Philosophische Konzepte: Gespräch
Sokrates eröffnet, führt und schließt das Gespräch. Der sokratische Dialog steht unter dem Stern eines Begriffs, der mal näher, mal ferner, heller oder blasser leuchtet. Erlischt er am Ende, stehen die Teilnehmer der Unterredung im Dunkel oder Zwielicht der Aporie. Ist das Sternlicht indes intensiv und konstant, scheint die Einsicht nicht fern. Wie erst, geht der Stern der Sterne auf, der alle anderen überblendet, die Sonne, auch wenn sie ungefährdet zu betrachten nur die Aura aus Dunst oder das spiegelnde Wasser erlaubt.
Das Licht der Begriffs-Sterne soll, so das Ziel des von Sokrates aufgerufenen methodischen Willens und seiner Gesprächsführungs- oder dialektischen Strategie, vermessen, die Sterne in symbolischen Konstellationen eingeordnet werden, die keine mythischen Namen tragen wie die Tierkreiszeichen, sondern abstrakte Namen wie Tapferkeit, Besonnenheit, Weisheit und Gerechtigkeit, das Wahre, Gute und Schöne. Von ihrer begrifflichen Natur aus betrachtet sind diese Konstellationen Ordnungen und Hierarchien von Begriffen. Der Gesprächspartner soll seinen Blick gleichsam aus dem Dunst und Wirrwarr der nächsten Umgebung in den klaren Himmel dieser aus sich leuchtenden begrifflichen Ordnung erheben.
Eine seltsame Art von Gespräch, eine merkwürdige Art, sich zu unterhalten. Pflegen gewöhnliche Leute wie du und ich doch nur ausnahmsweise zu später Stunde einmal das Fenster zu öffnen und einen Blick auf den Sternenhimmel zu werfen. Ansonsten reden oder plaudern wir über dies und das, über das Wetter, den schlimmen Verkehrsunfall an der Kreuzung, den neuen Chef im Betrieb oder eine lohnende Lektüre, zur Kurzweil erzählen wir uns Anekdoten und Geschichten über den und jenen, und stellen vielleicht fest, daß dein Freund Walter mit mir in dieselbe Klasse der Volksschule eingeschult worden ist.
Unser Gespräch wird nur zwischenzeitlich oder streckenweise durch den perspektivisch verengten oder vereinseitigten Blick auf ein bestimmtes Thema gleichsam enggeführt, wenn wir beispielsweise längere Zeit bei der Frage verweilen, ob der neue Chef recht daran tat, den Büroleiter einstweilen von seiner Funktion zu dispensieren. Ich machte den Einwand, daß sich der Büroleiter etliche Jahre in seiner Funktion bewährt und die Abteilung durch sein geschicktes Management und die Einführung einer neuen Verwaltungssoftware auf Vordermann gebracht habe. Doch mußte ich schließlich einräumen, daß gegen solche an sich triftigen Gründe der von dir vorgebrachte und durch unzweideutige Anzeichen erhärtete Verdacht, der Büroleiter habe seine Position mißbraucht, um Gelder zu unterschlagen, schwerer wiege.
Wir bemerken, daß wir in unserem Gespräch über die vorläufige Entlassung des Büroleiters Gründe für und gegen die Entscheidung des Chefs sowohl angeführt als auch gewichtet haben. Denn schließlich mußte ich mit meinen schwächeren Gründen gegen diese Entscheidung hinter dem von dir vorgebrachten stärkeren Grund für die Entscheidung zurückstehen. Damit haben wir die Entscheidung des Chefs als zumindest vorläufig korrekt, rechtens oder in sokratischer Diktion gesprochen als „gerecht“ gekennzeichnet.
Um zu diesem vorläufigen und mit allen Schwankungen der Wahrscheinlichkeitsannahme versehenen Schluß zu kommen, mußten wir unseren Blick nicht zur platonischen Sternenkonstellation namens Gerechtigkeit erheben. Wir kamen bei unseren Überlegungen gut ohne die seltsame Annahme der Existenz einer Entität und Tugend mit dem Namen Gerechtigkeit aus. Wir haben einfach das Handeln des Chefs unter Hinzuziehung eines plausiblen Handlungsgrunds als korrekte oder der Situation angemessene Entscheidung qualifiziert.
