Philosophische Konzepte: Gesicht
In jedes Menschen Gesichte
steht seine Geschichte,
sein Hassen und Lieben
deutlich geschrieben.
(Aus den Liedern des Mirza-Schaffy)
Zwei runde Kieselsteine im weißen Sand, zwei Punkte auf dem leeren Blatt genügen, und wir halluzinieren ein Gesicht.
In den diffus bewegten oder wogenden Stoffen wie Wolken, Zweigen, Blättern, im wirren Gekritzel und in jedem beliebigen Rebus aus Fetzen, Flocken, Mustern suchen und finden oder lesen wir mit Leichtigkeit ein Gesicht heraus.
Daß uns von allen Merkmalen des menschlichen Körpers das Gesicht am tiefsten eingeprägt ist und am eindrücklichsten entgegenblickt, zeigt die Tatsache, daß uns jemand bekannt vorkommt (und wir das Gesicht meinen), noch bevor uns sein Name einfällt, falls überhaupt.
Wir erinnern uns, phantasieren in den Tag hinein oder träumen: Kommt uns dabei wer vor Augen, so blickt er uns an oder blickt uns mit einem bestimmten Gesichtsausdruck an.
Der Blick oder besser die Art zu blicken und der Gesichtsausdruck hinterlassen nicht nur die tiefsten Erinnerungsspuren, sie bilden auch das Spielfeld der mimischen Unterredung, ohne welche die sprachliche Unterredung keinen Fuß auf die Erde setzen könnte.
Begutachten und bewundern wir die sprachschöpferische Kraft und Leistung der frühen Menschen, jener Altvorderen, die uns die Hauptwörter für die Teile des Körpers (der Pflanzen, Tiere, des Menschen) übermacht haben: So erfassen wir mit den Wörtern Gesicht, Angesicht und Antlitz das als umgrenzt empfundene sichtbare Etwas aus Augen, Nase und Mund, Stirn, Brauen, Lidern, Wimpern, Wangen, Nasenlöchern, Lippen, Kinn und Kehle (um nur diese zu nennen und sich nicht in den Details von Mundwinkeln, Grübchen und Schönheitsflecken zu verlieren). Das germanische Wort Gesicht bezieht sich auf den Ort des Gesichtssinnes, also den Sitz der Augen, und hebt so aus dem Phänomen sowohl das reine Sehen als auch das Blicken hervor.
Die lateinische Sprache (und davon abgeleitet die romanischen Sprachen) hat mehrere Wörter, die sich auf das Gesicht beziehen: facies (englisch face) im Sinne der sichtbaren Erscheinung, der gesehenen Form und Gestalt; vultus im Sinne des emotional getönten Gesichtsausdrucks, der Miene (vor allem der strengen und finsteren), frons mit der Bedeutung Stirn, doch vor allem im Sinne eines Gesichtsausdrucks als eines charakteristischen oder charakterlichen Merkmals (laeta oder tristis) und os im Sinne des durch den Mund, das Maul oder den Schnabel geprägten animalischen Gesichts. Der Unterschied von facies oder Gesicht zu os erhellt aus dem Gebrauch von os in der Bedeutung von „Maske“ oder auch von „Dreistigkeit, Frechheit“, wie uns der unbefangene animalische Gesichtsausdruck ebenso maskenhaft wie schamlos erscheinen kann.
Was wir mit dem Gesicht und der Miene ausdrücken und anderen willentlich, doch meist unwillkürlich zu verstehen geben können, tut uns der Esprit der Sprache in sprechenden Wendungen kund, wie wenn wir sagen:
