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Philosophische Konzepte: Beschreibung (Teil I)

19.11.2017

Folgender Satz gelte als einfache Form der Beschreibung:

1.1 „Eine rote Rose stand in einer Vase auf dem Tisch.“

Um seine Aussage empirisch überprüfbar zu machen, würden wir ihn in folgender Weise mit Orts- und Zeitangaben versehen:

1.2 „Eine rote Rose stand (am XX.XX.XXXX um XX.XX Uhr MEZ) in einer Vase auf dem Tisch (der Küche der Wohnung des Hauses in der X-Straße 2. Stock links in der Stadt Y)“

Nehmen wir nun an, der Satz stamme nicht aus dem Erinnerungsbericht eines Besuchers desjenigen, der in der Wohnung lebt, in der am angegebenen Tag eine Rose in einer Vase auf dem Tisch stand, sondern sei der Beschreibung eines Gemäldes entnommen, das eben eine solche Genre-Situation einfängt und abbildet: Tisch mit Vase, in der eine Rose steckt.

In diesem Falle würde der Besucher der Galerie, in der das Bild hängt, folgenden Satz äußern:

2.1 „Eine rote Rose steht in einer Vase auf dem Tisch.“

Im Unterschied zum ersten Satz können wir diesen Satz nicht durch Hinzufügung passender Orts- und Zeitangaben in eine Aussage verwandeln, die sich empirisch nachprüfen ließe. Die einzig plausiblen Zeit- und Ortsangaben, in die wir den Satz einbetten können, betreffen nicht die auf dem Bild dargestellte Situation, sondern den Ort der Galerie, wo das Bild ausgestellt ist, und die Zeit, zu der der Besucher es in Augenschein nimmt.

Im ersten Satz weist das Verb die Vergangenheitsform auf, im zweiten steht das Verb im Präsens. Doch welche Art der Gegenwart hier gemeint ist, bleibt diffus: Ist es die Gegenwart der gemalten Situation, ist es die Gegenwart, die so lange währt, wie das Bild existiert?

Nehmen wir nun an, der beschreibende Satz entstamme einer literarischen Darstellung wie einer Novelle oder einem Roman. Er bezöge sich auch in diesem Fall wie beim Gemälde auf eine fiktive Situation. Doch weil in fiktiven Geschichten in der Regel die erzählende oder narrative Zeitstufe des Imperfekts vorherrscht, lautet unser Satz wieder genauso wie Satz 1.1:

2.2 „Eine rote Rose stand in einer Vase auf dem Tisch.“

Auch solche Beschreibungen oder Teilausschnitte längerer fiktiver Beschreibungen lassen sich nicht mit konkreten Orts- und Zeitangaben versehen – wenn es sich nicht um historische Romane im engeren Sinn handelt. In sogenannten naturalistischen oder realistischen Romanen, denken wir an Romane von Balzac, Zola, Tolstoi oder Thomas Mann, könnten wir gegebenenfalls mehr oder weniger vage, weil fiktive Orts- und Zeitangabe einfügen oder besser vermuten, die sich auf den erzählten Ort und die erzählte Zeit beziehen, also entweder die auktoriale Perspektive des alles Geschehen überblickenden Erzählers oder seines fiktiven Stellvertreters in der Geschichte (beispielsweise des fiktiven Erzählers Serenus Zeitblom im Roman „Doktor Faustus“ von Thomas Mann) oder die fiktive Perspektive der fiktiven Protagonisten der Geschichte wiedergeben (wie die Perspektive von Thomas Buddenbrook im Roman „Buddenbrooks“ von Thomas Mann).

