Philosophische Konzepte: Erinnerung (Teil II)
Auf dem Tisch liegt ein Notizzettel, darauf eine Liste mit den nötigen Konsumartikeln wie Käse, Milch, Obst, Eier, Taschentücher. Wenn ich den Einkauf noch nicht erledigt habe, handelt es sich um einen Merkzettel oder eine Gedächtnisstütze. Während des Einkaufs kann ich jederzeit, falls ich mich an die Reihe der Lebensmittel nicht genau oder vollständig erinnere, den Zettel zu Hilfe nehmen. In solchen Fällen wäre Erinnerung der Rückgriff auf ein Inventar oder Muster von Zeichen, die mich anweisen, dies und das zu tun, zum Beispiel ein Stück Butter aus dem Regal zu nehmen.
Wenn ich den Einkauf getätigt habe, kann ich die Reihe der Lebensmittel mit der Liste auf dem Zettel abgleichen: Ist die Eins-zu-Eins-Relation vollständig, verwandelt sich mein Zettel aus einer Gedächtnishilfe in eine kleine Archivalie, ein Dokument über das Ergebnis meines Einkaufs.
Wir sprechen demnach sowohl davon, uns zu erinnern, wenn wir uns daran erinnern, was wir tun wollen, als auch, wenn wir uns daran erinnern, was wir getan haben.
Dem Musterbild (Zettel, Aufzeichnung) ist nicht unmittelbar zu entnehmen, ob er eine Gedächtnisstütze oder ein Zeugnis einer abgeschlossenen Handlung darstellt.
Woran erkennen wir die Echtheit oder Gültigkeit eines Zeugnisses und die Authentizität einer Archivalie? Wir vertrauen (blindgläubig) einer beglaubigenden Paraphe, einer Unterschrift, einem amtlichen Stempel, einem amtlichen Siegel. Wir finden am Rand des Einkaufszettels ein Datum mit der Bemerkung „erledigt“. Wir finden an den Zettel den Kassenzettel des Supermarkts mit allen nötigen Eintragungen angetackert. – Doch all diese scheinbar die Echtheit bestätigenden Zeichen könnten gefälscht sein (wie wir es beim Betrüger nicht anders erwarten, wenn er seine Zeugnisse und Diplome fälscht). Der Kassenzettel könnte der weggeworfene Belegabschnitt einer anderen Person sein, der zufällig mit den Angaben auf dem Merkzettel übereinstimmt, ohne daß ein einziger Artikel besorgt worden wäre.
Woran erkennen wir echte Erinnerungen? Sind echte Erinnerungen dem Merkzettel in der Weise vergleichbar, daß auch sie bei Gültigkeit eine vollständige Eins-zu-Eins-Relation aufweisen derart, daß jedem Erinnerungssatz ein wahrgenommenes Ereignis der Raum-Zeit entspricht?
Mit diesem scheinbar plausiblen Modell der Erinnerung können wir eine ihrer wesentlichen Eigenschaften, die darin besteht, etwas nicht bloß erkannt, sondern wiedererkannt zu haben, nicht gerecht werden – es sei denn, wir gehen wie Platon davon aus, daß alles Erkennen Wiedererkennen ist. Dann würde ich mich nicht nur daran erinnern, meinen Freund Manfred gestern im Park gesehen zu haben, sondern ihn im Park zu sehen implizierte bereits, mich daran zu erinnern, daß diese Person mein Freund Manfred ist.
Dagegen reden wir nicht von Erinnerung, wenn wir uns nach Jahren wieder aufs Fahrrad setzen und merken, daß wir der früh eingeübten Fertigkeit des Radfahrens noch immer mächtig sind. Wir erinnern uns an einen Fahrradausflug vor Jahr und Tag, aber nicht an unser Vermögen, Fahrrad fahren zu können.