1.1 Sein Gesicht hellte sich auf (verfinsterte sich, verdüsterte sich).
1.2 Als der treulose Freund das Zimmer betrat, legte sich seine Stirn in Falten (runzelte er die Stirn).
1.3 Als sie ihn herzlich begrüßte, lächelte er.
1.4 Als sein Kollege einen Vorschlag zur Güte unterbreitete, schürzte er nur verächtlich die Lippen.
1.5 Sein voller Mund war in den Jahren der Bitterkeit schmal geworden.
1.6 Sie erblaßte, als sie ihn nach Jahren auf dem Sterbelager kaum wiedererkannte.
1.7 Ein Anflug von Röte auf ihren Wangen blieb ihm nicht unverborgen.
1.8 Sie errötete verlegen, als er sich vor den Freunden über ihre neue Frisur lustig machte.
1.9 Um sein Gesicht zu wahren, tat er, als hörte er ihre unverschämten Anwürfe nicht.
1.10 Er verhüllte sein Gesicht, weil er sich seiner Tränen schämte.
1.11 Von nun an scheute er die Öffentlichkeit, denn ihm war, als habe er sein Gesicht verloren.
Das uns nächste Gesicht, das Gesicht der Mutter, verkörpert uns die Welt, und dies in ihren gegenläufigen und gegensinnigen Aspekten, denn ihrem „guten“ oder lächelnden Gesicht öffnen wir uns vertrauensvoll, vor ihrem „bösen“ oder finster blickenden ziehen wir uns verschreckt zurück (auch wenn wir als hilfloses Kind in die emotionale Leere fallen). Das gute Gesicht wollen wir wiedersehen, und weil die Mutter uns „lieb“ angeschaut hat, als wir lächelten, lächeln wir, damit es wieder erscheine. Das Lächeln bleibt uns als Ausstrahlungsphänomen des Vertrauens tief eingeprägt, und je schwächer wir uns fühlen oder sind, je ungewisser die Umweltsituation, umso mehr pflegen wir – und vor allem, sit venia verbo, die Vertreter des weiblichen Geschlechts – zu lächeln.
Wir können nicht mit einer Wange lächeln oder erröten, brauchen zwei Lippen, um eine Schnute zu ziehen, und blicken mit beiden Augen unser Gegenüber freundlich oder mißtrauisch, erstaunt oder gelangweilt an. Die Beidseitigkeit und Symmetrie des Gesichtsausdrucks entstammt naturgemäß der fast allen tierischen Organismen (außer Exoten wie Quallen und Krabben) eigentümlichen Achsensymmetrie des Körperbaus. Es ist jedenfalls merkwürdig zu gewahren, daß Lebewesen wie die Blütenpflanzen und die Bäume kein Vorn und kein Hinten haben, man kann sie leicht mit einem Blick umfassen oder um sie herum gehen, sie sehen von allen Seiten gleich aus – und sie haben keinen Ausdruck in dem Sinne, wie wir vom Gesichtsausdruck sprechen (auch wenn wir dichterisch angeregt alle mögliche Gesichter und gefühlshaften Ausdruckswerte oder Gebärden in sie hineinlesen).
Im tierischen Gesicht oder dem Gesicht, das wir mit den Tieren teilen, konzentrieren und verdichten sich die wesentlichen animalischen Lebensfunktionen: sehen und blicken, atmen und riechen, essen und töten. Beginnen diese Funktionen beim nahenden Tode zu erlöschen, spricht das Gesicht nicht mehr aus, was der Sterbende empfindet, sondern wird stereotyp und maskenhaft (eingesunkene Augen und Wangen, hervorstechende Nase der Moribunden, sog. Facies hippocratica), sind sie im Tode erloschen, sinkt das sie tragende Gesicht ins vag Leere und entspannt Ausdruckslose.
Augen und Mund sind atmosphärisch dichte, unwillkürlich exponierte Gesichtspartien, denn sie sind beide sowohl rezeptive (sehen, essen, trinken) als auch agierende Organe (blicken, sprechen). Dabei fällt auf, daß wir weder sehen noch blicken lernen (es sei denn wir reden emphatisch oder hochtrabend über Kunst) und daß wir ebensowenig essen und trinken lernen – indes lernen wir das Sprechen. Doch ob wir die Intonation, den Sprechrhythmus und die Klangfärbung, falls wir keine Sprechausbildung an der Theaterakademie absolvieren, zu beherrschen und zu stilisieren lernen, darf bezweifelt werden, zu viele triebhaft-unwillkürliche Impulse schleichen sich in sie ein.