Das Eigentümliche der Verwendung des Imperfekts zur Gestaltung der erzählten Zeit in epischen Kontexten zeigt sich an dem Umstand, daß sie den Lesern die Gleichzeitigkeit mit dem Erleben der Figuren eröffnet: Wenn in Büchners Erzählung davon die Rede ist, daß Lenz durchs Gebirge ging, dann geht er im Moment, da wir davon lesen, durch das Gebirge unserer Vorstellung und wir gehen gleichzeitig mit ihm. Der Gebrauch des Imperfekts durch den Erzähler löst demnach das erzählte Geschehen nicht von uns ab, sondern vergegenwärtig es uns unmittelbar. Aus diesem Grund kann die Verbform des narrativen Imperfekts bei der Schilderung erregter und dramatischer Momente in das sogenannte historische Präsens umschlagen.

Was ist also der Unterschied nichtfiktiver und fiktiver Beschreibungen oder besser von Beschreibungen nichtfiktiver und fiktiver Situationen? Es ist ein logisch-grammatischer oder semantischer Unterschied: Beschreibungen nichtfiktiver Situationen und Ereignisse können wir unter Zuhilfenahme von spezifischen Indices wie Orts- und Zeitangaben (es gibt noch viele andere wie geographische Angaben, Informationen zu Masse, Gewicht und anderen physikalischen oder chemischen Eigenschaften) in Aussagen mit empirischem Gehalt umwandeln, so daß wir unter günstigen Umständen in der Lage sind, das von ihnen Behauptete als gerechtfertigt und wahr (oder falsch) oder zumindest als sehr wahrscheinlich (oder unwahrscheinlich) zu kennzeichnen.

Nehmen wir als Beispiel die Farbe der Rose in unserem Beispielsatz: In der Beschreibung der realen Situation ist die Kennzeichnung der Rose mit dem Farbwort „rot“ eine Funktion des regelhaften Gebrauchs von Farbwörtern unter Normalsichtigen in normaler oder Durchschnittsumgebung. Die Prädikation drückt demnach eine logisch-grammatische oder semantische „Notwendigkeit“ aus, die letztlich in den Rahmen der natürlichen Tatsachen eingebettet ist, in dem von beleuchteten Objekten bestimmte Lichtstrahlen spezifischer Frequenz reflektiert werden.

Wir würden deshalb nicht sagen, daß jemand, der angesichts einer roten Rose ihren Farbwert mit „blau“ angibt, sich irrt (falls er nicht fehlsichtig ist), sondern daß er die Grammatik der Verwendung unserer Farbbegriffe nicht korrekt erlernt hat.

Anders, das heißt von anderer logischer Grammatik und Semantik, müssen wir beim Gebrauch von Farben oder Farbbegriffen in der Kunst oder literarisch-fiktiven Kontexten sprechen: Hier bietet sich der alte Begriff der künstlerischen „Notwendigkeit“ an, um damit auszudrücken, daß die Verwendung von Farben und Farbbegriffen anderen logisch-grammatischen Regeln gehorcht als bei Beschreibungen der Realität. Je nach Gusto oder künstlerischem Entwurf oder je nach dem Effekt, den er hervorrufen will, ist es beispielsweise dem Maler freigestellt, die Blume rot oder weiß, ja auf unrealistische oder antinaturalistische Weise blau oder grau zu malen.

Beschreibungen fiktiver Situationen und Ereignisse haben demnach keinen empirischen Gehalt, sie sind weder wahr noch falsch, weder mehr oder weniger wahrscheinlich noch unwahrscheinlich.

Mangelndes Kunstverständnis, das dazu neigt, ungewöhnliche, weil von der Grammatik gewöhnlicher Beschreibungen abweichende Darstellungen abzuwerten, kann man demgemäß oft (nicht immer) auf einen Mangel an Sinn für die Semantik künstlerischen Ausdrucks zurückführen (oder den Mangel an diesbezüglich relevanter Bildung).

Was die etwas wolkige Rede von der Freiheit der künstlerischen Gestaltung präzisiert, resultiert aus der Neutralisierung des logisch-grammatischen Zwangs im künstlerischen Kontext, sprich des Zwangs oder der Regelkonformität, Beschreibungen realer Vorkommnisse nicht ohne ein Minimum von empirischem Gehalt auszustatten.