Was brachte einen überaus begabten Denker wie Platon dazu, in solch eklatanter Weise vom alltäglichen Sprachgebrauch abzuweichen, wenn er die seltsame ideale Existenz solcher Begriffe wie der Gerechtigkeit oder der Schönheit postulierte? Wir erklären diesen sprachlichen Exotismus und diese begriffliche Extravaganz aus der alltagsprachlichen Tatsache, daß das Altgriechische wie auch das Deutsche eine Nominalisierung von Adjektiven wie gerecht, schön oder gut möglich macht und erlaubt, als wäre was wir gerecht oder schön nennen gerecht und schön kraft Teilhabe an der Idee der Gerechtigkeit oder Schönheit, wo wir doch gerecht eine Handlung kraft der situativen Angemessenheit der ihr zugrunde liegenden Entscheidung und schön nennen, was uns kraft einer speziellen ästhetischen Anmutung beeindruckt.
Wenn wir wissen wollen, was Schönheit ist, hören wir einmal und mehrmals hin, wie Leute von einer schönen Aussicht, einer schönen Frau oder einer schönen Melodie reden. Und wenn wir sie fragen, weshalb sie die Aussicht schön nennen, erfahren wir, von dort blicke man auf eine weite, nicht zersiedelte und nicht von Schnellstraßen oder Windradkolossen verhäßlichte naturbelassene Landschaft, in der sich ein in der Sonne glänzender Fluß windet, wo Weiden und Birken an unbegradigt sich schlängelnden Ufern ihre belaubten Häupter im Rhythmus der Lüfte schwingen. Und desgleichen hören wir manches vom ausdrucksstarken Auge, der gebieterisch geschwungenen Braue, dem lichtdurchfluteten Haarschopf, den ebenmäßigen, von einem Schönheitsfleck einnehmend irritierten Zügen, dem graziösen Gang und der phantasievollen oder geistreichen Redeweise der schön genannten Frau. Die Melodie aber sei schön, vernehmen wir von dem einen, weil sie zu Herzen gehe, weil sie ihn an die unbeschwerte Jugendzeit erinnere, von einem anderen, oder weil sie weiche und sanft anmutende Klänge wie eine sprudelnde Quelle freigebig auf eine dürstende Wiese zu verschwenden scheine, weil ihre rokokohaft sich zierenden und schmeichelnd zerrinnenden Tonkaskaden, wie der musikalische Kenner anmerkt, sich keiner bestimmten Tonart und Stimmung zuordnen lassen, ihr Ausdruck aber übertöne gleichsam mit heiteren Gesten einen tiefen Schmerz.
Wir stören uns nicht wie Sokrates daran, daß die Leute uns Beispiele und Geschichten erzählen, wenn sie den ästhetischen Eindruck wiedergeben wollen, den sie schön nennen. Warum sollen wir argwöhnen, daß es sich bei der gleichsinnigen Etikettierung dieser ganz unterschiedlichen Eindrücke mit dem Prädikat „schön“ um einen Etikettenschwindel handeln muß, weil auf diese spielerische und nonchalante Art das all diesen Eindrücken vorgeblich zugrundeliegende identische Etwas, der Begriff oder die Idee des Schönen, verfehlt werde?
Uns genügen die Beispiele und Erzählungen von als schön etikettierten Erlebnissen und Eindrücken, wenn sie uns darauf hinweisen, daß es sich bei ihnen nicht um denselben Begriff in verschiedenen Maskeraden, sondern um eine ähnliche ästhetische Anmutung in mehr oder weniger starken Abwandlungen und Variationen handelt, Variationen, die neue Themen aufgreifen oder ein altes Thema gegen den Strich bürsten und gleichsam mit fremden Zeichen und Chiffren übermalen.
So gelangen wir dahin, neben das Etikett „schön“ eine durch diese Ähnlichkeit verknüpfte Mannigfaltigkeit ebenbürtiger Begriffe wie „ebenmäßig“, „harmonisch“, „ausdrucksvoll“, „anspielungsreich“ oder „auf rätselhafte Weise resonierend“ und manche andere noch viel außergewöhnlichere gelten zu lassen, ohne darüber bedenklich zu werden, ob sie sich alle akkurat und säuberlich in die Nischen unter- und übergeordneter Begriffe einer idealen Ordnung und Hierarchie aufpflanzen lassen. Auf diese Weise bereichern wir unser ästhetisches Vokabular, unbekümmert darum, ob alle Beispiele und Paradigmen anhand einer begrifflichen Elle sauber auszumessen sind. So widerstehen wir dem magischen Zwang, der von der Nominalisierug der Adjektive, Adverbien und Verben ausgeht und das mit dem Substativ Gemeinte mit der Aura einer statuen- oder sternhaften Einzigartigkeit oder mit dem Faszinosum einer geheimnisvollen metaphysischen Strahlung umgibt. Haben wir uns einmal von dieser Magie des Begriffs freigemacht, weisen wir eigensinnig und übermütig geworden die Suggestion von uns ab, als müßten alle Anwendungen eines Begriffs notorisch und starrsinnig auf einen festen Bedeutungskern abzielen oder darauf abgerichtet sein. Wir entlassen die Sprache und uns selbst von den leuchtenden Gängelbändern der sokratischen Begriffs-Sterne und schauen, ob die ins bunte Reich des Schönen ausgesandte Taube mit einem grünen oder goldenen Blatt, mit einer roten Kirsche oder einer braunen Nuß im Schnabel zurückkehrt – oder bisweilen auch mit einem sich in Todesangst ringelnden Wurm.