Der Mund ist uns ein Organ und Ausdrucksträger höchster Dichte und Ambivalenz. Auf dem urtümlichen Hintergrund der Fütterung durch den mütterlichen Mund wird uns der Kuß zum vehementen Liebesausdruck. Doch selbst seine intime Macht kann im verräterischen Kusse vergiftet werden. Daß wir mit dem Mund und den Zähnen, den Lippen und der Zunge und der ganzen Fülle des Atems zu verletzen und zu töten verstehen, wenn auch nicht wie die Tiere im wörtlichen Verstande durch Beißen und Zerreißen, entnehmen wir den schlichten Sprachhandlungen des verletzenden Höhnens und beißenden Spottens, des Beleidigens, Verleumdens, Rufmordens, der demütigenden, verkleinernden, mißachtenden Rede, den entstellenden, verzerrenden, entblößenden Anwürfen, den mündlichen Tätlichkeiten von Entehrung und Verrat. Wir verletzen und töten mit nichts als Worten. Naturgemäß wird dies in Machtgefügen zwischen Tätern und Opfern augenscheinlich, wenn der Machthaber durch einen schlichten Befehl Leben auslöschen oder der messianische Führer durch ein heischendes Bellen zur Hinrichtung auffordern kann. Da wir stets in Situationen auch noch so geringen ungleichen Machtgefälles leben, wird der Zwiespalt im Ausdruck und der Wahrnehmung des Munds immer aufs neue genährt.
Die Ausstrahlung ist ein charismatisches Phänomen und läßt sich an der Aufmerksamkeit ermessen, die ein Gesicht, und insbesondere Augen und Mund, aufgrund der sozialen Situation für sich beanspruchen kann: So ist das Gesicht des charismatischen Führers meist ein politisch-technisch aufgerichtetes Medium faszinierter Aufmerksamkeit, auf das der Topos von jenen, die an seinen Lippen hängen, nicht nur einen übertragenen Sinn erhält. Hier wird der Redner zum Vormund und die gebannten oder entmündigten Hörer zu seinen Mündeln, denen der Wortschwall den Mund stopft. Das Großmaul nimmt kein Blatt vor den Mund, während der verzagte, kleinmütige Untergebene oder Unterlegene den Mund hält, sich davor hütet, durch lautes Denken sich den Mund zu verbrennen, und sollte er sich zu einer Äußerung unterfangen, Schmidt-Schnauze nach dem Munde redet.
Auch die Situation der Liebenden ist nicht frei von der Ambivalenz des Organs, das Sprache und Nahrungsaufnahme auf sich vereinigt, wenn wie es kaum verhindert werden kann ein Ungleichgewicht den einen über den anderen Partner wie bei einer Schaukel hervorhebt: Stets ist der Unterlegene der Gefahr der Verwerfung, Ausstoßung oder Vernichtung durch den oben Schwebenden ausgesetzt. Dabei erhält das verwerfende, schmähende, vernichtende Wort sein Äquivalent in der Verweigerung des Kusses und (vor allem in archaischen Gemeinschaften) der Nahrung. Wir bemerken, daß in der Liebesgemeinschaft das Wort zur Nahrung werden kann, die den Geliebten aufrichtet und ihm Kraft und Gesundheit schenkt, während das entzogene Wort wie die aufgenötigte Hungerkur ihn an Leib und Seele abmagern, siechen und sogar sterben lassen kann. Am Ende spricht immer einer ein letztes Wort, „Nein!“, und der andere verstummt.
Ist die Schaukel in der Waage, wird das dargereichte Wort Brot, doch meist sind es Leckereien wie Schmeicheleien oder neckende, lustige, unterhaltsame Reden ohne tiefere Bedeutung. Hier ist den Liebenden auch das Schweigen vergönnt, ohne daß es die dunkle Atmosphäre der Abwehr, Verweigerung oder Drohung verbreitet. Die versöhnt oder vertraut Liebenden schauen sich nicht immerzu gebannt ins Gesicht, wie es die Verliebten tun, die nur ja keinen bestätigenden, jasagenden Blick verpassen wollen, oder aber die Zerstrittenen, die ein kleines Lächeln als Hoffnungsschimmer, das kurze Befeuchten der Lippen als fast erlangten Kuß beobachten und lesen.
Der Blick eröffnet ein gestisches Spiel eigener Art. Auf keiner Schule wird dieses raffinerte Spiel erlernt, und doch beherrschen wir seine Nuancen und Abwandlungen alle, wenn wir unsere Blicke von der Aussicht über Tal und Strom ruhig weiden lassen, das Auge am Grün der Wiese und an den bunten Tupfen des Gartens sättigen, den Schatten des entgegenkommenden Autos mit einem Wimpernzucken registrieren und vor ihm blitzschnell ausweichen oder uns schlafwandlerisch durch den Albtraum einer wimmelnden Menschenmenge auf der Einkaufsmeile hindurchmanövrieren.
