idee, mich mit ihm zu verwechseln, nur weil ich seine Sätze in Ich-Form lese.

Wir können die Position des Subjekts auch nicht damit erklären, daß wir sie auf die Position des Sprechers festlegen, der gerade in der ersten Person Singular redet. Denn wenn ich meine Freunde zu einer Lesung der autobiographischen Bücher von Elias Canetti einlade, werden sie mich nicht mit dem Autor verwechseln, wenn ich seine in Ich-Form geschriebenen Sätze vortrage.

Übrigens finden wir in fiktiver Ich-Prosa naturgemäß auch all jene reflexiven oder rückbezüglichen Pronominalbildungen („mich“ und „mir“, „für mich“ oder das rückbezügliche „Ich“ der indirekten Rede: „Ich fragte mich, ob ich gemeint war“), ohne daß sich damit etwas an unserem grundsätzlichen Einwand gegen die Eigenständigkeit des Ich-Symbols änderte. Denn auch diese den Selbstbezug evident und augenscheinlich machenden Reflexivbildungen verhindern nicht, daß im konkreten Falle ihre Bezugnahme nicht auf mich, sondern auf den Autor oder den fiktiven Helden der Erzählung weist.

Blicken wir endlich auf den abweichenden oder (in Bezug auf den Normalgebrauch) parasitären Gebrauch des Pronomens der ersten Person Singular und Plural, der uns in den Masken der Schauspieler auf der dramatischen Bühne begegnet. Hier finden wir ein Doppeltes: Natürlich verliert der Schauspieler nicht seine personale Identität und Selbstgegenwart als Herr X oder Frau Y, wenn er die Rolle des Othello oder des Prinzen von Homburg und sie die Rolle der Prinzessin Orsina (in Lessings „Emilia Galotti“) spielt. Und auch der Zuschauer weiß, wen sie mimen und meinen, wenn sie auf der Bühne von sich, ihren Gedanken und Absichten, also von fremden Gedanken und Absichten, reden, als wären es die eigenen. Andererseits müssen gute Schauspieler doch in gewisser Weise so weit in der Rolle aufgehen und die Selbstgegenwart einer fremden Existenz so tief in sich aufnehmen, daß ihr Reden und Agieren glaubwürdig über die Bühne kommen. Keine Schauspielerin vermöchte glaubwürdig die Orsina zu geben, wenn sie nicht aus ihrem eigenen Selbst gewisse Anteile der erotischen Intrigantin und Femme Fatale zutage fördern könnte.

Die Maske des Ich verwendet keine anderen Ausdrucksmittel als das unmaskierte Normal-Ich. So finden wir es nicht nur bei Bühnenrollen, sondern leider auch bei Betrügern und Hochstaplern, die nur dann die innere Grenze des wahren und falschen Selbst überschreiten oder sich ganz vom parasitären Selbst gleichsam aufzehren lassen, wenn es sich um psychiatrische Grenzfälle des Borderliners oder Psychotikers handelt.

Gewisse Formenkreise der Depersonalisierung fassen wir in einer eigentümlichen Symptomatik: So reden manche Patienten manchmal von eigenen Erlebnissen oder Gedanken als von Erlebnissen anderer oder ihnen von Fremden aufgenötigten Gedanken – sie machen dann Äußerungen, in denen wir in der erste Person von uns reden würden, in der dritten Person.

Auch diese Beispiele und Fälle zeigen, daß wir im Gebrauch der ersten Person des Personalpronomens oder im sprachlichen Ausdruck der Selbstgegenwart auf unsicheres Terrain geraten können – die abweichenden Fälle und den Normalgebrauch mittels eines originären Ich-Symbols zu unterscheiden, dagegen mißlingt.

Wir kommen demnach, was die Möglichkeit angeht, eine sich selbst erklärende, unmittelbar evidente und aus sich selbst verständliche allgemeine Formel für das Ich-Symbol oder ein originäres Zeichen für die Selbstgegenwart des Subjekts zu bilden, zu einem negativen Ergebnis. Wir finden kein grafisches oder lautliches Symbol, das uns die Selbstgegenwart des Subjekts unmittelbar angibt oder unmißverständlich zeigt. Wie gesagt, ich kann „Ich“ sagen ohne mich zu meinen oder von mir zu reden.

