Philosophische Konzepte: Beschreibung (Teil II)
Einen wichtigen Anteil an für unser Leben bedeutsamen Beschreibungen bilden die Handlungsbeschreibungen oder Handlungsanweisungen, also Beschreibungen von Handlungen, die wir ausführen wollen, sollen oder müssen. Dazu zählen Kochrezepte, Beipackzettel von Medikamenten, Markierungen auf Wanderwegen, technische Pläne von Baustatikern, chemische Formeln für Pharmakologen, ärztliche Unterlagen wie Arztberichte und Röntgenaufnahmen für Chirurgen.
Wir können sagen, Beschreibungen der genannten Art und viele andere von solcher Art haben einen sachlichen Gehalt und erfüllen einen praktischen Zweck. Das Kochrezept enthält eine Liste der Lebensmittel und Zutaten und zugleich genaue Anleitungen, was man mit ihnen anstellen soll, um ein wohlschmeckendes Gericht zu erhalten. So zeigt die Röntgen- oder MRT-Aufnahme dem Chirurgen die genaue anatomische Lage und Struktur des krankhaft veränderten Gewebes zu dem Zweck, einen chirurgischen Eingriff zu planen, durch den er die Geschwulst entfernen kann. Die Röntgenaufnahme und die ihm vorliegenden Arztberichte geben dem Chirurgen keine expliziten Anweisungen, wie er bei der OP vorzugehen hat – diese Kenntnisse muß er mitbringen (sie können als detaillierte Beschreibungen medizinischen Handbüchern entnommen werden).
Für Beschreibungen mit empirischem Gehalt zur Erfüllung praktischer Zwecke gilt die Maxime: So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Damit der Kuchen gelingt, sind die Angaben seiner Zutaten nötig, aber die zusätzliche Beschreibung ihrer Herkunft und der Methoden ihres Anbaus oder ihrer chemischen Zusammensetzung ist überflüssig.
In Reiseführern über die Landschaft der Eifel finden wir naturgemäß Beschreibungen der Maare, jener Gewässer, deren Entstehung sich der geologischen Besonderheit der Gegend, dem Vulkanismus, verdankt. Anders als in Lehrbüchern zur Geologie des Vulkanismus beschränken sich die Exkursionen zur Erdgeschichte in den Landschaftsbeschreibungen von Reiseführen auf jene wissenschaftlichen Informationen, die dem Seherlebnis des Reisenden gleichsam Tiefe und Hintergrund verleihen.
Der kunstgeschichtliche und theologische Laie wird angesichts einer gotischen Kathedrale an der Seine oder am Rhein staunend, aber hilflos auf die steinernen Figuren der Propheten des Alten oder der Apostel des Neuen Testaments im Innern des Kirchenportals, die große Rosette und die spitzgiebeligen Fenster aus mit eigentümlichen religiösen Motiven bunt bemaltem Glas, das zierliche Maßwerk der Fialen oder die Kreuzblumen der Türme starren. Weil ihm die kunstgeschichtlichen und theologischen Begriffe und deren künstlerischer Gehalt fehlen, wird er die mit ihnen bezeichneten typischen Formen gotischer Architektur nicht erkennen, ja in gewisser Weise nicht sehen. Fehlen ihm aber die Begriffe, kann er das Gesehene auch nicht beschreiben.
Der Baedeker und andere kunsthistorische Reiseführer liefern so betrachtet nicht nur detaillierte Beschreibungen von Kunstwerken und Gebäuden verschiedener Stilepochen, sondern geben auch Anleitungen und Hinsichten, wie sie zu sehen seien.
Kommen wir zu den philosophisch bedeutsamen Beschreibungen, die wir täglich gleichsam unter der Hand ständig und spontan von Benehmen und Gebaren unserer Zeitgenossen geben und außeralltäglich beispielsweise in den charakterisierenden Beschreibungen der Protagonisten von Romanen und des Gebarens von Schauspielern in Theaterstücken (im Einklang mit ihren Regieanweisungen) oder auch in Portraits und Selbstportraits von Malern finden.
Wir konzentrieren uns hier auf Umgang und Redeformen unseres Alltags. So sagen wir etwa:
1.1 „Er ist rot geworden vor Zorn.“
1.2 „Sie krümmte sich vor Leibschmerzen.“
1.3 „Vor Aufregung zitterten ihm die Hände.“
1.4 „Vor Verlegenheit verschlug es ihm die Stimme.“
1.5 „Er schleppte sich wie unter einer schweren Last dahin.“
Wir sagen nicht:
2.1 „Er war zornig und wurde rot.“
2.2 „Sie hatte Schmerzen und krümmte sich.“
2.3 „Er war aufgeregt und seine Hände zitterten.“
2.4 „Er wurde verlegen und schwieg.“
2.5 „Ihn bedrückte ein schwerer Schicksalsschlag und er schleppte sich dahin.“
In der zweiten Reihe von Sätzen geben wir die traditionelle philosophische Sicht wieder, wonach ein seelisches Ereignis wie das Vorkommnis eines bestimmten Erlebens, eines Affekts oder einer inneren Empfindung (Zorn, Schmerz, Erregung, Verlegenheit, Depression) sich in einem körperlichen oder physiognomischen Ausdruck manifestiere. Nach dieser auf Descartes zurückgehenden Sichtweise sind wir gehalten, aus den einzig uns zugänglichen äußeren Verhaltensphänomenen oder dem Gebaren einer Person auf deren uns prinzipiell unzugängliches inneres Erleben zu schließen.