Das Spiel des Blicks wird zum Teil des Sprachspiels, wenn wir uns unterhalten, unterreden und von Gesprächen geleitet und ermuntert gemeinsam zielgerichtet handeln oder schwätzend und plaudernd ins Blaue hinein uns miteinander vergnügen. Der eine kann mit Blicken die Richtung weisen oder Achtung einfordern, der andere die Augen beschämt oder entmutigt niederschlagen, der eine kann aufmunternd, verführerisch oder drohend blicken, der andere verschmitzt blinzeln, fassungslos glotzen oder entsetzt die Augen aufreißen, wiederum kann einer demonstrativ oder ergriffen die Augen sinnend schließen, den Blick unruhig schweifen lassen oder den anderen herrisch oder panisch fixieren oder ungläubig anstarren.
Wir bemerken, daß all diese Spielformen des Blickens sowohl das verbale Gespräch unterstützend, unterbrechend oder irritierend begleiten als auch stumm vonstattengehen können, ohne an Kraft und Gewicht des Ausdrucks und der nonverbalen Mitteilung einzubüßen. Denn wir verstehen auf der einen Seite den Blick und das blickende Gebaren des anderen, ohne nachfragen zu müssen, und können ihm auf der anderen Seite mit unseren Blicken Genüge tun und gleichsam Rede und Antwort stehen.
Was wir vom Zwiespalt und der Ambivalenz im Ausdrucksgebaren des Mundes sagten, gilt mutatis mutandis auch für den Blick. Denn wir können mit Blicken gleichsam streicheln und küssen und wir können mit Blicken verletzen und töten wollen. Wir blicken freundlich, liebevoll oder zärtlich und wir blicken böse, herzlos und stechend. Wir können mit schamlosen, infamen, entblößenden Blicken jemanden beschämen und demütigen. Wir können mit bewundernden oder achtsamen Blicken jemanden aufrichten oder als ebenbürtig anerkennen. Wir würdigen jemanden unseres Blickes oder brechen über ihn den Stab, indem wir ihn wie einen leblosen Klotz begaffen oder achtlos über ihn hinwegsehen.
Unsere Gesichtswahrnehmung ist nicht nur individualisierend, sondern auch typologisch. So wenn wir das typisch weibliche Gesicht vom typisch männlichen unterscheiden oder das kindliche, jugendliche, reife und alte Gesicht, von der Typologie der Völker und Rassen wie tunlich zu schweigen. Die prompte gefühlsmäßige Reaktion auf das Kindchen-Schema ist jedermann bekannt und muß nicht ausgewalzt werden. Doch darf daran erinnert werden, daß wir diesen Typus mimisch, aber auch in der Freude an Verkleinerungs- und Verniedlichungsformen in Laut und Bild, spontan nachbilden, wenn wir verliebt sind oder als Liebende noch bis ins gereiftere Alter warmherzigen Umgang miteinander pflegen. Insbesondere springt der normale Mann auf Mädchen und Frauen an, die ihm holde Reflexe des Schemas an Mund und Wange (neben der, gern mit mädchenhaftem Charme auch verstellten, hohen Stimmlage) widerspiegeln. Der emanzipierte Bubikopf, der sich dem männlichen Gesichtstyp mittels kurz geschorenen Haupthaars, ungeschminkter Züge und Redeweisen sowie herben Grimassierens annähert, kann ihm erotisch dagegen meist weniger imponieren.
Es hieße Eulen nach Athen tragen, würden wir unsere Ausführungen durch Beispiele aus der Kunstgeschichte belegen und bebildern wollen. Doch können wir eine hochbedeutsame Erscheinung in der Kunstgeschichte des Abendlands nicht schweigend übergehen. Wir meinen die Polarität des idealen oder göttlichen Gesichts, wie wir es im Antlitz Christi, der Engel und Heiligen, insbesondere im Gesicht Marias, erblicken, auf der einen Seite, und des dämonischen oder monströsen Gesichts auf der anderen Seite, wie es uns die Fratzen des Teufels und der Dämonen oder die brutalen Gesichter der römischen Soldateska auf Darstellungen der Passion Jesu zeigen. Die Polarität des idealen und des dämonischen Gesichts ist naturgemäß vom Gegensatz des Schönen und Häßlichen überlagert oder überdeterminiert. Das sanfte, ebenmäßige, aus sich heraus leuchtende Antlitz Jesu spiegelt eben jene göttlichen Tugenden wieder, von denen die Bergpredigt und der Römerbrief des Paulus handeln. Dies gilt auch für das Gesicht des Gekreuzigten, dessen kreatürliches Leiden erst spät wie bei Matthias Grünewald zur Kenntnis genommen und ohne oder vielleicht noch mit innerer Scheu gestaltet wird. Dabei ist der Ausdruck der Sanftmut und Schönheit auf dem Gesicht des Erlösers keineswegs die gleichgültige Fassade stoischer Apathie, sondern das Ausstrahlungsphänomen der übernatürlichen Gnade, das die Evangelien und die Briefe des Apostels Liebe nennen.