Indes, haben wir einen Namen auf der Zunge, etwa den Namen der Hauptstadt von Australien, doch fällt er uns im Moment partout nicht ein, und plötzlich fällt er uns wieder ein, erinnern wir uns in der Tat an etwas, was wir einmal gelernt haben, etwa, wenn wir in der Schule die Namen der Hauptstädte der wichtigsten Länder eingetrichtert bekommen haben.
Wenn wir aufs Land fahren und die Stätten der Kindheit aufsuchen, werden wir uns bei allen Veränderungen des Bildes der Landschaft und des Heimatortes bald wieder an die alten Wege erinnern, die wir mit den Freunden und Schulkameraden gegangen sind. Hier scheint Erinnerung auf eine Art Abgleich der aktuellen Gesichtswahrnehmung mit eingeprägten Mustern früherer Erfahrungen hinauszulaufen. Doch scheinen wir diese Muster nicht bewußt aus unserem Gedächtnis aufzurufen, wie in dem Falle, wenn wir unterwegs einen alten Schulfreund treffen und sein Gesicht wiedererkennen: Wir haben es nicht mit dem Bild seines Gesichts, das wir aus der untersten Schublade unseres Gedächtnisses umständlich hervorgekramt hätten, eigens verglichen.
Wenn wir uns an die alten Wege erinnern, die wir einst in heimatlicher Landschaft allein oder mit Freunden gingen, erinnern wir uns (wie wir sahen) nicht daran, daß WIR es waren, die jene Wege beschritten, sondern, daß wir eben diese und keine anderen Wege zurücklegten.
Die Subjektivität unseres Daseins, die Tatsache, daß unsere Erinnerungen Teil dessen sind, was wir das autobiographische Gedächtnis nennen, ist kein Produkt dieses Gedächtnisses, sondern seine notwendige Voraussetzung. Diese ontologisch notwendige, also psychologisch nicht ableitbare Voraussetzung ähnelt den sprachlichen Handlungen, mit denen wir mittels der Verwendung von Personalpronomen von uns selbst im Unterschied von anderen sprechen: Wir könnten nicht von uns reden, wenn wir nicht das Subjekt unseres Sprechens wären. Ebensowenig wie wir lernen können, Erinnerungen als unsere Erinnerungen zu identifizieren, wenn sie nicht schon unsere Erinnerungen sind, können wir lernen, wir selbst zu sein, indem wir von uns reden, ohne vorauszusetzen, daß wir es sind, von denen wir reden.
Wir lernen wohl, wie die Dinge und die Welt um uns beschaffen sind, nicht aber, wir selbst inmitten dieser Dinge zu sein. Wir machen beliebig viele Erfahrungen von unserer Welt, Erfahrungen, an die wir uns erinnern, um in der Lage zu sein, neue Erfahrungen zu machen, aber wir erfahren nicht, daß wir es sind, die diese Erfahrungen machen: Denn wäre nicht a priori vorausgesetzt, daß WIR sie machen, existierten sie nicht.
Erinnerungen sind ein wesentlicher Zug des subjektiven Lebens, insofern sie uns in die objektive Welt einbetten, in der wir erwarten, daß der heutige Tag in groben Zügen dieselben Umweltmerkmale aufweist wie der gestrige. Wir erwarten daher nicht, daß uns die Schwerkraft mit einem Male heute keine Mühe macht, aufzustehen, aufrecht zu stehen und das Gleichgewicht beim Gehen zu halten. Daher versorgen uns Erinnerungen mit Gründen, etwas zu tun oder zu lassen, beispielsweise die Erinnerung an eine Brandverletzung, die Finger von der heißen Kochplatte zu lassen, oder die Erinnerung an den angenehmen Geschmack von Erdbeermarmelade, wieder ein Glas davon einzukaufen.