Indes finden wir eine gewisse Freizügigkeit auch bei der Wahl realitätsgetreuer oder empirisch gesättigter Beschreibungen im Rahmen der Variationen, die sie gestatten. Wir können nämlich jeden deskriptiven Satz als Variante einer beliebigen Reihe von Beschreibungen auffassen.

Betreten wir einen Raum, in dem eine rote Rose in einer Vase auf einem Tisch steht, oder erinnern wir uns an einen solchen Raum, steht uns eine ganze Bandbreite von möglichen Beschreibungen zur Verfügung. Wir könnten etwa solche Sätze (aktueller Beschreibungen oder Beschreibungen von Erinnerungen) bilden:

2.1 „Das Fenster steht (stand) offen.“
2.2 „In dem Raum ist (war) es dämmerig.“
2.3 „Im dem Zimmer steht (stand) ein Tisch.“
2.4 „Es liegen (lagen) verschiedene Gegenstände auf dem Tisch, Bücher, Zeitungen, ein Laptop.“
2.5 „Auf dem Tisch steht (stand) eine Vase.“
2.6 „In der Vase steckt (steckte) eine Rose.“
2.7 „Die Rose ist (war) rot.“

Die Konjunktion der Sätze 2.5, 2.6 und 2.7 ergibt offensichtlich unseren beschreibenden Ausgangssatz.

Dagegen wären uns Sätze folgender Art als empirisch gehaltvolle Beschreibungen realer Situationen, die in Erdnähe stattfinden, suspekt:

3.1 „Der Tisch schwebt unter der Decke.“
3.2 „Der Tisch steht kopf und schwebt unter der Decke.“
3.3 „Auf dem umgedrehten Tisch steht eine Vase mit einer Rose.“
3.4 „Die Rose ist blau.“

Indes sind uns beschreibende Sätze dieser Art, wenn sie sich auf Sujets surrealistischer Maler oder auf Inhalte außergewöhnlicher Träume oder auf drogeninduzierte Visionen beziehen, durchaus vertraut.

Wir könnten uns denken, daß der besondere Aspekt des Gemäldes, das ein Zimmer mit einem Tisch zeigt, auf dem eine Vase mit einer roten Rose steht, darin bestünde, daß es auf der gegenüberliegenden Wand des gemalten Raums ein Bild zeigt, also ein Bild im Bild, auf dem dieselbe Situation zu sehen ist: Tisch mit Vase, in der eine Rose steckt.

Mit dieser Spiegelsituation können wir die abweichende Grammatik von Beschreibungen fiktiver Kontexte verdeutlichen. Gewöhnlich kennzeichnen wir einen gespiegelten Gegenstand als unwirklich in Hinsicht auf das reale Objekt, das er spiegelt. Doch im Falle fiktiver Beschreibungen ist ja schon das Ausgangsobjekt, die gemalte Situation mit Tisch und Vase, nicht real, sondern beruht auf der visuellen Illusion, die das gemalte Bild hervorruft. Wir könnten angesichts des Dargestellten genausogut das Umgekehrte behaupten: daß der im Vordergrund gemalte Tisch samt Vase und Rose ein gespiegeltes Bild des auf die gegenüberliegende Wand gemalten Bilds darstellt.

Es ist merkwürdig, daß die Irrealität künstlerischer und literarischer Fiktionen mit denselben Beschreibungen ausgedrückt werden kann, die wir benutzen, um reale Situationen und Ereignisse festzuhalten.

Ist es die besondere Atmosphäre, gleichsam eine unwirklich-wetterleuchtende, von der Anwendung kunstvoller Mittel auf den gesamten Text der Novelle Büchners geworfen, die einem schlicht beschreibenden einzelnen Satz wie „Lenz ging durchs Gebirge“ die Anmutung verleiht, als gleite er gleichsam auf dem wirbelnden Schaum des zwar fiktiven, aber um nichts weniger (be-)rauschenden Erzählflusses dahin?

 

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