Man könnte abgekürzt sagen, daß die Heiligen mittels Askese und frommer Übungen oder ekstatisch-seelischer Levitationen dahin gelangen wollten, ein Gesicht wie das Gesicht des Herrn oder seiner Apostel zu bekommen. Beinahe frivol könnten wir von einer kosmetischen Variante der Imitatio Dei sprechen. Doch wissen wir nicht, welcher Anteil dabei gleichsam einer höheren Kosmetik, welcher dem verklärenden Einfluß von oben gebührt, von dem es heißt, daß er alles neu zu schöpfen willens und fähig sei. Das ersehnte Ideal verweist hier auf seinen eschatologischen Sinn. Es läßt sich indes in der christlichen Ästhetik des göttlich-idealen Gesichts eine paradoxe Gegensinnigkeit gewahren: Das asketische Verlangen nach Reinigung und Verklärung beschwört die dämonischen Kräfte herauf, die es bannen und befrieden will. Denken wir an die Versuchung des Hl. Antonius in den faszinierenden Darstellungen des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald oder bei Hieronymus Bosch, immer wird der greise Wüstenmönch von den bösen Mächten heimgesucht und dergestalt gepeinigt, daß seine hingebungsvollen Blicke auf das Ideal abgelenkt und seine Gesichtszüge mehr oder minder verzerrt werden.
Das göttliche Antlitz erhielt sich in der Ikonographie des Ostens und erfuhr eine merkwürdige Auferstehung in der abstrakten Allegorie Jawlenskys, der in ihr das Kreuz und die heilige Vierung erratisch exponierte. Dagegen wurde die Malerei des Westens allmählich säkular, als sich die Maler dem Selbstbildnis widmeten, wenn sie auch wie Dürer, in einer Mischung von Ehrfurcht und Überheblichkeit, noch vom idealen Gesicht fasziniert blieben. Bis sie sich des ganzen emblematischen Vorrats der monströsen, tierischen, triebhaften Gesichtsbildungen der alten Dämonen zur naturalistischen oder diabolisch-expressiven Steigerung des Spiegelbilds frei bedienten.
Es ist der christlich geprägten Kunst eigentümlich, daß sie sich bis weit in die Gesichtsdarstellungen der Renaissancemaler von den Idealen der Antike hat leiten lassen können – zeigen doch auch die Gesichter der lächelnden Kouroi der archaischen und klassischen Zeit, die olympischen Götter in den Figuren und Friesenreliefs der Tempel, aber auch die Porträtbüsten der hellenischen Dichter und Denker ideal typisierte Züge, die wohl Höhe, Macht, Souveränität, Gefaßtheit oder gebändigte Spannung ausstrahlen, aber nicht durch heftige oder triebhafte Emotionen verzerrt werden. Doch ist der Gestalter des göttlich-idealen Gesichts der Antike nicht der durch Christus inkarnierte Liebesgedanke, sondern der Gedanke des freien, schöpferischen Willens, der sich mit alles überschauendem Blick aus dem Chaos der Eindrücke freimacht und selbstgewiß in einem situationsneutralen, gleichsam ewigen Augenblick individualisiert.
Ebenso konnte sich die christliche Kunst in der Gesichtsbildung und Gestaltfindung ihrer Teufel und Dämonen bei den nächtlichen und unterirdischen Monstern und Fratzen der Furien, des Sphinx und Kerberos und etlicher Mischwesen des antiken Pandämoniums bedienen. Doch könnte man sagen, daß diesen bei aller Widerwärtigkeit und Häßlichkeit der Miene die verzerrende Wut der bösen Gesichter der christlich inspirierten Kunst fehlt, richtet diese sich doch, je ohnmächtig-verzweifelter desto wahnsinnig-entstellter, wider das Urbild des göttlich Schönen und Guten.