Erinnerungen sind ein wesentlicher Zug des subjektiven Lebens, insofern sie uns in die soziale Welt einbetten, in der wir erwarten, von unserem Bäcker oder Schneider oder Kioskbesitzer gegrüßt zu werden, weil er sich an uns erinnert. Desgleichen erfüllen wir die Erwartungen anderer, indem wir den Nachbarn oder den Freund mit der Grußformel grüßen, an die wir uns ohne weiteres erinnern. Sollte uns der Nachbar plötzlich nicht mehr grüßen, gehen wir nicht davon aus, daß er über Nacht vergessen hat, wer wir sind, sondern daß er damit seinen Unmut über unser störendes Verhalten wie wiederholtes nächtliches Lärmen zum Ausdruck bringt.
Aufgrund unserer Erinnerungen an geteilte Erfahrungen und gemeinsame Erlebnisse werden Nachbarn, Kollegen, Freunde zu einem Teil unseres Lebens. Nur aufgrund der bleibenden Erinnerung an eine Verbindlichkeit, ein Versprechen oder eine Schuld weitet sich der soziale Raum unseres Daseins zu einer moralischen oder sittlichen Dimension aus, die uns mit starken Gründen versorgt, ein Versprechen zu halten oder uns wegen eines nicht eingehaltenen Versprechens schuldig zu fühlen.
Nur weil wir aus dem Vorrat unserer Erinnerungen schöpfen, sind wir in der Lage, uns und anderen immer wieder in immer neuen Variationen Episoden unseres Lebens zu erzählen. Auch wenn wir schlicht berichten, was wir gestern gekocht oder wen wir getroffen und gesprochen haben, wie wir uns gefühlt haben, als wir vom Tod eines Freundes oder der Geburt des Kinds eines befreundetes Paares erfahren haben, stets wählen wir unsere Erinnerungen so aus und beleuchten sie derart, daß wir mit ihrer Erzählung ein Bild implizieren oder mehr oder weniger bewußt und gekonnt hinstellen und ausmalen, das wie ein Selbstportrait anmutet.
Es mag, je nach Gelegenheit und je nach Gesprächspartner dieses Bild von uns selbst, das wir aus dem Stoff und Vorrat unserer Erinnerungen gestalten, kleiner oder größer, grau oder farbenfroh, in Schwarz-Weiß oder Aquarell, naturalistisch oder abstrakt aussehen – in jedem Falle erweisen wir uns als mehr oder weniger dilettantische, mehr oder weniger geniale Künstler der Selbstdarstellung. Wir können diese Weise der kreativen Leistung auch mit den hauseigenen Begriffen literarischer Klassifikation kennzeichnen und bemerken, daß einer dazu neigt, seine Erinnerungen auf die dramatische Bühne zu heben, ein anderer sie in die vage und wolkige Atmosphäre lyrischer Stimmung zu versetzen, wieder einer sie in einen epischen Strom zu tauchen, der sich in viele Nebenflüsse verzweigt. Gewiß treffen wir auch öfters auf einen, der alles Erlebte ironisch auf den harten Fels einer Pointe auftreffen läßt, mit der er es wie unter einem geheimen Zwang wieder und wieder tragisch oder tragikomisch auf die ihm unzuträgliche, doch unabkömmliche Urerinnerung eines Traumas zurückführt.
Hier kommt der Hochstapler, Scharlatan oder Betrüger ins Spiel, der sein Leben als Roman erzählt, den freilich er selbst, doch nach fremden Vorlagen geschrieben hat. Diese Vorlagen sind vielleicht ihrerseits Romane wie Kitschgeschichten aus der Yellow Press oder wenn er hoch hinauswill eine komödiantische Maske wie Felix Krull von Thomas Mann. Wie färbt die mit fremden Erinnerungen aufgehübschte Biographie seine eigenen Erinnerungen ein? Jedenfalls muß der Hochstapler vorgeben, Erinnerungen zu haben, die in Wahrheit nicht die seinen, sondern die eines anderen oder erfundene Erinnerungen sind.