So fliehen wir in unserem Gespräch gern vor Begriffen und nüchternen Abwägungen, um was zu verfolgen? Nichts, nichts weiter, wir haben kein bestimmtes Gesprächsziel, sondern vertreiben uns plaudernd und schwätzend die Zeit, wenn wir wie unausbleiblich auf Kindheits- und Jugenderinnerungen kommen und auf deinen Freund Walter, von dem sich herausstellt, daß er mit mir zusammen die ersten Jahre der Schulzeit verbracht hat. Ich wußte noch, daß der Sohn der Familie Bach aus unserer Nachbarschaft mit mir zur Schule ging, doch hatte ich seinen Vornamen glatt vergessen. Du hast mich allererst darauf gebracht, daß der jüngste Sproß der Bach-Kinder eben kein anderer als dein Freund Walter ist.
Wir haben geplaudert und uns Anekdoten aus der Kindheit erzählt, ohne zu merken, daß wir dabei den philosophischen Gedankentrick der Identitätsrelation angewandt haben. Denn wenn dein Freund Walter das jüngste Kind der Familie Bach ist und wenn ich mit dem jüngsten Kind der Familie Bach gemeinsam die Schulbank gedrückt habe, dann habe ich zusammen mit deinem Freund Walter die Schule besucht. Indes, um diesen Gedanken zu erfassen, mußten wir nicht anhand des spiegelnden Abbilds der Sonne im Wasser über die Idee des Guten spekulieren und aufgrund der Einzigartigkeit dieser Idee postulieren, daß ihre Einheit und Selbigkeit sich in allen einzelnen Dingen und Handlungen, die wir gut nennen und als Einzeldinge identifizieren, widerspiegelt.
Wir nahmen einfach folgendes an: Wenn unsere Beschreibung eines Dinges A eine Bestimmung P1 enthält, die nur diesem Ding zukommt, und wenn unsere Beschreibung eines Dinges B eine Bestimmung P2 enthält, die nur diesem Ding zukommt, dann handelt es sich bei den beiden Dingen A und B um dasselbe Ding, dann und nur dann, wenn ihre Beschreibungen bedeutungsgleich oder synonym sind. Denn es gibt unter deinen Freunden nur einen namens Walter und es gibt nur einen jüngsten Sohn der Familie Bach, der mit mir zur Schule ging. Wenn also dein Freund Walter der jüngste Sohn der Familie Bach ist, dann ging ich mit ihm zur Schule. Auf diese Weise haben wir die erhabene metaphysische Annahme der Existenz der Idee der Einheit oder Selbigkeit in die bescheidene Form der sprachlichen Logik aufgelöst oder vielmehr allererst plausibilisiert.
Wir entdecken, daß unter der Oberfläche unserer alltäglichen Gespräche ein unsichtbares Netz logischer und argumentativer Strukturen ausgespannt ist. Dabei können sich allerdings bisweilen lose Fäden bilden und sich da und dort Verbindungslinien lockern oder gar reißen, ohne daß wir es gleich oder überhaupt bemerken. Wir plaudern weiter, ohne uns daran zu stören. Doch wenn uns eine Inkonsistenz auffällig wird oder ein Ausdruck doppelsinnig vorkommt, können wir den Schaden meist mittels sprachlicher Analyse beheben.