Wir kennen die zwanghafte Verzerrung und monströse Entstellung und Auflösung des Gesichts auch bei den psychotischen Patienten, die ähnlich wie die vom Teufel Besessenen vergangener Tage ein Minenspiel nebst Schreien, Lästern und Spucken an den Tag legen, als würde der alte Satan den gefaßten Mienen der Wissenschaft und der aller Wildheit abholden Aufklärung einen Zerrspiegel vorhalten. Wie der Autist scheint auch der Psychotiker außerstande, die Gesichter und Mienenspiele anderer zu decodieren.
Wenn Gesichter nicht nur typischerweise die allgemeinen Affekte, Emotionen und Stimmungen auf ephemere Weise zum Ausdruck bringen, sondern in den Gesichtszügen und im Mienenspiel, in den feinen Zügen des Munds und im verwinkelten und subtil innervierten Spiel der Blicke sich ähnlich wie in dem eigentümlichen Dialekt und Idiolekt, dessen ein Sprecher des Hochdeutschen in Berlin-Charlottenburg im Gegensatz zu einem Sprecher des Berlinerischen in Berlin-Marzahn sich befleißigt, all die affektiven Strebungen und Konflikte, die lebensgeschichtlichen Färbungen, Linien und Brüche, aber auch die seelische und intellektuelle Mitgift, ob zur Entfaltung gebracht oder verstümmelt und verwahrlost, wenn sich all dies in den Zügen und im Mienenspiel abspiegelte, könnte man nur ausrufen: Wer darin zu lesen verstünde! Und wirklich, dünkt uns nicht eine Welt das feingliedrige, ebenmäßige und edle Gesicht des gebildeten und abgeklärten adligen Brahmanen vom brutal verzerrten, lüsternen, lauernden Gesicht des Mitglieds einer Gang in Chicago, eines mehrfachen Mörders und Räubers, zu trennen? Doch von diesem allzu plakativen Unterschied zu der feinen Wahrnehmung und subtilen hermeneutische Lektüre von Gesichtern zu gelangen, die uns verrät, ob wir uns mit einem Menschen näher einlassen oder ihn besser meiden sollten, wäre eine Kunst, die nicht nach Schema F klassifizierte, sondern neben dem sichtbaren Ausdruck des verwöhnten Kindes den zumeist verdeckten des unreifen Phantasten, neben dem sichtbaren Ausdruck des von Enttäuschung und Verbitterung gezeichneten Gesichts den fast verborgenen Zug von Hochsinnigkeit und Großzügigkeit entdeckte.
Gewiß stellt uns die kulturell auferlegte Maskierung der Gesichtsmimik, wie wir sie beispielsweise aus der japanischen Welt kennen, vor Grenzen des spontanen Verstehens, doch sie betrifft rituell eng umgrenzte Ausdruckswerte der Scheu und Zurückhaltung im Umgang gerade mit Fernerstehenden oder sozial Höherstehenden. Ansonsten gehen wir von der Universalität der kommunikativen Bedeutsamkeit und Verständlichkeit des Gesichtsausdrucks aus, nicht nur wie immer bemerkt im physiognomischen Ausdruck der primären Emotionen wie Freude, Angst, Trauer, Wut, Scham und Ekel oder in den unwillkürliche Regungen des Lächeln und Weinens. Wir meinen, daß auch die dargetane ursprüngliche Ambivalenz in der Wahrnehmung von Blicken und dem Mienenspiel des Munds, aber auch das frei agierende und das ins Sprachspiel eingebettete Spiel der Blicke zu den anthropologischen Universalien zu rechnen sind.