Machen wir ein Gedankenexperiment und stellen uns vor, jemand habe hinsichtlich einer bestimmten Periode seines Lebens sein Gedächtnis verloren und es bestehe aus medizinischer Sicht keine Hoffnung, daß er seine verlorenen Erinnerungen je wieder auffrischen und wachrufen könnte. Unter seinen Freunden gibt es nun einen, der als geborener epischer Erzähler über seine Umwelt und daher auch von den Begegnungen und ihm zugetragenen Lebensereignissen des unter partieller Amnesie Leidenden minutiöse Aufzeichnungen angefertigt und sogar auf Hörkassetten aufgesprochen hat. Der tapfere Sucher nach seinen verlorenen Erinnerungen hört sich nun Tag und Nacht die ihn angehenden Kassetten an. Unter diesen sind auch solche, die eine leidenschaftliche Affäre beschreiben, die er mit einer schönen Dame der Gesellschaft unterhielt, deren Name ihm freilich wie zu befürchten rein gar nichts sagt. Auch wenn er die eingehenden Schilderungen seiner amourösen Begegnungen auswendig lernte – er wird doch daraus nie eine lebensvolle Erinnerung an den verführerischen Duft des erotischen Augenblicks und der fleischlichen Wärme der echten Umarmung sich einverleiben können, wie sie derjenige hätte, der jene Schöne tatsächlich in den Armen gehalten hätte, obwohl und gerade weil unser bedauernswerter Patient sie im Arm gehalten hat. Er könnte sich am Ende einbilden, solche lebendigen Erinnerungen gehabt zu haben – aber glauben, sich an etwas zu erinnern, was man nicht erlebt hat, heißt nicht, sich daran zu erinnern.
Übertragen wir das Szenario auf den Hochstapler. Bei ihm wäre es nun umgekehrt so, daß er als hartgesottener Renommist vorgibt, eine Affäre mit einer schönen, eleganten Dame der besseren Gesellschaft gehabt zu haben (eingerahmte Bilder von ihr hängen sogar in seinem Büro), über die er infolge heimlicher Recherchen (Schnüffeln in fremder Leute Geheimnissen gehört ja zu seinem Metier) pikante Dinge zu flüstern weiß. Doch wie wenig fiktive oder gefälschte Erinnerungen inneres Leben zu gewinnen vermögen, zeigte sich beispielsweise daran, daß er jene angebliche frühere Geliebte, würde sie an ihm vorübergehen oder ihm im Café gegenübersitzen, nicht erkennen würde.
Wir schließen daraus, daß die Rede von fiktiven Erinnerungen in die Irre führt. Wir können von vorgeblichen Erinnerungen sprechen, wie beim Betrüger, der sich angeblich an die aufregende Disputation erinnert, in der er seinen gefälschten Doktorgrad erworben haben will. Ansonsten müssen wir von Wahnideen sprechen, wenn einer die Szene halluziniert, in der er mit dem Doktorhut versehen wurde, und von diesem Scheinerlebnis auftrumpfend berichtet.
Der souveräne Erzähler, und hier berühren wir den eigentlichen Bereich sprachlicher Kunst, behandelt den Erinnerungsstoff seines Lebens wie der japanische Maler das eine Motiv des Berges Fuji oder der großen Meereswoge oder Cézanne das eine Motiv des Berges Sainte Victoire, das er in zahllosen, nie sich erschöpfenden Variationen einem immer neuen Spiel von Licht und Schatten, Nähe und Ferne, Dichte und Transparenz unterwirft: Er erzählt den Roman seines Lebens oder sein Leben als Roman, dessen Autor zugleich immer als eine seiner erzählten Personen oder Masken auftaucht, die sogar wie ein Vogel aus dem Rahmen des Bildes zu entflattern scheint oder wie ein der ganzen Spiegelfechterei überdrüssiger Don Quichotte sich in die Stille der Entsagung flüchtet.
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