Im Normalfalle sind Gespräche in eine soziale Situation eingebettet, die den Teilnehmern ihre Rollen und dem Gespräch mit seinem Zweck auch das Thema und die korrespondierende Diktion (gleichsam seinen Zungenschlag und Idiolekt) vorschreibt oder ansinnt. Denken wir an das Vorstellungsgespräch, das Prüfungsgespräch oder die Disputation, das Gespräch mit dem Arzt, den Dialog mit dem Psychotherapeuten, das Verhör durch den Untersuchungsrichter oder die fachliche Unterredung mit dem Kollegen im Büro oder im Labor. Solche Gespräche sind terminiert und haben einen konventionellen Rahmen oder Kontext, der uns gewisse semantische Grenzen aufnötigt, die wir nur bei Strafe der Verwirrung oder der Hintertreibung des Gesprächszwecks überschreiten können.
Wir werden nicht die Offenheit und Vertraulichkeit, die wir beim intimen Liebesgeplauder schätzen, oder den Schalk und Sprachwitz, die wir unserem Freund zumuten, bei der ernsthaften Unterredung mit dem Vorgesetzen oder bei der nüchternen Absprache mit dem Versicherungsvertreter an den Tag legen, ohne unseren Zweck zu verfehlen oder Gefahr zu laufen, nicht für voll genommen zu werden.
Indes würden wir auch das lockere und ungezwungene Plaudern, Schwätzen und Tratschen mit dem besten Freund oder der Geliebten ad absurdum führen, wenn wir nicht gewisse selbstverständliche Konventionen der Dezenz, Rücksichtnahme und Feinfühligkeit beobachten, sondern uns etwa großmäulig, girrend oder dröhnend als unwiderstehliche Schwerenöter, alles niedersingende Sirenen und unbesiegbare Erlebenspotentaten aufbauen oder als hochtrabende Besserwisser aufführen, dem andern die Luft durch einen ungebremsten Redeschwall nehmen, ihn schamlos neckend und bleckend hochnehmen oder süffisant an seine Schwächen erinnern und Salz in seine Wunden streuen.
Daß es sich auch bei ungezwungenen Plaudereien um nichts weniger als (ein großes Wort zu gebrauchen) eine Form des sittlichen Weltumgangs handelt, zeigt sich an den fatalen Folgen von Flunkerei und Unaufrichtigkeit, Hochstapelei und Lüge. Dazu zählen nicht nur falsche Angaben und verfälschende Verschönerungen des eigenen Werdegangs vor dem Personalchef oder fremden Orts gepflückte Lorbeeren, die man dem Prüfer im Examen vor die Nase hält. Wir sprechen hier von einer existentiellen Unaufrichtigkeit, die bisweilen den Charakter des Unwillkürlichen und Manierierten annimmt, wenn sie gleichsam auf Dellen und umgeknickte Kanten im Selbstbild zurückgeht.
Wir können Mißverständnisse vermeiden und ausräumen, wenn wir Zweideutigkeiten aufklären oder mittels erhellender Beispiele und Kommentare Licht ins Dunkel bringen. Doch die Mißverständnisse, die aus dem Zwielicht innerer Unaufgeräumtheit und verdunkelnder Selbstverstellung aufsteigen, sitzen wie der Staub in finsteren Nischen tiefer und bedürfen des frischen Winds neuer Erfahrungen, die sie im besten Falle zerstreuen. Solche Erfahrungen können auch darin bestehen, die faulen oder abgestorbenen Zweige sprachlicher Klischees abzuschneiden oder einen neuen Gesprächston zu erproben.
Wir entdecken Blockaden des offenen Gesprächs in allen Formen der Befangenheit, dazu zählen nicht nur unangemessene Verlegenheit und Scheu oder bis zur Verstocktheit reichende Schüchternheit, sondern auch die Befangenheit in wie Masken angewachsenen Rollen, in denen man sich selbst inszeniert, die man aber auch dem Gesprächspartner aufgrund starrer Erwartungen überstülpt.
Wir haben Glück, wenn wir Gesprächspartner finden, deren Nonchalance und Sensitivität uns erlauben, unbefangen zu sein und zu reden, und deren Empathie uns die Zunge löst. Nicht weniger wiegt das Glück, wenn wir selbst den richtigen Ton anschlagen und die richtigen Worte wählen, Worte, die sich dem anderen nicht aufdrängen, sondern ihn ermuntern, eigene zu finden.
Das höchste Glück mag uns freilich geschehen, wenn der Worte genug gewechselt wurden und ein beredtes Schweigen eine tiefere, umfassendere Gemeinschaft bezeugt, die von keinem noch so einverständigen Gerede gestiftet werden kann. Geteiltes Schweigen nährt das Gemüt besser als geteiltes Brot.
Comments are closed.