Wie immer wir die Schönheit des schönen Gesichts bestimmen mögen, gewisse Begriffe und Eigenschaften wie Ebenmaß, Symmetrie, ausgewogene Proportioniertheit der Teile, spannungsvolle Harmonie oder intensive Lebendigkeit des Ausdrucks können wir nicht vermeiden oder dem Zeitgeist eines schrankenlosen Konstruktivismus opfern, der die Physiognomik als Gaukelspiel mit bösen Absichten zu entlarven wähnt und Mimik und Ausdruck des Gesichts dem Design menschlicher Willkür preisgibt. Was wir nicht loswerden, ist die Natur des tierischen und menschlichen Körperbaus und den ästhetischen Rahmen der naturgegebenen Achsensymmetrie. Wir sehen dies gut an Gesichtern und Gesichtszügen, deren natürlicher Makel uns einen Widerwillen einflößt, wie das spannungslos herabhängende Augenlid, die durch Warzen oder Akne entstellte Haut, das stumpf und blöde glotzende Auge, die aus dem Ganzen hervorstechende oder hakenförmig sich einbohrende Nase, der aufgestülpte Froschmund, die allzu fleischigen oder die eingeschrumpften Lippen. Eine milde Abweichung von der Achsensymmetrie ist uns angenehm, denn sie belebt den Eindruck lebensvoller Dynamik, wie erst die von der schnurgeraden Linie abweichende sanft geschlängelte und fein gewundene Linie uns kraftvoll und lebendig dünkt. Was uns stört, verwirrt und abstößt, sind aus dem Ganzen gleichsam herausgefallene und abgestorbene oder anarchisch ihrem Eigenleben frönende Gesichtsteile wie der frei ragende Turm oder die rüsselhafte Aufdringlichkeit des Riechorgans oder die ins Gesicht hineingedrückte platte Nase, eine am Gemeinschaftsleben nicht mehr teilnehmende Wange oder eine immer vorwurfsvoll oder schamlos herabhängende Unterlippe.
Wenn wir nicht den übermenschlichen Maßstab anlegen, demzufolge schön ist, was Gott gefällt (weil es ihm gleicht), so sagen wir gelassen, schön ist, was uns gefällt. Also, was dem weiblichen Blick (um nicht von Frauen zu reden) am Gesicht des Mannes, und dem männlichen Blick (um nicht von Männern zu reden) am Gesicht der Frau gefällt. Es ist, wie es scheint, immer das Gegenbild des eigenen Gesichts. So imponieren dem echten Weib (um idealtypisch von der Extremform auszugehen) die klare Stirn, die hageren Wangen, der entschlossene Mund und das kühne Kinn des ganzen Kerls (die idealtypische Extremform auf der Gegenseite). Mit anderen Worten, der weiblichen Frau gefällt ein Gesicht, das ihr die Strenge und Reife, den Mut und die Überlegenheit, die Selbstbeherrschung und Führungsqualität anzeigt, die sie als Mutter eines Vaters mit solchen Vorzügen schätzt. Halten wir uns bei den Träumen und Idolen des Mannes nicht lange auf und durchblättern gleich die Hochglanzmagazine der Schönheitsindustrie und Kosmetik. Was sich hier zum Schönheitsideal durchgemendelt hat, ist unter den Maskeraden aller Zeitströmungen von der Rokokoperücke über den eleganten Lidstrich bis zum Nasen-Piercing immer nur dies: reine, glatte, etwas durchschimmernde Haut, große, ein wenig feuchte Augen, lange Wimpern, fein geschwungene Braue, kleine bis mittelprächtige, doch möglichst nicht allzu krumme Nase, anmutig gewölbte Nüstern, etwas gehobene oder pausbäckige Wangen, ein fein gezeichneter oder üppig aufgesprungener Mund, der Sinnlichkeit ohne Derbheit und den Schmelz einer schönen Selbstverliebtheit verspricht, ein weiches Kinn, das weder flieht noch aneckt.
Wer weiß, wie Frauen aufgrund von Hautkrankheiten oder Brandverletzungen unter der Minderwertigkeit im Vergleich zu solchen idealen Gesichtszügen leiden und alles bis zur plastischen Chirurgie daransetzen, verlorenes Terrain wiederzugewinnen, wird das kosmetische Ideal des schönen Gesichts nicht ohne weiteres als repressive Idolatrie einer patriarchalischen Hinterwelt verwerfen.
Wir begnügen uns hier mit einem Hinweis: Gesichtstypen finden wir spezifischen Körperbautypen und Charaktertypen zugeordnet, und zwar können diese Zuordnungen anhand der von den Medizinern und Psychiatern Ernst Kretschmer und William Sheldon entwickelten Klassifikation vorgenommen werden. Allerdings scheint eine differenzierte Physiognomik des Gesichts und der Mimik auf Basis der empirisch fundierten Lehre von den körperlichen und charakterlichen Konstitutionen noch ein Desiderat der Forschung zu sein. Absehbar ist, daß die typisch (das heißt im statistischen Mittel) sanguinisch, pyknisch oder athletisch geprägten Gesichter auch ein diesen Körpertypen entsprechendes Charakterbild im Mienenspiel und dem Spiel der Blicke aufweisen. Das betrifft beispielsweise Merkmale wie die unterschiedliche emotionale Ausstattung der Charaktere und demgemäß des Gefühlsgebarens der Gesichter oder die Schnelligkeit und Adäquatheit der Reaktionen beim Blickwechsel.