Nach dieser Auffassung sind wir beim Verständnis unserer Mitmenschen auf induktive Schlüsse angewiesen. Wir verfügen dieser Sichtweise gemäß bei der genannten Schlußfolgerung über folgende Prämissen:
I. die Beobachtung des Verhaltens und Gebarens, die wir in einer möglichst genauen Beschreibung festhalten
II. eine allgemeine Regel, wonach typische Verhaltensmuster von einem typischen seelischen Erleben oder einer typischen Verhaltensdisposition verursacht werden
Ein induktiver Schluß dieser Form sieht dann etwa so aus:
I. Die Person ist rot geworden.
II. Wenn Menschen zornig sind, läuft ihr Gesicht gewöhnlich rot an.
Ergo:
Die Person ist (wahrscheinlich) in Zorn geraten.
Natürlich ist dies eine Folgerung, die auf wackligen Beinen steht, denn Leute können aus allen möglichen Gründen rot werden, aus Scham, Verlegenheit, Wut oder wegen überhöhten Blutdrucks.
Warum die Person in diesem Fall aus Zorn errötet ist, können wir der in 2.1 angehängten Beschreibung, daß sie rot wurde, nicht entnehmen – auch nicht, wenn wir sie durch künstlerisch oder technisch ausgefeilte Beschreibungstechniken verfeinerten (wenn wir beispielsweise das Gesicht der Person mit einer Videokamera filmten).
Dagegen enthält unser Eingangssatz 1.1 gleichsam miteinander verzahnt oder verwoben sowohl das affektive Moment als auch das physiognomische Phänomen:
„Er ist rot geworden vor Zorn“
Wenn wir sehen, wie sich unsere Freundin (nach dem Verzehr von unreifen Pflaumen) vor Magenweh krümmt, beschreiben wir das, was wir sehen, mit dem genannten Satz 1.2:
„Sie krümmte sich vor Leibschmerzen.“
Wir würden nicht ausgehend von der Beobachtung und Beschreibung ihres Schmerzgebarens die Vermutung oder Hypothese aufstellen, daß sie vielleicht Magenschmerzen haben könnte. Denn wenn wir das beschriebene Verhalten von dem (uns unzugänglichen) inneren Schmerzerleben trennen, müßten wir auch die Hypothese oder den Zweifel zulassen, daß sie nur so tut, als habe sie Schmerzen, daß sie uns am Ende etwas vormache oder Schmerzen simuliere. Doch einen solchen Zweifel schließen wir unter den gegebenen Umständen einfach aus.
Wenn wir dagegen in einem Theaterstück den Helden von einem Pistolenschuß aus einer Schreckschußpistole scheinbar getroffen sich unter Schmerzen winden sehen, können wir sinngemäß und korrekt sagen:
„Er schien sich vor Schmerzen zu krümmen.“
In diesem Fall gehen wir rechtens davon aus, daß der Schauspieler keine echten Schmerzen hat – doch wir bezweifeln seine Schmerzäußerung nicht in der Weise, wie wir einem notorischen Simulanten die Echtheit seiner Krankheit und seines Unwohlseins in Abrede stellen.
Indes, weder im Fall des Schauspielers auf der Bühne noch in dem Fall des Schauspielers im Leben (des Simulanten) nehmen wir die kartesische Position des Skeptikers und des skeptischen Zweifels ein, denn die Trennung von innerem Erlebnis und äußerem Gebaren ist uns hier nicht problematisch (weil sie aus der Unsicherheit des induktiven Schlusses resultierte), sondern sei es konventionell, weil sie der Konvention von Bühnenaufführungen entspricht, sei es pathologisch, weil sie zum neurotischen Krankheitsbild des Simulanten gehört.
Wir gewinnen damit eine freie Sicht auf das Verhältnis von Erlebnis und Ausdruck oder Gebaren, das sich uns nicht mehr unbefragt als Verhältnis von Innen und Außen darstellt. Wir können es schlicht so ausdrücken, daß wir sagen: Der menschliche Körper ist immer auch ein Teil der menschlichen Seele, oder der Körper ist umso durchlässiger für die seelische Realität, je mehr sie in den Regungen und Bewegungen des Körpers Sprache findet.
Wer schwer an seiner Schicksalslast zu tragen hat, wandelt nicht leichtfüßig seines Wegs, sondern schleppt sich schwerfällig oder gekrümmt dahin, wie es unser Beispielsatz 1.5 ausdrückt:
„Er schleppte sich wie unter einer schweren Last dahin.“
Wir können hier dem kartesischen Skeptiker und dem gleichsam bis zur Willkür oder Schamlosigkeit radikalen Zweifler keine Sichtschneise mehr offenhalten, wenn er das seelische Erleben der Depression von seinem körperlichen Ausdruck abtrennt, um das Erleben als eine Vermutung unter anderen hinzustellen und der Beschreibung der gebeugten Haltung, des schleppenden Gangs und des niedergedrückten Wesens der Person eine kausale Erklärung nachzureichen. Könnte angesichts der von uns in Satz 1.5 gegebenen Beschreibung ein Zweifel zurückbleiben?
Wir verwenden in dem Satz eine der Dichtung vertraute vergleichende Metapher. Und es ist uns augenscheinlich, daß all unsere Beschreibungen seelischer Zustände, je genauer und nuancierter sie ausfallen, nicht ohne metaphorische Wendungen auskommen – und diese greifen ohne Ausnahme auf physische Eigenschaften und Ereignisse (wie in unserem Beispiel die schwere Last) zurück.
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