Daraus folgern wir:

1. Wenn es kein eigenständiges, originäres Ich-Symbol gibt, ist die Position des Subjekts oder die Selbstgegenwart deiner und meiner Existenz keine sprachliche Tatsache, sondern eine sprachunabhängige Tatsache. Ich kann nicht ich zu sein lernen, indem ich „ich“ zu sagen lerne. Ist aber ich zu sein keine durch den Spracherwerb zu erlernende sprachliche Kompetenz, so auch keine erlenbare Fertigkeit wie die Fertigkeit, Fahrrad zu fahren oder Schach zu spielen. Ich kann die Regeln des Schachspiels im Laufe der Zeit vergessen, nicht aber meinen Daseinsmodus, ich selbst zu sein. Demnach kann die Position des Subjekts einzunehmen weder gelehrt noch gelernt werden.

2. Die semantische Leerstelle des Ich-Symbols enthebt freilich die Ich-Funktion oder den subjektiven Modus unseres Lebens nicht ihrer fundamentalen Bedeutung in sprachlichen und sprachpragmatischen Kontexten. Diese Bedeutung zeigt sich beispielsweise in der Gewichtung unserer sprachlichen Handlungen, wenn wir für unsere Äußerungen und Aussagen wie Ankündigungen, Zusagen oder Versprechen, Lügen, üble Nachreden und Verleumdungen geradestehen und uns für sie verantworten müssen. Nur kann diese Bedeutung dessen, was wir mit „ich“ meinen, sprachlich nicht adäquat mittels Verwendung originärer Ich-Symbole ausgedrückt werden. Sie muß sich aber in unseren sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen fortwährend zeigen.

3. Beim fiktiven Zeichengebrauch, in der Literatur und Dichtung, können wir die semantische Leerstelle des Subjekts, die durch das Pronomen der ersten Person, und zwar sowohl im Singular als auch im Plural, repräsentiert und offengehalten wird, jederzeit mit unserer Selbstgegenwart ausfüllen. Lesen wir ein Herbstgedicht des späten Hölderlin, so ist uns gleich, als wäre es unser Herbst, indem es unsere Blicke von der Aussicht des Turmes in die schwäbische Landschaft leitet, ist uns, als wäre es der Herbst unseres Lebens oder die goldene Fülle unserer Lebenszeit, wir sehen (auch wenn wir nicht wirklich sehen) das kühle Blau des herbstlichen Himmels über dem fiktiven Neckar des Gedichts, auch wenn in Wirklichkeit da draußen schon Schnee liegt und der Himmel verhangen ist. Wir lesen in den autobiographischen Büchern von Elias Canetti, und er führt uns nicht nur in die schneeverwehte Steppe seiner Kindheitslandschaft, sondern wir selbst sitzen mit auf dem Bock der Pferdekutsche und sehen (auch wenn wir nicht wirklich sehen) voller Schrecken, wie hungrige Wölfe die Pferde anspringen.

Ich-Symbole sind demnach Schein-Zeichen, die nicht wie alle anderen Sprachzeichen für Gegenstände und Sachverhalte originäre Bezüge aufweisen. Sie sind wie der Pfeil auf der Wanderkarte semantische Hülsen, denen wir selbst Leben einhauchen müssen, indem wir sie mit unserer Selbstgegenwart anfüllen.

Der Gebrauch unseres Alltagszeichens „ich“ zur Erfüllung der Leerstelle der Position des Subjekts ist auch nicht wie landläufig angenommen in jedem Fall irrtumsresistent: Lesen wir tagebuchartige Notizen in der Ich-Form, die wir aus der untersten Schublade hervorgekramt haben, können wir sowohl dem Irrtum aufsitzen, sie handelten von uns selbst, obwohl sie Entwürfe einer fiktiven Autobiographie eines fremden Autors darstellen, als auch dem Irrtum, sie handelten von einer anderen Person, obwohl sie Bruchstücke unserer eigenen Lebensbeschreibung von eigener Hand sind.

 

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