Abschließend erlauben wir uns einen Ausflug in ein etwas dämmeriges Fragekabinett. Wir fahnden nach der ethischen Dimension, die wir an Gesichtern, ihrer Bildung und ihrem Ausdrucksgebaren, jenseits der Polarität von schön und häßlich glauben gewahren zu können. Wir beschränken uns hier auf den Gegensatz von edel und gemein. Grob taxiert bewegen sich die Gesichtstypen auf der Gaußschen Kurve der Normalverteilung, so daß wir ähnlich wie bei der faktoriell gemessenen Intelligenz hinsichtlich des Genies und des Idioten nur wenige Annäherungen an das Ideal des Schönen und das Antideal des Häßlichen konstatieren, dagegen in der Breite die vorherrschenden Mischtypen des Normal- oder Dutzendgesichts vorfinden. Mit dem edlen und dem gemeinen Gesicht sollte es demnach nicht anders bestellt sein, auch wenn es hierzu weder ausreichende empirisch fundierte Studien noch unumstößliche theoretische Annahmen gibt. Am ehesten scheint uns ein Bild vom gemeinen Gesicht vorzuschweben, wenn wir als Gemeinheit eben das bezeichnen, was wir meinen, wenn wir die entsprechenden Synonyme wie Niederträchtigkeit, Bosheit, Verruchtheit oder Verdorbenheit dafür einsetzen: ein Charakter, der wie der schwerkriminelle Verbrecher, der Serienmörder und Vergewaltiger, unter Einsatz brutaler und rücksichtsloser Mittel möglichst kurzfristige Befriedigung seiner Gelüste ohne den Aufwand der Sublimierung und des ethisch sauberen oder anständigen Umgangs mit den Mitmenschen zu erlangen sucht. Und doch will es nicht mit der nötigen Bestimmtheit und Eindeutigkeit gelingen, ein Gesicht, dessen Züge wir als roh, brutal und gemein zu kennzeichnen geneigt sind, von einem Gesicht zu unterscheiden, das einfach häßlich ist, weil es unserem Schönheitsideal widerspricht. Es könnte sein, daß Visagen gewisser Leute häßlich (geworden) sind, weil sie Verbrecher wurden, nicht aber gewisse Leute Verbrecher wurden, weil sie häßliche und gemeine Gesichter haben.
Umgekehrt finden wir wie bei Sokrates mehr oder weniger häßliche Physiognomien, obwohl wir nicht leugnen können, daß sich dahinter edle Charaktere verbergen. Und auf der anderen Seite kommen uns schöne, hübsche, gefällige Gesichter vor Augen, von denen wir ahnen oder aus den Illustrierten schwarz auf weiß erfahren, daß sie sich im Abschaum von Gemeinheit und Rohheit wälzen. Oder schauen wir nicht genau hin? Lassen wir uns vom ersten Eindruck blenden und irreführen? Wir wissen es nicht. Wir wissen zwar, daß die Anlage zu gewissen Gewaltverbrechen genetisch bedingt ist, aber kennen auch epigenetische Mechanismen, die allererst die relevanten Gene einschalten – oder auch nicht. Warum sollten Gene, könnten wir weiterhin fragen, die wenn sie epigenetisch aktiviert wurden beispielsweise zu einem hormonellen Chaos im Gehirn führen und die Sperren zu kriminellen Taten im präfrontalen Cortex abbauen, nicht mit Genkomplexen epigenetisch verknüpft sein, die zu einer charakteristischen Gesichtsbildung vom kriminellen Typus führen? Wäre dies der Fall, könnten wir die Neigung zum Verbrechen physiognomisch ausmachen, noch bevor es zur kriminellen Tat gekommen wäre. Doch dazu scheinen wir nicht wirklich in der Lage zu sein, denn bisher haben wir keine kausalen Mechanismen, sondern nur einige statistische Koeffizienten in der Hand, die einen solchen physiognomischen Zusammenhang wahrscheinlich machen – aber nicht beweisen.
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